Theseus und Phädra, Hippolytos und Aricia – Ein mythisches Quartett

Beziehungsreich stehen die Gestalten in der griechischen Mythologie in ihrer Welt und zueinander. Nicht von ungefähr haben sich Opernlibrettisten und -komponisten seit jeher beständig von jenen alten, immer wieder neu faszinierenden Erzählungen anregen lassen, von mündlich überlieferten, später dann auch schriftlich fixierten Geschichten, in denen – mit mancherlei Variationen und alternativen narrativen Strängen – die Urgründe und Motivationen wie die Irrungen und Wirrungen des Denkens, Fühlens und Handelns von Göttern, Halbgöttern und Menschen zum Vorschein gelangen.

Nicht nur in den Gründungsdokumenten der Kunstform Oper in Florenz, Rom oder Venedig, sondern auch von Anbeginn der französischen Tragédie en musique (bzw. Tragédie lyrique), die mit dem Librettisten Philippe Quinault und dem Komponisten Jean-Baptiste Lully in den 1670er Jahren so wirkungsmächtig einsetzt, waren Sujets aus dem antiken Mythenschatz gleichsam konstitutiv, auch wenn sie für ihre Opernvorlagen bisweilen zu neuzeitlichen Ritter- und Heldengeschichten griffen. Ariost und Tasso waren hier ihre Quellen, dort indes die großen griechischen und römischen Autoren, die ihrerseits aus dem schier unendlichen Reichtum der mythologischen Überlieferung geschöpft haben.
Im Falle von »Hippolyte et Aricie«, jener 1733 so spektakulär in Szene gegangenen und rezipierten Tragédie lyrique von Simon-Joseph Pellegrin und Jean-Philippe Rameau, handelt es sich um die Geschichte zweier Paare, eines jüngeren – den beiden Titelgestalten – und eines älteren, Theseus und Phädra. In den literarischen Vorlagen, dem klassizistischen Drama »Phädra« von Jean Racine (1677) sowie der attischen Tragödie »Hippolytos« des Euripides (428 v. Chr.) treten diese Figuren mit unterschiedlichem Profil und Charakter hervor. Die archaischen mythischen Erzählungen leben in ihnen fort.
Zunächst ist es Theseus, einer der großen Heroen des altgriechischen Sagenkosmos, der die Aufmerksamkeit fesselt. In unserer Geschichte ist er ein Sohn der Aithra – einer Tochter des König Pittheus, der über die argolische Stadt Troizen herrscht – und des mächtigen Meeresgottes Poseidon (Neptun); nach anderer Tradition stammt er vom Athener König Aigeus ab, dessen Erbe er antreten soll. Theuseus gehört zu jenen Gestalten, denen es bereits von früher Kindheit an bestimmt ist, Heldentaten zu vollbringen – vergleichbar dem Herakles, zu dem es manche Parallelen gibt. Im Kampf gegen Räuber und Wegelagerer bewährte sich Theseus ebenso wie im Bezwingen von Untieren. In Athen entgeht er nur mit Glück einem Giftanschlag der Medea und muss sich mit den Pallantiden, die nach der Macht in der Polis greifen, auseinandersetzen. Jene 50 Söhne des Pallas – Rivalen um die Königsmacht, die zu seinen Todfeinden werden – löscht er vollends aus, allein einen Spross der Familie, die Tochter Aricia, verschont er. Das führt bereits mitten in die Geschichte von »Hippolyte et Aricie« hinein, zuvor aber hatte Theseus noch weitere Prüfungen und Abenteuer zu bestehen: Bei Marathon tötet er den wilden Stier, der von Kreta nach Attika gelangt ist und dort das Land verwüstet, bevor er dann zum kretischen König Minos zieht, um den furchtbaren Minotauros im Labyrinth zu erschlagen. Mit dieser Tat, die ihm nur mithilfe des berühmten Fadens der in ihn verliebten Minostochter Ariadne gelingt, befreit er die Athener von einem Tribut, der regelmäßig fällig wurde und die Opferung von sieben Jungfrauen und sieben Jünglingen vorsah. Nach der Tötung des Minotaurus nimmt Theuseus, von den Athenern wie den Kretern als kühner Held gefeiert, Ariadne mit sich, lässt sie aber auf der Insel Naxos zurück, entweder durch Zauber bedingt oder um einer neuen Liebschaft willen, derjenigen zur schönen Aigle.
