Durch ihren Leib wandelt das Licht, als wäre sie gläsern

Reflexion über Hofmannsthals Genese von »Die Frau ohne Schatten« – ein Text von Regieassistentin Reyna Bruns

Dem Schreiben geht das Denken weit voran, wo es so viel mehr ist als das, was sich leise versprachlicht.
Ein Sehen in Bildern, eine geistige Bewegung, kaum gefühlt, lange bevor sie ins Wechselspiel von Zeichen und Bezeichnetem tritt, wo Denken auf sprachlicher Ebene ist, wenn man in äußerer Stille dem zuhört, was man selbst zu sich spricht, ohne es auszusprechen.

Vor das innere Licht tritt ein Körper – ein wahrnehmbarer Aspekt von Welt, wenn auch hauchzart – und will nun, so verlangt es das Wesen des Dichters, in Worten in die Welt geworfen sein.

Die ganze Tragik der Sprache offenbart sich im Bild des Schattens: denn ein Schattenwurf ist es, den das Seelenlicht nur von den Rändern einer geistigen Regung fasst, und sei der Wurf des Dichters noch so groß.
Was ist denn ein Schatten? Rückt man ihn von der Poesie des Bilds schlagartig zurück ins Drama des Vorgangs.
Ein Körper, ein Irdisches, schiebt sich zwischen Sonne und Grund. Wirft, wie man so sagt, einen Schatten. Eigentlich wird nichts geworfen. Eigentlich behält der Körper die Sonne bei sich, raubt dem Raum hinter sich das Licht… der lichtlose Raum findet seine Gestalt, je nach Stand von Sonne oder Mond, je nach Tages – und Jahreszeit. Die Konturen zeichnen den Körper nach, vermählen sich in Länge, Stauchung und Form fast mehr noch mit Lichtquelle und Untergrund – gewellt, geriffelt, durch eine Mauer gebrochen. Eine Zeichnung aus Nichts, aus weniger noch, eine Subtraktion, die mit uns geht und steht und sitzt, uns treu begleitet, uns durch ihre stets wandelnde Nicht – Gestalt Geschichten erzählt über unseren Ort in der Welt, über uns und die Welt, in der wir just sind.

Kein Wunder, dass dies Körperlose Jahrtausenden schon als Seele gilt, als dunkler, verdrängter Anteil des Ich, als Alter Ego, und dass es uns schaudert, ins Dunkel und dort uns selbst zu sehen.
Kein Wunder, dass Hofmannsthal, dem Dichter, der zeit seines Lebens zum Ziel erklärt: »NOSCE TE IPSUM – ERKENNE DICH SELBST«, der Schatten zum Kern seines Hauptwerks wird. Ihm, der die Welt so durchsichtig sieht. Das dunkle Nichts, die zarte Zeichnung ist ihm nicht zart, nicht dunkel genug: Er nimmt auch das der Kaiserin weg, subtrahiert das Nichts, erklärt sie zum Geist. Ist sie ein Geist? Oder ein Mensch, der wie er selbst, zu fern dieser Welt im Geisterreich lebt? Sie hat keinen Schatten. Sie hat keine Kinder.
»Zeichen und Bezeichnetes sind hier eins«, sagt er, und schickt sie so drängend nach unten, auf die Jagd nach Schattenwurf in die Welt, hin zur Erde, hin zu den Menschen – denn sonst muss der Kaiser versteinen.

