Die Gesichter des Jean-Philippe Rameau

Wie ein einsamer Riese stand er inmitten seiner Zeit. Jean-Philippe Rameau, von der Nachwelt als ein hochorigineller Repräsentant der französischen wie der europäischen Musikkultur angesehen, blieb zeit seines Lebens ein Unangepasster, ein Nonkonformist, gar ein Außenseiter.

Mehrfach geriet er, zumeist ungewollt, in mit harschen Worten und Widerworten ausgetragene Streitigkeiten hinein. Häufig genug wurde ihm vorgeworfen, ein Konservativer zu sein, der sich den modernen Entwicklungen verschließe, nicht selten wurde er aber auch auf den Schild gehoben, wenn es galt, einen »Revolutionär« zu finden, der konsequent wie rücksichtslos an der Spitze des Fortschritts zu marschieren trachtete. Dass er fest gefügte, tief verwurzelte Traditionen ebenso ernst nahm wie das Bestreben, mit seinen Gedanken und seiner Kunst hochgradig innovativ, ja radikal avanciert zu wirken, steht wohl außer Frage. Und dass er ein wahres »Multitalent« war, mit vielfältigen Begabungen und Interessen, scheint desgleichen ausgemacht zu sein. Ein reflektierter Musiktheoretiker war er ebenso wie ein begnadeter Musikpraktiker, auf den Tasten wie beim Komponieren. Zahlreiche Schriften, mit denen er intendierte, den Kosmos der Töne und Klänge im Blick auf ihre höhere Ordnung zu erkunden, gehören mit gleichem Recht zu seinem staunenswerten Œuvre wie seine Cembalo- und Vokalwerke, vor allem aber jene Kompositionen, die er im Laufe seiner letzten drei Lebensjahrzehnte für die Bühne schuf – in allen diesen Resultaten wissenschaftlichen Ehrgeizes und künstlerischen Tuns zeigt sich die facettenreiche Persönlichkeit Rameaus.
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Rameau der Cembalokomponist

Begonnen hat Rameau als Tastenspieler. Von früher Kindheit an pflegte er wie selbstverständlich den Umgang mit der Orgel wie dem Cembalo und erwuchs zu einem formidablen Musiker auf diesen Instrumenten. Schon zeitig erprobte er sich auch kompositorisch an und auf den Tasten – 1706 bereits legte er die ersten Stücke für das Clavecin vor, ganz in der großen französischen Cembalotradition, wie sie paradigmatisch Louis und François Couperin oder Louis Marchand verkörperten. Diesem ersten Buch, die eine einzige Suite in neun Sätzen enthält, folgte 1724 eine weitere Sammlung, nunmehr unter Einbezug einer Reihe von Genrestücken, die neben die üblichen Tanzsätze eingeordnet sind. Zu bewundern ist nicht allein Rameaus kompositionstechnische Souveränität, die von einer engen Vertrautheit mit den spielerischen Mitteln und Möglichkeiten des Cembalos zeugen, sondern vor allem seine immense Erfindungsgabe: Jeder Einzelsatz ist ein originell ausgestaltetes Gebilde von charakterlicher Tiefenschärfe und spürbarer Expressivität. Das »peindre les passions«, das »Ausmalen der Leidenschaften«, das ihm später zur zweiten Natur werden sollte, ist schon hier eindrucksvoll ins Werk gesetzt. Mit den 1726/27 entstandenen »Nouvelles suites de pièces de clavecin« führt Rameau dann diese Tendenz hin zu einer intensiven Forcierung des musikalischen Ausdrucks fort – nicht wenige Stücke wirken beinahe so, als seien sie für eine imaginäre Opernbühne entworfen worden; oft genug scheinen sie die Begrenzungen des Tasteninstruments zu sprengen.
Jenes Instrument indes, mit dem Rameau über viele Jahre von Amts wegen verbunden war, die große Orgel mit ihren immensen Klang- und Ausdrucksmöglichkeiten, hat er offenbar nicht mit Kompositionen bedacht – er dürfte, wie es Usus war, während der Messfeiern und zu anderen liturgischen Verrichtungen die Musik improvisiert haben. Ein Orgelstück Rameaus ist jedenfalls nicht auf uns gekommen, und wie er die Orgel gespielt hat, ist auch nicht überliefert.

