Die Gesichter des Agostino Steffani

Von seinen zeitgenössischen Kollegen wurde er bewundert, nachfolgende Komponisten, etwa Händel, inspirierte er und beeinflusste sie wiederum in ihrem Schaffen – das  Leben Agostino Steffanis übt bis heute eine besondere Faszination aus. Donna Leon verdankt er sogar die späte Karriere als Romangestalt.

Was nicht erstaunt angesichts eines be­wegten Lebens. Als Sohn in einfachen Verhältnissen in Norditalien geboren, reüssiert der noch blutjunge Steffani zunächst am bayeri­schen Hof, wird schnell zu einem der berühmtesten Komponisten seiner Zeit und ist außerdem als geschickter Diplomat, katholischer Missionar und Schlichter zwischen Papst und Kaiser auf der politi­schen wie klerikalen Weltbühne gefragt. Mit ebensolcher Weltläufig­keit verknüpfte er in seinen 17 Opern auf originellste Weise italieni­sche, deutsche und französische Stilelemente und fand darin eine einzigartige Mischung aus klanglicher Sensibilität, enormer Ausdruckskraft und oft atemberaubend weiter Perspektive.

Eine biografische Skizze von Dramaturg Detlef Giese.

Dass die europäische Geschichte im Zeitalter des Barock arm an interessanten, bisweilen gar merkwürdig bizarren Gestalten gewesen sei, kann man beileibe nicht sagen. Vielfach gab es ausgesprochene Grenzgänger zwischen den Ländern und Kulturen – und nicht zuletzt auch zwischen verschiedenen Professionen. Der »uomo universale« der Renaissance, der kraft seiner individuellen Fähig- und Fertigkeiten seine Um- und Mitwelt nachhaltig zu inspirieren vermochte, ist in dieser Zeit immer noch – und zudem oft sehr prominent – gegenwärtig. Auf mehr als nur einem Feld aktiv zu sein und mit besonderen Leistungen zu glänzen, ist eine Auszeichnung, die Ansehen und Ruhm nach sich ziehen kann, damals wie heute eine fundamentale Motivation menschlichen Strebens.

Amor vien dal destino - Foto: Thomas M. Jauk

Wenn man unter den Musiker des 17. und 18. Jahrhunderts Jemanden als wahrhaft »speziell« kennzeichnen möchte, dann kann ein Name nicht unerwähnt bleiben, derjenige des aus dem Veneto stammenden Komponisten, Sängers, Cembalisten, Organisten, Pädagogen und musikalischen Beraters Agostino Steffani. Ein wahrhaft europäischer Künstler war er, von verschiedenen musikalischen Kulturen geprägt. Den italienischen Kirchen- und Opernstil hat er ebenso in sich aufgesogen wie – im Zuge von mehreren Paris-Aufenthalten – die französische Tradition. Und da er die meiste Zeit seines Lebens nördlich der Alpen wirkte, im katholischen wie im protestantischen Deutschland, kam er intensiv mit der dort gepflegten Kontrapunktik und dem spezifischen Gebrauch unterschiedlichster Streich- und Blasinstrumente mit deren besonderen Klangfarben in Berührung. Steffani hat alle diese Anregungen, die ihm zuteil wurden und die produktiv zu nutzen wusste, in eine spürbar eigenständige Tonsprache integriert, mit beispielhafter kreativer Phantasie und bemerkenswertem Ehrgeiz.

Steffani freilich als »Nur-Musiker« zu begreifen, zielt am Kern seiner Persönlichkeit vorbei. Über längere Strecken seines Lebens traten andere Aktivitäten in den Vordergrund, bei denen die Musik zwar ein Vehikel sein konnte, aber nicht eigentlich im Zentrum stand. Hohe Herren und Damen, bis hin zu Kurfürsten, Königinnen, Kaiser und Papst, nahmen seine diplomatischen Dienste in Anspruch, sein Geschick im Beschaffen von Informationen, im Knüpfen von Kontakten und im vertrauensvollen Verhandeln, bisweilen offenbar auch in geheimer Mission. In seiner Eigenschaft als Geistlicher wurden Steffani prestigeträchtige Titel und Ämter verliehen. Seinen künstlerischen Betätigungen war das nicht immer förderlich, brachte sein Leben als Diplomat und Agent doch mancherlei Zwänge und Einschränkungen mit sich, die nur sehr bedingt mit der für ein konzentriertes Komponieren und Musizieren notwendigen inneren Sammlung und Muße im Einklang waren.