Nach der Betrachtung erster Ideen, des Schaffensprozesses über vier Jahre, der immer wieder von Krisen geprüft ist, fällt eine Parallele ins Auge – wendet man den Blick um zwölf Jahre zurück.
Schon früher einmal hatte jemand versucht, den jungen Dichter ans Schreiben zu mahnen, wie Strauss dies beredt im Briefwechsel tut, wann immer Hofmannsthals Schattenwurf, sein großer Wurf zu »Die Frau ohne Schatten« im Stillen stockt.
Schon früher drohte die »geistige Starrnis, in der ich Ihnen zu versinken schien…«

Allerdings war dieser Jemand ein im Dienst der Fiktion geworfener Schatten des Ich:
Sir Francis Bacon, später Lord Verulam usw., an den der junge Dichter im Alter Ego des »Lord Chandos, jüngerer Sohn des Earl of Bath« schreibt. Was Lord Chandos in seinem Brief so eindringlich schildert, und was Hofmannsthal in zyklischer Wiederkehr kennt, gut dokumentiert im Briefwechsel mit Strauss, den er wieder und wieder vertrösten, um Geduld bitten, seiner versichern muss, das ist, dass sich ein Aspekt von Welt loslöst von Zeichen, wo er sich zeigt, unverstellt vor das Innere tritt und durch blitzartige Sicht kraft seiner Natur es zersprengend in das sprachliche Zeichensystem wirkt. Was fest war, gerät in Fluss und zersetzt sich in kleinste Teile. Lautketten und Klang der Worte lösen sich vom Bezeichneten ab.

Im Zwischenreich des Chaos, wo Altes nicht gilt und Neues noch nicht gefunden ist, kann nicht geschrieben, nicht gesagt werden; das Innere zum Bersten voll: »Die Frau wirft keinen Schatten, der Kaiser muss versteinen!« ruft der Dichter durch den Falken verzweifelt, ruft er mit den Gestalten, die sich im Schreiber nach Versprachlichung sehnen: „Ich will den Schatten!“, die sich sehnen nach der Horizontale des Papiers, nach der Erde, auf der das Leben verläuft, nach Dynamik, Drama, Geborenwerden, Sterben – kurz, nach dem Menschlichen.
Die Gebilde müssen vergänglich sein, weil sie sich zwingend bei Fügung in ein neu gefundenes Zeichensystem – bei Geburt in eine Welt hinein – wiederum verlieren, weniger und mehr werden als sie in der Substanz sind zugleich: Scharf konturiert, mit Dunkel gefüllt, zweidimensional.
Und das meint Hofmannsthal, wenn er von der Lücke zwischen Geist- und Tierwelt spricht: Beiden fehlt der Schatten des Worts, das eigentlich Menschliche, die Sprache. Der Geist weilt im Raum, weit vor und über ihr.

Hofmannsthal, Brief des Lord Chandos:
Es ist mir dann, als bestünde mein Körper aus lauter Chiffern, die mir alles aufschließen. Oder als könnten wir in ein neues, ahnungsvolles Verhältnis zum ganzen Dasein treten, wenn wir anfingen, mit dem Herzen zu denken.
Es ist mir dann, als geriete ich selber in Gärung, würfe Blasen auf, wallte und funkelte. Und das Ganze ist eine Art fieberisches Denken, aber Denken in einem Material, das unmittelbarer, flüssiger, glühender ist als Worte. Es sind gleichfalls Wirbel, aber solche, die nicht wie die Worte der Sprache ins Bodenlose zu führen scheinen, sondern irgendwie in mich selber, und in den tiefsten Schoß des Friedens.

Wer könnte es ihm übelnehmen, dem jungen Lord? Einmal dort gewesen, kehrt sich die Welt um. Dinge sieht er, die die Menschen nicht schauen, und sagen kann er nichts, sie würden ihn nicht verstehen. So verbleibt er ohne Werk im Geiste, stumm, krisengeschüttelt, unfruchtbar. Kinder des Geistes kann er keine gebären, Schatten kann er keinen werfen. Schrift zu veräußern, von sich etwas abzulösen aufs Papier, den Schatten der Gedanken zu werfen gelingt ihm nicht mehr. Kein Wurf – des Geistes, oder des Schattens.
Schaffenskrise als Schattenkrise. Da stockt das Leben, das Herz wird zu Stein, es fließt nichts mehr, und alles erstarrt. Der Kaiser weint, nur sein Auge lebt noch.