Nach Athen zurückgekehrt, sorgt er sich um den Ausbau seiner Herrschaft: So stiftet er dort zu Ehren der Stadtgöttin Pallas Athene alle vier Jahre stattfindende Spiele und dehnt seinen Machtbereich auf die umliegenden Städte und Länder aus, u. a. auch nach Troizen, der Polis seiner Mutter Aithra. Doch Ruhe ist dem Heros fremd – auf der Suche nach neuen Herausforderungen macht er sich zu den Amazonen auf, einem kriegerischen Frauenvolk, das am Südufer des Schwarzen Meeres beheimatet ist. Auf dem keineswegs ungefährlichen Feldzug raubt Theseus die Amazonenkönigin Antiope, die ihm einen Sohn gebiert, Hippolytos. Dieser wird sich der Göttin Artemis (Diana) anschließen und nach Troizen übersiedeln, innerhalb der Einflusssphäre seines Vaters Theseus.
Der Mythos berichtet von weiteren Unternehmungen Theseus’. Den Kampf gegen das Amazonenheer vor Athen bestand er siegreich, mit Herakles und Iason machte er gemeinsame Sache, desgleichen soll er auch beim Kampf um Theben beteiligt gewesen sein, der eng mit dem Sagenkreis um Ödipus verbunden ist. Gemeinsam mit seinem Freund Perithoos besteht er manchen Streit (u. a. gegen die Kentauren) und manche Gefahr, lässt sich aber auch auf das allzu große Wagnis ein, für Perithoos die Pluto-Gattin Persephone aus der Unterwelt rauben zu wollen – ein Vorhaben, bei dem man nur verlieren kann.
Obwohl er Ariadne schmählich verlassen hat, ehelicht Theseus eine andere Tochter des Kreterkönigs Minos, Ariadnes jüngere Schwester Phädra. Sie gelangt mit ihm nach Athen und schenkt ihm mit Akamas und Demophon zwei Söhne. Nachdem Theseus die Pallantiden niedergerungen und erschlagen hat (die genaue Chronologie der Ereignisse bleibt in den mythischen Erzählungen oft im Unklaren), verlässt sie mit ihm Attika und zieht, auf gewisse Zeit aus Athen verbannt, in das benachbarte Troizen auf der anderen Seite des Saronischen Golfes – dorthin, wo dessen bereits erwachsener Sohn Hippolytos lebt. Entflammt von der Liebesgöttin Aphrodite (Venus) fühlt sie sich leidenschaftlich zu dem scheuen jungen Mann, den Jünger der Artemis, hingezogen. Das Verhängnis nimmt seinen Lauf: Während einer Abwesenheit von Theseus – der Mythos berichtet von einer Befragung des Delphischen Orakels, in »Hippolyte et Aricie« macht er sich in die Unterwelt auf – offenbart Phädra dem von ihr begehrten Hippolytos ihr brennendes Verlangen. Tief enttäuscht von der Verachtung, die Hippolytos ihr entgegenzubringen scheint, beschuldigt sie ihn, sich an ihr vergangen zu haben. Theseus, dem diese Dinge bekannt werden, sinnt darauf, die angebliche, jedoch nicht verübte Missetat seines Sohnes an Phädra – dessen Stiefmutter – zu rächen, indem er seinen Vater Poseidon dazu auffordert, Hippolytos zu vernichten. Der Gott entspricht dem Wunsch des Theseus: Als Hippolytos auf dem Weg in die Verbannung mit seinem rossebespannten Wagen am Strand entlangfährt, taucht plötzlich ein Ungeheuer aus dem Meer (berichtet wird von einem wilden Stier), worauf die Pferde erschrecken, nicht mehr zu bändigen sind und Hippolytos zu Tode schleifen. Die entsetzte Phädra begeht Selbstmord, anderen Erzählungen zufolge erhängte sie sich bereits zuvor, aus Schmach und Scham über Hippolytos’ Abweisung und ihren eigenen Frevel.