Die Musik blieb für Steffani dennoch immer ein Fluchtpunkt, ein Mittel des Trostes angesichts einer Welt, die von Intrigen nur so wimmelte, die dazu angetan war, kurzfristigen Zielen Wohl und Wehe von Menschen und sogar das eigene Seelenheil zu opfern. Ein Leben in innerer Zerrissenheit musste Steffani phasenweise führen, hart am Abgrund des Scheiterns, aber gleichwohl mit dem Bewusstsein, der allzu oft nur allzu hässlichen, brutalen Wirklichkeit die Schönheit und Reinheit der Musik entgegenstellen zu können. Dass er sich – wie er es in einem erstaunlich offenherzigen Brief an Königin Sophie Charlotte von Preußen vom Herbst 1702 artikuliert – »kopfüber in die Musik gestürzt« habe, um der bedrückenden Last der eigenen Existenz zumindest zeitweilig zu entkommen, lässt die Kämpfe erahnen, die Steffani mit sich selbst geführt hat, und die ihn, allen äußerlichen Erfolgen zum Trotz, gewiss mehr als nur einmal die Grenzen seines Tuns und seiner Belastbarkeit aufgezeigt haben dürften.

Das ist bereits der ältere, erfahrene, zuweilen desillusionierte Mensch Steffani. Zuvor gab es jedoch auch einen jungen, hoffnungsfroh die Welt erobernden, hochbegabten Musiker, dem viele Türen geöffnet wurden. Geboren im Sommer 1654 in Castelfranco bei Venedig, erhielt der Knabe Agostino eine fundierte Ausbildung im Chor der Basilica del Santo in Padua. Neben dem Kirchendienst übernahm er schon als Elfjähriger Bühnenrollen – die Lagunenstadt Venedig mit ihren zahlreichen Opernhäusern und ihrem sensationsgierigen Publikum bot diesbezüglich beste Chancen und Entfaltungsmöglichkeiten. Die Faszination des Musiktheaters, die bei Steffani ein Leben lang andauern sollte, dürfte hier ihren Ursprung haben. Die schöne Stimme des Jungen begeisterte nicht nur die Italiener, sondern 1666 auch den beim venezianischen Karneval Station machenden bayerischen Kurfürsten Ferdinand Maria: Er offerierte den Eltern, die einer durchaus wohlhabenden bürgerlichen Familie entstammten, den zwölfjährigen Agostino mit nach München zu nehmen, um ihm fortgesetzte, qualitativ hochwertige musikalische Studien zu ermöglichen. Der Hoforganist Johann Caspar Kerll, ein formidabler Komponist, sorgte für den Unterricht wie auch für Kost und Logis. Durch einen Aufenthalt in Rom konnte Steffani weitere Erfahrungen im musikalischen Handwerk und in der Kunst der Musica sammeln, vor allem bei Ercole Bernabei, seines Zeichens Kapellmeister am Petersdom, in dessen Händen die Leitung der renommierten Cappella Giulia lag. Von 1672 bis 1674 lebte Steffani in der auch in Sachen der Musik aufblühenden Ewigen Stadt. Als Bernabei zum Kapellmeister nach München berufen wurde, kehrte er mit seinem Lehrer an die Isar zurück, nunmehr in der Funktion als Hof- und Kammerorganist. Seine Fähigkeiten im Tastenspiel müssen eminent gewesen sein, wird doch einige Jahre später, 1678/79, von einer Reise nach Paris berichtet, wo der immer noch recht junge Italiener vor dem »Sonnenkönig« Ludwig XIV. Cembalo spielte und offenbar viel Resonanz fand. Während dieser Zeit dürfte er auch die französische Musik, insbesondere diejenige von Jean-Baptiste Lully, mit ihren besonderen stilistischen Prägungen ausgiebig studiert haben.

München blieb für die folgenden Jahre indes das Zentrum seiner Tätigkeit. Nach dem Tod seines Mäzens Ferdinand Maria sicherte sich dessen Nachfolger Kurfürst Maximilian II. Emanuel auch weiterhin die Dienste des inzwischen sehr versierten Musikers. 1680 wurde der 25-jährige Steffani zum Priester geweiht, in diese Zeit fallen auch seine ersten diplomatischen Missionen, die es mit sich brachten, rasch ein Netzwerk von Kontakten zu anderen Höfen aufzubauen. Unter anderem, im Zusammenhang mit Heiratsplänen des bayerischen Kurfürsten, gelangte er auch nach Hannover, in eine Stadt, die in seiner Biographie noch eine zentrale Rolle spielen sollte. In München jedoch hatte er damit begonnen, Opern und Kammerduette zu komponieren, die von ihm zeitlebens bevorzugten musikalischen Gattungen: Die Grundsteine waren gelegt, auf denen dann ein in der Tat beeindruckendes Werkgebäude errichtet wurde.