Hofmannsthal, Brief des Lord Chandos:
Ich machte einen Versuch, mich aus diesem Zustand in die geistige Welt der Alten hinüberzuretten. Platon vermied ich; denn mir graute vor der Gefährlichkeit seines bildlichen Fluges.

PLATON – Höhlengleichnis:
Ein gar wunderliches Bild, sprach er, stellst du dar und wunderliche Gefangene. – Uns ganz ähnliche, entgegnete ich. Denn zuerst, meinst du wohl, daß dergleichen Menschen von sich selbst und voneinander je etwas anderes gesehen haben als die Schatten, welche das Feuer auf die ihnen gegenüberstehende Wand der Höhle wirft? – Wie sollten sie, sprach er, wenn sie gezwungen sind, zeitlebens den Kopf unbeweglich zu halten! – Und von dem Vorübergetragenen nicht eben dieses? – Was sonst? – Wenn sie nun miteinander reden könnten, glaubst du nicht, daß sie auch pflegen würden, dieses Vorhandene zu benennen, was sie sähen? – Notwendig. – Und wie, wenn ihr Kerker auch einen Widerhall hätte von drüben her, meinst du, wenn einer von den Vorübergehenden spräche, sie würden denken, etwas anderes rede als der eben vorübergehende Schatten? – Nein, beim Zeus, sagte er. – Auf keine Weise also können diese irgend etwas anderes für das Wahre halten als die Schatten jener Kunstwerke? – Ganz unmöglich. –

Der Lösung, die sich Lord Chandos auftut, weicht er mit einem Halbsatz aus: Gefährlich ist er, der bildliche Flug. Er ist es längst selbst, der Höhlenmensch, der hinausgezerrt ins Freie blinzelt, vom Licht sich blenden lässt, nicht weiß, was er sah – und die Sprache der Schatten, ihre Zeichen verlernt hat, vom Gesehenen verwirrt und aus der Höhle verbannt ist, und oben taumelnd in die Sonne blickt. Er meidet Platon – er meidet sich selbst. In der Hoffnung, in der Höhle bleiben zu dürfen, bei den Menschen, die auf ein System von Zeichen, von Schatten vertrauen, graut es ihm vor der oberen Welt. Doch mehr noch graut ihm, graut Hofmannsthal vor dem Verlust der Gemeinschaft, gemeinsamer Zeichen. Der Dichter hat Angst, er fürchtet den Verlust der Schatten.

Die Angst sitzt tief, noch zwölf Jahre später verhindert sie den bildlichen Flug. Wo sie nicht fliegen, nicht um sich selbst wissen, blinzeln sie im halb Bewussten, wo sie dem inneren Licht schon aufgeblitzt sind, wenn auch hauchzart, die ersten Ideen zu »Die Frau ohne Schatten«.
Strauss wird vertröstet. Der Dichter spürt, dass er einen Zwischenschritt braucht.
Neu figuriert er sein Alter Ego, wechselt die Perspektive, wirft seinen Schatten in eine ganz andere Welt:
Als Komponist in »Ariadne auf Naxos« schreit er auf: »Wer hieß dich zerren mich in diese Welt hinein? Lass mich verhungern, erfrieren, versteinen! in der meinigen!« und spiegelt sich in Ariadne, die, wie Zerbinetta ihr vorwirft, sich gibt »als wäre sie die Statue auf ihrer eigenen Gruft.«
Tragik und Schwere der Adoleszenz, die sich der Komponist noch mit Lord Chandos teilt, rücken in komischen Abstand, werden durch Zerbinettas Spott leicht: »Kindskopf«“ resümiert sie. Drohende Versteinerung und Angst haben keinen Platz in ihrer Welt, die das sich wandelnd Lebendige tanzt. Damit das Lustige und das Traurige gleichzeitig sein darf, figuriert der Dichter in Zerbinetta den Jahre zuvor im Brief des Lord Chandos, retrospekt wie programmatisch geschriebenen Satz:

