»…ein Übergang zu etwas vollkommen Neuem.«
Anlässlich der Uraufführung von VIOLETTER SCHNEE sprach Dramaturgin Yvonne Gebauer mit Regisseur Claus Guth über Tarkowskis »Solaris«, Bruegels »Jäger im Schnee« und darüber, was es bedeutet, wenn alles vorbei ist.
Beat Furrers »Violetter Schnee« hat eine längere Entstehungsgeschichte …
Das ursprüngliche Libretto hat Vladimir Sorokin schon vor einigen Jahren für Beat Furrer geschrieben. Er hatte die Idee, dass eine Gruppe von Freunden gewissermaßen in einem Haus eingeschlossen ist und es unaufhörlich schneit und nicht mehr hell wird. Am Ende erscheint eine violette Sonne und bringt eine vollkommen neue Erfahrung in die Welt. Händl Klaus hat dann später in seinem Libretto die Motive von Sorokin fast komplett übernommen und sie in seine eigene poetische Sprache übersetzt. Hinzuerfunden hat er gemeinsam mit Beat Furrer das Bruegel-Bild der »Jäger im Schnee«. Dieses Bild, das fast jeder schon einmal gesehen hat, erscheint zunächst wie ein Idyll: Da kehren Jäger mit ihren Hunden heim, Menschen ziehen ihre Schlitten und Kinder laufen Schlittschuh. Wenn man genauer hinschaut, sieht man allerdings, dass die Jäger gar keine Beute dabeihaben, dass diese Hunde geknechtet sind, dass einige Häuser brennen, ein gestürzter Mensch auf dem Eis liegt und überall Raben im Bild sitzen. Anscheinend beschreibt das Bild eine Situation kurz vor der Katastrophe.
Wie fügen sich diese Motive dann innerhalb der Handlung?
Händl Klaus beginnt im Prolog mit einer Beschreibung der »Jäger im Schnee« durch Tanja. Hier bekommt man schon eine Ahnung davon, dass dieses Bild – wie unter Kunsthistorikern durchaus bekannt – mehr eine Apokalypse beschreibt als eine idyllische Landschaftsbetrachtung. Und dann beginnt die Erzählung der im Schnee eingeschlossenen Gruppe von Jan, Silvia, Natascha, Peter und Jacques. Diese Welt vermischt sich im Lauf des Abends mit der Welt des Bruegel-Bildes.
Welche Rolle spielt hier die die Figur der Tanja?
Tanja stammt aus dem Motivkreis von Andrei Tarkowskis Film »Solaris«, wir haben sie im Vorfeld hinzuerfunden. Sie könnte zu der Figur des Jacques gehören, der im Stück als ein Außenseiter dargestellt wird und ganz in Gedanken an seine verstorbene Frau Tanja lebt. Er verhält sich gegenteilig zu allen anderen Figuren der Gruppe, die in Panik geraten angesichts der Situation und Angst haben vor dem Tod. Er nimmt eine andere Spur auf und sieht in dem apokalyptischen Zustand, in dem sich die Welt befindet, vielmehr eine Chance, seiner verstorbenen Frau näherzukommen. Dieses Willkommen-Heißen des Untergangs und die langsame Annäherung an die verstorbene Tanja bilden eine weitere Erzählebene. Insgesamt funktioniert das Stück in Schichtungen von Themen und Motiven.
Welchen Weg geht die Gruppe im Lauf des Abends?
Wir haben den Motiven, die im Stück schon angelegt sind, noch ein weiteres hinzugefügt, indem wir die Protagonisten auf eine Reise schicken. Sie machen den Versuch, ihrem Schicksal zu entkommen, indem sie sich von Ort zu Ort bewegen – wir haben uns da von Cormac McCarthys Roman »The Road« inspirieren lassen.
Als Ausgangspunkt der Reise hast du das Kunsthistorische Museum in Wien gewählt.
Zum einen ist das der Ort, an dem das Bruegel-Bild heute zu betrachten ist. Darüber hinaus ist das Museum an sich ein Ort, an dem man sich unserer Zivilisation bewusst wird und Höhepunkte menschlichen Wirkens ausgestellt werden. Das Museum ist auch ein Ort der Reflexion über Menschheitsentwicklungen.