Amor vien dal destino - Foto: Thomas M. Jauk

Nach mehr als zwei Jahrzehnten verließ Steffani 1688 München, als der bei der Neubesetzung des Kapellmeisterpostens nach dem Tod des verehrten Bernabei übergangen worden war, in Richtung Hannover. Sein neuer, protestantischer Dienstherr Ernst August strebte nach der Kurwürde im Reich, wobei ihm Steffani sowohl als Diplomat wie als Musiker hilfreich zur Seite stehen sollte, zum einen bezüglich heikler Vermittlungen auf dem häufig allzu glatten Parkett der Politik, zum anderen im Blick auf eine glanzvolle höfische Repräsentation mit den Mitteln der Kunst. So verwundert es nicht, dass Steffani den Auftrag für mehrere großformatige Opern erhielt, nicht selten mit einer bestimmten politischen Stoßrichtung versehen. Alles geschah mit der Absicht, die Herren des Reiches, aber auch die gekrönten Häupter Europas für Hannover einzunehmen – Steffanis Talente auf beiden Gebieten, der Diplomatie wie der Musik, kamen auf diese Weise gerade recht.

In den 1690er Jahren verläuft das Leben Steffanis in zunehmend unstetigeren Bahnen. Zwischenzeitlich nimmt er in Brüssel Quartier, um bei Maximilian II. Emanuel von Bayern, der als Statthalter der katholischen Niederlande (dem heutigen Belgien) dort residiert, als »außerordentlicher Gesandter« des Hannoveranischen Hofes tätig zu sein. Das Komponieren kommt in dieser Zeit fast vollständig zum Erliegen, auch wenn Steffani von seiner Passion naturgemäß nicht lassen kann. Wiederholt ist er auch am Berliner Hof präsent, wenn er die preußische Königin Sophie Charlotte (die ehemalige welfische Prinzessin, die er in Hannover einst im Gesang und Cembalospiel unterrichtet hatte) in musikalischen Dingen berät.

Von 1703 bis 1709 schließen sich einige Jahre in Düsseldorf an, wo er bei dem katholischen pfälzischen Kurfürsten Johann Wilhelm ein neues Aufgabenfeld findet. Die Titel, die ihm verliehen werden, sprechen für sich: Privatsekretär, Geheimer Rat, Rektor und Kurator der Universität Heidelberg, Minister, Präsident des Geistlichen Rats des kurfürstlichen Hofes. Johann Wilhelm hat Steffani offenbar große Wertschätzung entgegengebracht, desgleichen auch Papst Klemens XI., der ihn nicht nur zum Titularbischof von Spiga (einer Stadt in Kleinasien, die inmitten des muslimischen Herrschaftsgebietes lag, weshalb vor Ort keine klerikalen Pflichten zu erfüllen waren) ernannte, sondern auch zum päpstlichen Thronassistenten. Im Rang eines Apostolischen Vikars wurde ihm sogar der Auftrag erteilt, die protestantischen Länder im Norden und in der Mitte Deutschlands für den katholischen Glauben zurückzugewinnen – ein freilich aussichtsloses Unterfangen, bei dem selbst einem so erfahrenen und zweifellos sehr fähigen Diplomaten wie Steffani kein Erfolg beschieden war.

All das scheint die Kräfte des mittlerweile über 50-Jährigen spürbar in Mitleidenschaft genommen zu haben. Wiederholt sehnt er sich nach seiner italienischen Heimat, zumal er durch den Tod seiner Gönner nicht mehr über rückhaltlose Unterstützung verfügt. Allein der Papst vermochte ihn noch einmal zu überzeugen, sich in den Dienst der Kirche zu stellen und weiter in diplomatischen Angelegenheiten für die Kurie aktiv zu sein. Eine späte Ehrung wird dem gealterten Steffani, bei dem es inzwischen weder gesundheitlich noch finanziell zum Besten steht, durch die Londoner Royal Academy of Vocal Music (der späteren Academy of Ancient Music) zuteil, die ihn 1727, ein Jahr vor seinem Tod, zu ihrem Präsidenten bestimmt. Steffani hat diese Auszeichnung, die allein seinen musikalischen Kompetenzen und Qualitäten galt, mit großer Genugtuung entgegengenommen, auch wenn er selbst nicht mehr die Reise nach England antreten konnte. In Padua, ganz in der Nähe seines Geburtsortes, wollte er seinen Alterssitz nehmen, auf einer Geschäftsreise nach Frankfurt am Main ereilte ihn aber im Februar 1728 ein Gehirnschlag, an dessen Folgen er verstarb. Ein steinernes Epitaph befindet sich im Frankfurter Dom St. Bartholomäus, die Ruhestätte eines der großen Musiker seiner Zeit.