Der Dichter Racine, der Phädra nicht von ungefähr zur Titelheldin seines Dramas gemacht hat, zeichnet einen Charakter von großer Noblesse, zwar beherrscht von unbezwingbaren Leidenschaften, aber doch vornehm und edel. In dieses Bild passt, dass nicht sie selbst es ist, die Hippolytos gegenüber seinem Vater verleumdet, sondern ihre Bedienstete Oenone, die doch allein das Wohl ihrer Herrin im Blick hat. Über sich selbst scheint Phädra nicht mehr gebieten zu können – und doch ruft sie angesichts ihrer seelischen Zustände, einem Wechselbad der Emotionen, Mitgefühl, ja Mitleid hervor. Sie ist weit mehr als eine Nebengestalt in den Legenden, die man sich vom Helden Theseus erzählte.
Hippolytos wiederum, den schüchternen Jüngling, ist ein ähnlich tragisches Schicksal beschieden wie seiner Stiefmutter Phädra. Während diese durch eigene Hand zu Tode kommt, fällt Hippolytos der Wut seines strengen, Macht und Stärke demonstrativ einsetzenden Vaters Theseus zum Opfer – auch wenn er es nicht selbst ist, der ihn das Leben nimmt, sondern der Gott Poseidon, indem er das Meer erbeben lässt und ein Ungeheuer schickt. Ob Hippolytos indes wirklich stirbt, bleibt offen: Der Mythos berichtet, dass der jugendliche Held von Artemis entrückt wurde, verewigt im Sternbild Fuhrmann am nächtlichen Firmament. Obwohl der Artemis zugetan und von Natur aus eher schüchtern veranlagt, flogen Hippolytos die Herzen zu – dass sich Phädra in ihn verliebt, ist zwar Aphrodite geschuldet, zugleich aber auch seinem grundsympathischen Wesen und Phädras Gefühlsüberschwang. Seinen irdischen Tod beweinten die Mädchen von Troizen, die Erinnerung an ihn ist allgegenwärtig.
Die letzte Gestalt unseres Figurenquartetts, Aricia, ist zwar in Racines Tragödie präsent, nicht aber bei deren Vorbild, Euripides‘ »Hippolytos«. Um den Konflikt, in den Phädra durch die Wirkungskraft ihrer Emotionen hineingezogen wird, zu schärfen, wird sie als Rivalin eingeführt. Als letzte Überlebende des Geschlechtes der Pallantiden, die Theseus auf Leben und Tod bekämpft und letztlich siegreich bezwungen hat, erscheint es gut möglich, dass Aricia sich ebenjener Familie verbindet – falls denn ihre Liebe zu Hippolytos in eine Eheschließung mündet. Dass hier weitere Konflikte vorprogrammiert sind, liegt auf der Hand. Bei Racine ist Aricia eine Liebende und Leidende ebenso wie in Pellegrins und Rameaus Oper, deren Anfang und Ende ihr gehören. Während im Sprechtheater aber das Geschehen tragisch endet, schließt das Musiktheaterstück mit der glücklichen Vereinigung des Paares und allgemeiner Freude – das Wunderbare hatte seinen Zauber entfaltet, ebenso wie die alten mythischen Erzählungen es tun.

Ein Kommentar

  • EMaurer
    schrieb am 26.11.2018 um 11:15 Uhr.

    Guten Tag,

    herzlichen Glückwunsch zu dieser gelungenen Premiere. In jeglicher Hinsicht ein toller Opernabend. Moderne Inszenierung wie sie sein soll. So kann man jungem Publikum (zu dem ich nicht mehr gehöre) Barock-Opern nahe bringen. Modern in einer sehr positiven Art. Die „Buhs“ von einigen Zuschauern sind für mich nicht nachvollziehbar. Ich werde diese Oper auf jeden Fall weiterepmpfehlen!

    Herzliche Grüße

    E. Maurer

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