»Nur große Menschen, die von der Gefährlichkeit des Lebens durchdrungen und dennoch nicht entmutigt sind, haben den Ausdruck der Leichtigkeit und des Scherzes.«

Das Hinabtauchen in die Tiefe der Welt Ariadnes wirft nicht nur das Licht des Geistes auf die Vertikale der dort vorgefundenen Gestalten. Von dort aus fällt denn auch ihr Schatten auf die Horizontale der Oberfläche – als Umriss gezeichnet, wellenreitend mit Leichtigkeit – das liefert dem Dichter die profunde Erkenntnis, wie die Tiefen des Daseins auch in der Oberfläche aufgehoben sind. Diese Einsicht, dass die beiden Welten nicht einsam getrennt, sondern eines sind, lässt ihn durch den Komponisten in jugendlich gestammelten Jubel des Muts ausbrechen:

»Sein wir wieder gut! Ich sehe jetzt alles mit anderen Augen. Die Tiefen des Daseins sind unermesslich, mein lieber Freund, es gibt Manches auf der Welt, das lässt sich nicht sagen. Die Dichter unterlegen ja recht gute Worte, recht gute! Jedoch… jedoch… jedoch… jedoch: MUT ist in mir, Mut, Freund, die Welt ist lieblich und nicht fürchterlich dem Mutigen. Was ist denn Musik? Musik ist eine heilige Kunst, zu versammeln alle Arten von Mut! Wie Cherubim um einen strahlenden Thron! Und darum ist sie die heilige unter den Künsten, die heilige Musik!«

Die Bewegung um 90°, von der gestalthaften Tiefe zur zeichenhaften Oberfläche, spiegelt neu belebt die Wandelbarkeit des Bilds zum Drama von Kraft und Gegenkraft. Sie eröffnet Dimensionen des Schattenwurfs, sie fügt dem Symbol weitere Ebenen hinzu. So formuliert Hofmannsthal:

»Die Tiefe muss man verstecken. Wo? An der Oberfläche.«

‚Alle Arten von Mut um sich versammelt‘ sieht er sich nun gereift.
Er verwandelt das Höhlengleichnis, das er mied, im Sinn Heraklits und C.G. Jungs nun in die Gegenkraft, die jeder Kraft folgt[1]: Der Schatten, in den ersten Ideen noch als »Zugabe« skizziert, wird nun zum Zentrum des Werks, hebt an zum bildlichen Flug, vor dem ihm graute. Er kehrt die Bewegung um, nicht mehr aus der Höhle hinauf ins Licht voll Angst und Taumel geht es, sondern mit gefasstem Mut hinab, nicht den Schatten zu verlieren, sondern ihn neu zu gewinnen gilt es. Der erlittene Sprachverlust wird im Bild, getragen von Musik, konfrontiert – …während das Orchester ihren Erdenflug aufnimmt ruft die Kaiserin, in der sich der Dichter wiederum figuriert: »Mich schaudert freilich, aber ein Mut ist in mir, der heißt mich tun, wovor mich schaudert!«

Wie sehr der Dichter mit »Die Frau ohne Schatten« alles Leid aus dem »Brief des Lord Chandos« zu eschatologischer Größe verwandelt, wie sehr die Texte durch ein Prinzip der Genese verwoben sind, wo die Kaiserin einen Knoten der Angst des jungen Lords um den andern mit Mut löst – das deutet sich, wo sie ihre letzte Prüfung mit äußerstem Mut zu bestehen hat, im hellsten Licht an:

Hofmannsthal, Brief des Lord Chandos:
Am meisten gedachte ich mich an Seneca und Cicero zu halten. An dieser Harmonie begrenzter und geordneter Begriffe hoffte ich zu gesunden. Aber ich konnte nicht zu ihnen hinüber. Diese Begriffe, ich verstand sie wohl: ich sah ihr wundervolles Verhältnisspiel vor mir aufsteigen wie herrliche Wasserkünste, die mit goldenen Bällen spielen. Ich konnte sie umschweben und sehen wie sie zueinander spielten; aber sie hatten es nur miteinander zu tun und das Tiefste, das persönliche meines Denkens blieb von ihrem Reigen ausgeschlossen. Es überkam mich unter ihnen das Gefühl furchtbarer Einsamkeit; mir war zumuth wie einem, der in einem Garten mit lauter augenlosen Statuen eingesperrt wäre; ich flüchtete wieder ins Freie.

