Ein fast vergessener Zwölftöner

»Einen Großteil von Skalkottas’ sinfonischem Genie gilt es noch zu entdecken: Seine sinfonische Musik muss vielleicht so lange auf Anerkennung warten wie die Schuberts, dessen Charakter und Schicksal er in ziemlich vielen Punkten teilt, darunter seine Produktivität und die fehlenden Möglichkeiten (oder Interesse?), seine eigene Musik zu hören.« So schrieb der Musikwissenschaftler Hans Keller in einem posthum 1994 veröffentlichten Aufsatz über einen der bedeutendsten Komponisten Griechenlands: Nikos Skalkottas (1904–1949). Auch heute, fast 25 Jahre nach Kellers Feststellung, ist dessen Musik, die sich zwischen den Schulen und Stilen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, zwischen Zwölftontechnik und Rückgriff auf griechische Volksmusik bewegt, kaum bekannter geworden. Höchste Zeit, das zu ändern: Das I. Abonnementkonzert der Staatskapelle Berlin am 8./9. Oktober 2018, geleitet von Daniel Barenboim, lädt nun dazu ein, eines der wichtigsten Werke des Komponisten, nämlich die Ouvertüre »Die Rückkehr des Odysseus«, kennen zu lernen.


Nicht zuletzt ist es dafür an der Zeit, da Skalkottas’ Biographie eng mit Berlin verknüpft ist: Mit gerade einmal 17 Jahren kam der junge Violinist, der in Chalkida auf der Insel Euböa geboren und am Athener Konservatorium ausgebildet worden war, 1921 mit einem Stipendium in die deutsche Hauptstadt, wo er bis 1933 blieb. Zunächst setzte er an der Musikhochschule sein Violinstudium fort, wechselte jedoch nach zwei Jahren das Metier und nahm Kompositionsunterricht bei Kurt Weill und dem Busoni-Schüler Philipp Jarnach. 1927 schaffte er schließlich die Aufnahme in Arnold Schönbergs Meisterklasse an der Preußischen Akademie der Künste. Schönberg und sein Kreis sollte Skalkottas’ Musik entscheidend prägen; Schönberg äußerte später, 1948, neben nur wenigen anderen seiner Schüler wie Webern, Berg und Eisler sei Skalkottas ein echter Komponist geworden. In Berlin dirigierte Skalkottas auch erste Aufführungen seiner Werke, 1931 wurde seine »Kleine Suite« für Violine und Orchester im Radio übertragen, kommentiert von niemand Geringerem als Theodor W. Adorno.
Trotz allgegenwärtiger finanzieller Schwierigkeiten bahnte sich für Skalkottas eine aussichtsreiche Karriere an, bis ihm nach einem Heimatbesuch im Mai 1933 die Ausreise aus Griechenland verweigert wurde, da er dort nie den verpflichtenden Wehrdienst geleistet hatte. Sein Pass wurde einbehalten und Skalkottas konnte zeit seines Lebens nicht mehr nach Berlin zurückkehren, wo er unter anderem all seine Musikmanuskripte gelassen hatte. Dieser Umstand stürzte ihn in eine Depression und eine kompositorische Krise, der er nur mit Mühe entkam. Rein aus finanziellen Gründen verdingte er sich als Geiger in Athener Orchestern. Daneben komponierte er weitgehend unbeachtet und fast ausschließlich für sich eine Vielzahl von Werken, von denen nur wenige – wie etwa sein größter Erfolg, die »36 griechischen Tänze« – zu seinen Lebzeiten aufgeführt wurden. 1949, zwei Tage vor der Geburt seines zweiten Sohnes, starb Skalkottas überraschend. An seinem letzten Berliner Wohnhaus in der Nürnberger Straße 19 in Charlottenburg erinnert eine Gedenktafel an den griechischen Komponisten, der im künstlerisch progressiven Berlin der Weimarer Republik seine zweite Heimat gefunden hatte.
Den überwiegenden Teil von Skalkottas’ umfangreichem Œuvre bilden Instrumentalwerke; Vokales und Musiktheaterwerke finden sich nicht darin. Ende der 1930er Jahre jedoch war Skalkottas zum ersten und einzigen Mal auf der Suche nach einem Opernstoff. Ein Freund, der Violinist John Papadopoulos, brachte ihn auf die Idee, der Oper eine Passage aus der ältesten griechischen Dichtung überhaupt zugrunde zu legen: aus Homers »Odyssee«. Tatsächlich fing Skalkottas Feuer und Flamme für das Projekt, das offenbar mit Odysseus’ Aufenthalt bei den Phaiaken die Rahmenhandlung von Homers Epos schildern sollte. Dort trifft der schicksalsgeplagte Held nach einem Schiffbruch am Strand auf die Königstochter Nausikaa, wird von ihr in den Palast von König Alkinoos geführt, berichtet von seinen Irrfahrten und kann mit Unterstützung der Phaiaken schließlich in seine Heimat Ithaka zurückkehren. Papadopoulos sollte auch vermutlich das Libretto für die Oper verfassen. Doch 1949, wenige Monate vor seinem Tod, schrieb Skalkottas: »Ich warte noch immer auf dieses elende Libretto, aber es gibt keine Anzeichen, dass ich es erhalte.«
Davon unbeirrt hatte er bereits Anfang der 1940er Jahre eine Ouvertüre zu der geplanten Oper verfasst. Skalkottas bezeichnete das Stück in einer eigenhändigen, auf Deutsch geschrieben Programmnotiz als »vorkomponierten« Teil der »Odysseus«-Oper. Der gelegentlich zu findende Titel »Sinfonie in einem Satz«, der nicht von Skalkottas stammt, ist dabei irreführend, denn es handelt sich nicht um ein eigentlich mehrsätziges Stück, dessen Teile ohne Pause ineinander übergehen, sondern um einen einzigen Satz mit beträchtlichem Ausmaß: Eine Spieldauer von knapp einer halben Stunde lässt Zweifel an der Eignung als Opernouvertüre aufkommen.