Manche Besucher im Museum denken angesichts der Betrachtung der Bilder über Veränderungen in der Welt nach. Insofern ist es interessant, dass das Museum der Ort ist, an dem sich in unserer Erzählung eine Apokalypse abzeichnet. Mas sieht das Museum an diesem Abend mehrfach – als normalen Museumsort, der besucht wird, um Bilder zu betrachten. Später ist er zu einem Zufluchtsort geworden. Man erlebt ihn in einem verwüsteten Zustand, voller Müll, zugeschneit. Niemand betrachtet mehr die Bilder – im Zweifelsfall wird ein Bild eher als wärmende Unterlage gesucht.
Insofern schien mir das als Setting interessanter zu sein als das ursprünglich von Sorokin vorgesehene eingeschneite Haus, das bei mir, der ich selbst viel Zeit im Schnee und in den Bergen verbringe, eher romantische/abenteuerliche Assoziationen auslöste.
Welche Dimension hat der unaufhörliche Schneefall in diesem Stück? Gibt es da Bezugspunkte zu unserer Gegenwart?
Wir haben diskutiert, ob wir eine imaginäre Zukunft als Ort der Handlung annehmen sollten, aber letztlich war es für uns sehr wichtig, das Stück im Heute anzusiedeln. Unsere Phantasie bedarf angesichts der gegenwärtigen Verhältnisse keiner großen Anstrengung mehr, um die im Stück beschriebene Situation zu imaginieren. Ich glaube, niemand würde sich im Moment besonders wundern, wenn man feststellen würde, dass die Rechnungen falsch waren und die Erderwärmung doch schon 3 Grad beträgt. Die Industrienationen sind ja nicht aus ethischen Gründen am Klimaschutz interessiert, sondern vor allem deshalb, weil die Bedrohung durch die kommenden Klimaflüchtlinge im Raum steht. Das sind ganz andere Dimensionen als Bürgerkriege.
Das ist ein neuer Schritt im Denken. Jetzt ist jedem klar, dass die Erderwärmung nicht mehr aufzuhalten ist, und man versucht, sie auf möglichst maximal 1,5 Grad zu begrenzen.
Wie gestalten sich die Proben zu einer solchen Uraufführung?
Das Stück bedeutet für alle Beteiligten eine extreme Kraftanstrengung – für die Sänger, für das Orchester und auch für mich als Regisseur. Das hat vor allem damit zu tun, dass die Partien rhythmisch extrem kompliziert sind, und sich die Worte von Händl Klaus in enger Variation bewegen und die Wortfelder sich wiederholen. Da ist es sehr schwer, sich zu orientieren. Manchmal verbringe ich eine Probe von drei Stunden und habe am Ende eine Minute geschafft.
Wie würdest du die Handlung und die Figurenkonstellation im »Violetten Schnee« beschreiben?
Eine Gruppe von Menschen wird in eine Extremsituation geführt. Wir können im Laufe des Abends beobachten, wie sie mit dieser Situation umgehen. In dem Stück versuchen sie es zunächst mit Humor, Aktionismus oder Pragmatismus. Wir folgen im weiteren Verlauf der Handlung ihrem Bewusstseinsprozess. Elisabeth Kübler-Ross hat in ihrem Buch »Die sieben Vorstufen des Todes« sehr genau beschrieben, welche verschiedenen Phasen ein Mensch in dem Prozess des langsamen Sterbens durchlebt. Das hat mit den unterschiedlichsten Zuständen zwischen Erkenntnis Auflehnung und Zustimmung zu tun. Und mit Fragen, die gestellt werden: Was bedeutet es, wenn alles vorbei ist? Muss ich dann überhaupt noch mein Verhältnis geheim halten? Und wenn ich bald sterbe, dann ist ja sowieso alles egal.
Das ist ja auch interessant, diesen Satz weiter zu denken. Vielleicht sollte man sich diese Frage öfter mal stellen. Dieser Prozess der Auseinandersetzung mit der Situation endet schließlich in der vollkommenen Akzeptanz. Nicht des Todes, aber in jedem Fall des Endes von dem, was ist.
Wie ist dieser Schluss im »Violetten Schnee« überhaupt zu deuten? In der Partitur findet sich einmal eine Anweisung »sie singen, als würden sie einen fremden Planeten betreten« …
Diesen Schluss kann man nicht inszenieren. Es geht da eher um eine Bildfindung. Vielleicht sterben alle. Es könnte aber auch das Gegenteil sein, und die violette Sonne ist nur ein Übergang zu etwas vollkommen Neuem.