Um zwölf Jahre gereift, anders als der Adoleszente, der ins Freie flüchtet, weiß die Kaiserin, dass von ihr alles abhängt – sie steht in der Verantwortung für sich und die Andern, auch für den Färber Barak, der von draußen ruft und leidet (wie Strauss, der geduldig wartet, bis das Libretto seinen Schatten wirft). Sie muss »das Tiefste, das persönliche meines Denkens« mutig verteidigen, indem sie ihm vollkommen, im tiefsten Inneren vertraut, keine Quelle von außen, keinen fremden Schatten annimmt, indem sie sich wagt im Mut des »Ich – will – nicht«.
‚Alle Arten von Mut‘ haben auch die augenlosen Statuen im Bild gewandelt: Wach folgt der Blick des Kaisers ihr, in Hoffnung auf Leben.
Von diesem Ende her, das das Bild des Schattens selbst in seiner Bedeutung enantiodromisch verwandelt von dem des persönlich dunkel Unbewussten zur hellen Sprache des Bewussten, der Menschlichkeit, fächert sich durch beide Texte retrospekt lesend konsequent jedes im einen zitternd angelegte Motiv im andern durch Mut gelöst auf:

Die drohende Versteinerung, wo der Ausdruck nicht in die Welt gelangt. Die Wandlungsfähigkeit des Geistes, der durch Einfühlung hinüberfließen kann in theriomorphe[2] Gestalten, sei es die Gazelle, der Falke im einen, der gehetzte Hirsch und die sterbende Ratte im anderen Text. Das irdische Leben in aller Einfachheit, das unvermutete Erkenntnisse birgt, die Hässlichkeit abgeschliffener, überkommener Sprache. Das auf sich selbst Zurückgeworfensein in unterirdische Höhlen oder Keller, die sich plötzlich auftun und den Blick in sich selbst, ins dunkel Unbewusste erzwingen – reißende Flüsse des Geistes, die das Selbst ansteigend überfluten, ein Irregehen und in die falsche Richtung geschickt werden, ein Spiegelbild des Selbst, das über den Abgrund der Jahrhunderte geworfen wird – ein Verschwinden des Dichters in seinen Figuren und mit Zungen aus ihnen herausreden, das ersehnt, aber dem jungen Lord nicht möglich ist:

Hofmannsthal, Brief des Lord Chandos:
»…daß mich ein ebensolcher brückenloser Abgrund von den scheinbar vor mir liegenden literarischen Arbeiten trennt als von denen, die hinter mir sind und die ich, so fremd sprechen sie mich an, mein Eigentum zu nennen zögere.«