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Rameau der Opernkomponist

50 Jahre alt musste Rameau werden, ehe es ihm gelang, sich als Opernkomponist Fuß zu fassen. Es gehört zu den Merkwürdigkeiten von Rameaus Karriere, dass er, dem noch drei Jahrzehnte Lebens- und Schaffenszeit vergönnt waren, auf dem weiten Feld der Oper sowohl als Bewahrer wie als Innovator gewirkt hat, ohne in innere Widersprüche zu geraten. Dem Sonderweg der französischen Oper, den Jean-Baptiste Lully in den 1670er und 1680er Jahren eingeschlagen hatte und den seine Nachfolger mit Fleiß und Eifer weiter austraten, zeigte sich auch Rameau verpflichtet. Gleichwohl verbot es ihm seine Individualität als Künstler, sich als bloßer Kopist der Lully-Tradition zu verstehen – die Muster von Lullys Opern dienten ihm zwar zuweilen als Blaupause, oft genug entfernte er sich aber auch von den etablierten Modellen. Es konnte nicht ausbleiben, dass Rameau ins Kreuzfeuer einer Kritik geriet, die ihm vorwarf, fest gefügte Verbindlichkeiten, die zum Stolz der französischen Kultur avanciert waren, um des puren Effektes willen leichtfertig zu opfern.
Die Uraufführung seiner ersten großen Oper, der Tragédie lyrique »Hippolyte et Aricie«, im Herbst 1733 wurde zum Exempel einer solchen Kontroverse. Das, was dem Publikum, darunter auch den vermeintlichen wie tatsächlichen Kennern der französischen Opernkunst, geboten wurde, löste einen ästhetischen »Choc« aus, der weitreichende Folgen besaß und Rameau in der Pariser Öffentlichkeit zu einer Person allgemeinen Interesses werden ließ. Dabei hatte er sich offenkundig an Lully und dessen maßstabsetzenden Werken orientiert, jedoch nicht ohne das Zugeben eigener Impulse. In »Hippolyte et Aricie« zeigen sich essentielle Gestaltungsweisen, derer sich Rameau bediente, wenn es galt, für die Bühne zu schreiben: Der gemessene, elegante deklamatorische Stil Lullys weicht einem beständigen Changieren zwischen rezitativischen und ariosen Passagen, so dass eine klare Unterscheidung kaum mehr möglich erscheint, auch legte Rameau auffällig viel Wert auf eine farben- wie kontrastreiche Instrumentierung sowie eine reiche, vielfältige harmonische Sprache. Gerade hier ging er merklich über das Gewohnte hinaus, was nicht selten zu Irritationen bei den Zeitgenossen führte, die von derart kühnen Zusammenklängen sowohl angezogen als auch abgestoßen wurden – dass Rameau hier eine wahre »Zukunftsmusik« ins Werk gesetzt hatte, sollte erst nach und nach ins Bewusstsein treten.
Fünf große Tragédies lyriques, nach Art Lullys in fünf Akte plus Prolog gegliedert, komponierte Rameau im Laufe von drei Jahrzehnten: Nach seinem spektakulären Erstlingswerk, das er zwei Mal, 1742 und 1757, umarbeitete, schrieb er in regelmäßigen zeitlichen Abständen, zumeist unter Nutzung von Sujets aus der griechischen Mythologie, »Castor et Pollux« (1737/1754), »Dardanus« (1739/1744), »Zoroastre« (1749/1756) sowie »Abaris ou Les Boréades« (1763). Bis auf das letzte Werk, das erst mehr als 200 Jahre später seine Uraufführung erlebte, legte er immer wieder Hand an seine Partituren an, um sie noch stimmiger zu gestalten, wobei er die typischen Merkmale französischer Ästhetik wie Klarheit und Natürlichkeit auf der einen sowie Raffinesse und Verfeinerung auf der anderen Seite beständig neu auszubalancieren suchte.

Rameau der Ballettkomponist

Auf den Bühnen von Rameaus Zeit, vornehmlich auf denen in Paris und Versailles, wurden nicht nur Schauspiele und Opern geboten, sondern gerade auch Ballette. In verschiedensten Spielarten wurden Werke mit Tanz und Tänzern aufgeführt – und Rameau war auch deren Meister. So hat er ein halbes Dutzend großformatige Opéra-ballets geschrieben, mit »Les Indes galantes« (1735) und »Les Fêtes d’Hébé« (1739) als den künstlerisch wohl gelungensten Werken, die nicht von ungefähr auch beim Publikum auf viel Resonanz stießen. Hier konnte Rameau ein weiteres Mal aus der Fülle seiner Phantasie und Imaginationskraft schöpfen, gerade wenn es galt, Szenerien zu entwickeln, die in göttlichen oder exotischen Welten angesiedelt waren. Aber auch weniger groß gedachte und ambitioniert konzipierte Pastoralen und Balletteinakter komponierte er in den 1740er und 1750er Jahren, im Zenit seines Ruhms. Erstaunlich ist auch hier sein Vermögen, sich von Texten, Figuren oder Szenen zu einer Musik von hoher Individualität und reiner, bezwingender Schönheit animieren zu lassen, tendenziell zwar weniger raffiniert als bei seinen Opern, wohl aber mit durchaus vergleichbarem Gespür für die Ausgewogenheit der Architektur wie für klangliche Differenzierungen. Nicht zuletzt waren es Rameaus zahlreiche Ballettwerke, die ihm den Status sicherten, der führende französische Komponist der Epoche zu sein. Und die besondere Nähe zum Königshaus Ludwigs XV., der in seiner Hauptstadt wie in seiner Residenz großen Wert auf die Inszenierung von Balletten legte, tat ein Übriges hinzu: Ein solch eminentes Ereignis wie die Aufführung von »Le Temple de la Gloire« 1745 im Schlosstheater Versailles, zur höheren Ehre des Monarchen initiiert, ließ Rameaus Stern noch heller leuchten als je zuvor und ohnehin schon.
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»Der unsterbliche Rameau ist das größte musikalische Genie, das Frankreich hervorgebracht hat.« So urteilte Saint-Saëns einst über den einsamen Riesen der Musik, der unbeirrt von Anfeindungen und Rückschlägen seine Kreise zog und es letztlich zu viel brachte. Seinen Nachkommen hinterließ er ein Vermögen von rund 200.000 Livres – und der Nachwelt noch viel mehr: die unausschöpfbare und immer wieder inspirierende Summe seiner Werke, die Zeugnisse eines reichen Lebens.

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