Eine bewegte, von vielerlei Wechselfällen geprägte Biographie ist es also, die uns im Falle von Agostino Steffani begegnet. Viele Tausende Kilometer quer durch Europa ist er in den Jahrzehnten seiner diplomatischen Tätigkeit in Kirchen- und Staatsgeschäften gereist, mit unzähligen Leuten ist er dabei in Kontakt gekommen. Dass er bei aller dieser Rastlosigkeit immer wieder zur Musik zurückfand, dass er diese seine Kunst häufig genug als einen Anker begriff und dementsprechend nutzte, spricht für ihn ebenso wie für die offensichtliche Kraft ebenjener Musik, den sorgenvollen Alltag hinter sich zu lassen und emotional wieder ins Gleichgewicht zu kommen. Auch wenn es zwischenzeitlich Phasen gab, in denen Steffanis Komponieren weitgehend pausierte, so ist sein Œuvre doch keineswegs schmal bemessen. Insgesamt 17 Bühnenwerke, davon mehr als ein Dutzend an großen, abendfüllenden Opern, hat er hinterlassen, dazu zahlreiche, vorbildhaft wirkende Kammerduette, für die er europaweit besonders geschätzt war, dazu noch Einiges an Sakralmusik. Die repräsentativen Genres sind somit ebenso berücksichtigt wie die »kleinen«, geradezu intimen, die in entscheidender Weise von der genauen Abstimmung und Verständigung zwischen nur wenigen Beteiligten leben – hier, in seinen Kammerduetten, einen Widerhall, gar ein Gleichnis für Theorie und Praxis der Diplomatie sehen zu wollen, ist wohl eine Deutung, die bedenkenswert erscheint.

Amor vien dal destino - Foto: Thomas M. Jauk

Steffani hat – und auch das dürfte wesentlich in seinem Lebensweg und seinen Neigungen begründet sein – zumeist aus einer explizit internationalen Perspektive heraus künstlerisch gewirkt. Sowohl betrifft das seine musikalischen Posten, mit denen er betraut wurde, als auch seine Musik selbst. Italien, Frankreich, Deutschland – in diesem geographischen Dreieck ist sein Denken und Handeln verortet, mit allen offen zutage tretenden wie subkutan wirksamen kulturellen Differenzen, einschließlich der unterschiedlichen konfessionellen Prägungen. Und so wie sich in der eigentümlich schillernden Person Steffani verschiedene Tendenzen seiner Zeit bündeln, so ist auch seine Musik spürbar von verschiedenen Traditionen beeinflusst. Es ist eine Syntheseleistung ersten Ranges, die Steffani in jahrzehntelanger Arbeit verwirklicht hat, mit wachem Geist für die Werte der Vergangenheit und zukünftige Entwicklungsmöglichkeiten. Mögen auch viele seiner Kompositionen ästhetisch weit stärker im 17. als im 18. Jahrhundert angesiedelt sein, so boten sie doch häufig Inspiration für die Künstler der nächsten Generation, mit keinem Geringeren als Georg Friedrich Händel an der Spitze. Mehrfach, am Hof zu Hannover und anderswo, sind sie sich begegnet – der Einfluss des Älteren auf den Jüngeren ist nicht zu übersehen.

Wie originell aber Steffani selbst zu komponieren vermochte, tritt erst nach und nach in das Bewusstsein einer breiteren Öffentlichkeit. Solange sein Werk und Wirken noch nicht in Gänze erschlossen sind, bleibt das Bild notwendigerweise unvollständig. Eine Vermittlerfunktion besaß er in seiner gesellschaftlichen Rolle desgleichen wie in seiner Eigenschaft als Künstler. Wann immer Leben und Schaffen des Agostino Steffani in den Fokus geraten, so ist sein Phänotyp und Charakter stets auch in das Panorama des realen Geschehens in Politik und Kultur der frühen Neuzeit eingebettet, und zwar wiederum im europäischen Maßstab. Er war offenbar zugleich ein Konservativer wie ein Moderner, hinsichtlich seines öffentlichen Auftretens wie seiner psychischen Disposition. Und trotz des keineswegs geringen historischen Abstands, der uns vom ihm trennt, und den vielbeschworenen »vergangenen Zeiten«, die niemals wiederkehren, scheint er uns erstaunlich nahe zu sein. Seine Musik, die er so vertraute, ist jedenfalls imstande, Brücken zu bauen. Man möge nur konzentriert auf sie hören, auf ihre kompositorische Kunstfertigkeit und Souveränität, ihre melodischen Schönheiten, ihre tänzerischen Einschläge, ihren Witz, ihren Charme, ihre berührende Art und ihre immense expressive Kraft.

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