Dies letzte Bild gilt es zu entschlüsseln. Was sich für die Kaiserin, die deutlich sagt: »Ich – will – nicht« im blitzartigen Schattenwurf vollzieht, wird für die Färberin in der Verwandlung ihres Schattens zur goldenen Brücke über den Abgrund, auf der die Ungeborenen ins Leben kommen.
Schließlich verstehen wir als Schattenschauer, dass es die noch vor ihm liegenden literarischen Arbeiten des Künstlers– die noch zu werfenden Schatten – sind, die als Ungeborene ins Leben drängen. Wie oft der Schriftsteller betont, dass sein Werk sich nicht durch seinen Willen ans Licht zerren lässt, so kann er es auch nicht ins Dunkel zwingen.
Hofmannsthal plante eine Figuration im »Zeichendeuter«, einem nicht mehr vollendeten Manuskript.
Seine Fragmente deuten an, dass die enantiodromische Wandlung seiner dramatischen, im weiteren Sinne Denkfiguren[2] hier fortgesetzt werden sollte. Und selbst dies ist im Brief des Lord Chandos angelegt: Er spricht dort von einem Werk, das den Titel »NOSCE TE IPSUM« tragen sollte, in dem er ‚Sentenzen…, Reflexionen… und geistigen Zierat…‘ versammeln wollte.
C.G. Jungs Anleitung für den symbolischen Prozess der Individuation im inneren Bild scheint in Hofmannsthals Reise in künstlerischer Vollendung exemplarisch durchgeführt:

»Betrachten Sie das Bild und beobachten Sie genau, wie es sich zu entfalten und zu verändern beginnt. (. . .) All diese Wandlungen müssen Sie sorgsam beobachten, und Sie müssen schließlich in das Bild selbst hineingehen.«

Dieses: »ERKENNE DICH SELBST« fing er als Licht ein, hängte es hoch an den Mast und navigierte zeitlebens unter ihm. Schreiben als Schattenwurf, als Figuration war ihm zwingendes Prinzip der Genese von Text: So konnte er seine ‚Wandlungen sorgsam beobachten‘; und das Licht weit über sich selbst hinaus strahlen lassen.
In dieser Strahlkraft stiftet die Sprache in »Die Frau ohne Schatten« sich selbst höchsten Sinn: Sie ist es, was uns als menschliche Gemeinschaft die Illusion gibt, wenn auch nicht individuell, so doch kollektiv den Tod im Sinne steten Wandels zu überwinden: Sie ist es, durch die die Jetzigen ihr geistiges Gut den Nachkommen reichen und was diese über vorige Generationen hinauswachsen lässt. Sie zeigt auf, dass die ‚Ehe‘ der Paare des Stücks Symbol ist – das, dem Schattenwurf ähnlich, eschatologisch fungiert, indem jede Art von fruchtbarem Zusammentreten zweier Kräfte, die ein drittes hervorbringen, gemeint ist: Licht und Körper den Schatten, Dichter und Komponist ihr Werk, Sprache selbst im Geben und Nehmen das Erkennen und Verstehen zwischen den Menschen. Sie selbst ist die »goldene Brücke, auf der sich Mann und Frau begegnen und über die die Ungeborenen gehen«, sie ist die Essenz des Menschlichen, die der Kaiserin den Knoten ihres Herzens löst – denn die reine Selbstentäußerung des »Ich – will – nicht« ist, was das Goethe’sche Wort verwirklicht:

»Von dem Gesetz, das alle Wesen bindet, befreit der Mensch sich, der sich überwindet.«

 


[1] Heraklit formuliert dieses Prinzip als Enantiodromie: Alles fließt, panta rhei, im stetigen Wandel von Kraft und Gegenkraft. Leben und Tod, warm und kalt, wechselnd taucht es auf und ab im Fluss des Lebens. Bei C.G. Jung wird der symbolische Prozess der Individuation des Selbst als enantiodromisch erklärt: im stetigen Wechsel von bewusst und unbewusst tauchen Bilder auf, steigen hinab, und wandeln sich entlang der zunehmenden Individuation – der Bewusstwerdung.

[2] tierische; hier in der griechischen Wurzel belassen, da die theriomorphe Symbolik bei C.G. Jung einen der Archetypen des Geistes darstellt – „…in einer gewissen Hinsicht ist das Tier dem Menschen auch überlegen.
Es hat sich noch nicht in sein Bewusstsein hineinverirrt… es… erfüllt den Willen, der in ihm waltet, in nahezu vollkommener Weise“.
– zit. nach C.G. Jung: Bewusstes und Unbewusstes, Frankfurt a.M. / Hamburg 1957

 

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