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Innerhalb Skalkottas’ eklektischem Schaffen zählt die Ouvertüre nicht zu seinen tonalen Werken wie die »36 griechischen Tänze«, sondern ist ein Paradebeispiel dafür, wie der Komponist seinen individuellen, freien Umgang mit Schönbergs Dodekaphonie fand. Statt die gesamte musikalische Substanz aus nur einer Zwölftonreihe abzuleiten (was bei einem Werk dieses Ausmaßes auch schwierig wäre), setzt er in den einzelnen Abschnitten unterschiedliche Reihen zur Melodie- und Harmoniebildung ein. Zusammengehalten wird das Werk durch motivisch-thematische Arbeit und eine ausgefeilte Klangfarbendramaturgie ganz klassisch-romantischer Prägung, also nicht durch serielle Organisierung. Dadurch ist das Stück, obwohl es zu Skalkottas’ komplexesten zählt, gerade im Vergleich zu zwölftönigen Werken anderer Komponisten relativ zugänglich.
An Alban Berg erinnert Skalkottas’ Vorliebe für das dem atonalen Denken entgegenstehende Intervall der Terz: Viele Melodien werden in fast klassischer Manier in Terzen (oder auch Sexten) begleitet; der auffällige, dissonante Tutti-Akkord vor dem Eintritt der Reprise besteht wie der berühmte Neuntonakkord aus dem ersten Satz von Mahlers 10. Sinfonie aus einer gigantischen Terzenschichtung. Dieser Akkord steht zudem an einer Stelle, zu der ein bereits in der Antike bekanntes Konstruktionsprinzip Skalkottas den Weg gewiesen haben könnte (oder wahrscheinlicher sein Vorbild Béla Bartók): Der Akkord befindet sich im Goldenen Schnitt der Komposition, nämlich in Takt 423 von insgesamt 684 Takten.
Wohlkalkuliert und -konstruiert ist also die Anlage dieses monumentalen Satzes. Am Anfang der ruhigen, ausgedehnten Adagio-Einleitung steht das »Urintervall«, das aufgrund seiner Verbindung zu traditionellen Akkorden in einer Zwölftonkomposition überraschen mag: die leere Quinte, zu der dann das erste Zwölftonthema im Horn mit dem charakteristischen Aufschwung einer kleinen None tritt. Das eher überraschend eintretende Allegro wird von einem wild gezackten, punktierten Hauptthema in den Streichern dominiert, gegen das die Bläser unregelmäßige Akzente setzen. In der sich anschließenden Überleitung entweicht die Aggression: Skalkottas schwebte eine »Waldszene mit singenden Vögeln und sonstigen Naturklängen« mit hohen Streichern und trillernden Holzbläsern vor. Das ist in seiner Beschreibung die einzige programmatische, aber reichlich vage Schilderung, deren inhaltlicher Bezug zum Odysseus-Mythos zudem unklar bleibt. Dann tritt das gesangliche zweite Thema in gemäßigtem Tempo zuerst im Englischhorn auf, dann in romantischer Sextenseligkeit in Flöte und Klarinette. Die Durchführung besteht aus drei Fugen, deren erste auf dem Hornthema aus der Einleitung, nunmehr im schnelleren Tempo, basiert. Bei der letzten handelt es sich um eine bis zu zwölfstimmige Doppelfuge. »Fuga« könnte hier ganz im Wortsinn auf Odysseus hindeuten, einerseits auf seine Flucht vor dem Schicksal, aber auch im übertragenen Sinne: Schließlich könnte die Fuge als seit jeher komplizierteste aller musikalischen Gattungen Odysseus’ List und Weisheit symbolisieren. Die stark verkürzte Reprise mündet in eine Prestissimo-Coda mit einer bohrenden ostinaten Achtelfigur in den Streichern. Schließlich entladen sich die punktierten Rhythmen des Hauptthemas in die tiefen, harten Schlussakkorde dieses in seiner Verbindung aus Tradition und Avantgarde so singulären Werks.
Dass Skalkottas seine Musik manchmal, ohne an eine Aufführung zu denken, quasi für die Schublade schrieb, zeigt sich daran, dass sie extreme Anforderungen an die Instrumentalisten stellt, ja gar Unmögliches verlangt, obwohl er ja über beste Orchestererfahrung verfügte. Überhaupt brachte die komplizierte Werkgenese mit der um 25 Jahre verspäteten Londoner Uraufführung, für die nur eine fehlerbehaftete »provisorische Edition« zur Verfügung stand, Probleme mit dem Notentext des komplexen Werks mit sich. Die Aufführung der Staatskapelle ist die erste Konzertaufführung nach der kritischen Edition der Skalkottas Academy, herausgeben von dem griechischen Dirigenten Nikos Christodoulou, der etliche von Skalkottas’ Werken zum ersten Mal auf CD eingespielt hat. Es wird außerdem nicht die letzte Begegnung mit diesem faszinierenden Komponisten für diese Spielzeit bleiben: Im VII. Abonnementkonzert widmen sich die Staatskapelle und ihr Generalmusikdirektor Skalkottas’ »Kleiner Suite« für Streichorchester.

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