Eine Gattung, die am besten in Freiheit gedeiht. Rossini, Ruth Berghaus und die DDR

Als Ruth Berghaus 1968 mit dem Bühnen- und Kostümbildner Achim Freyer den »Barbier von Sevilla« inszeniert, kann keiner ahnen, dass diese Vorstellung ganze Generationen überlebt. Inzwischen ist sie ein halbes Jahrhundert alt und bricht alle Rekorde. Sie hat über zwanzig Jahre DDR-Geschichte hinter sich und fast dreißig deutsche Einheit.

[…  ] Nicht nur in der Staatsoper, sondern auch auf den anderen Bühnen des Landes gehen in den 1950er und -60er Jahren junge DDR-Regisseure ihren Weg, die weder einen herkömmlichen Regiestil pflegen noch ganz treu Brechts Bühnengesetze befolgen. Allen voran sind das Ruth Berghaus, Heiner Müller und Einar Schleef, die ganz unterschiedliche Richtungen einschlagen, aber alle eine Handschrift entwickeln, die den ästhetischen Postulaten des ›Sozialistischen Realismus‹ schon deshalb zuwiderläuft, weil mal die Form über dem Inhalt steht, mal keine klare Linie erkennbar wird und generell der Eindruck vorherrscht, dass keiner von ihnen viel Wert auf unmittelbare Verständlichkeit legt. Weder weiß man genau, worauf sie hinauswollen, noch bedienen sie ein Unterhaltungsbedürfnis, bei dem das Publikum sich zurücklehnen und alles Politische für ein paar Stunden vergessen kann.

Während Heiner Müller erst spät zur Oper findet und Einar Schleef seine chorischen Oratorienphantasien vor allem auf der Schauspielbühne auslebt, bewegt Ruth Berghaus sich von Anfang an zwischen den Sparten. Sie kommt vom Tanz und lernt durch ihren Mann, den Komponisten Paul Dessau, die Staatsoper früh von innen kennen. Nachdem sie bei den Dessau-Brecht-Opern »Puntila« und »Die Verurteilung des Lukullus« Regie führt, wendet sie sich 1967 mit Strauss’ »Elektra« zum ersten Mal dem etablierten Repertoire zu.

Ein Jahr später, als in West-Berlin die Achtundsechziger durch die Straßen ziehen und in der Tschechoslowakei der Prager Frühling ein jähes Ende findet, nimmt sie sich einen Klassiker vor, der auf den ersten Blick so gut wie keinen politischen Zündstoff besitzt, sondern bloß für Heiterkeit sorgt. Es handelt sich um Rossinis »Barbier«, der laut E. T. A. Hoffmann aus nichts als »widerwärtigem Getriller« besteht, in Heinrich Heines Augen dagegen mit seinen »revolutionsnärrischen Koloraturen« geradezu als staatsgefährdend zu gelten hat. Für Heine verbirgt sich hinter Rossinis musikalischem Furioso eine zersetzende Kraft, die sich gegen die österreichische Herrschaft richtet, unter der Italien bis Mitte des 19. Jahrhunderts zu leiden hat. […]

Ruth Berghaus lässt auf der Bühne keineswegs die Revolution proben, gönnt dem Zuschauer aber auch keinen lustigen Abend, bei dem man sich auf die Schenkel schlägt. Sie inszeniert eine Komödie, verweigert aber alles Klamottige. Von Anfang an wird deutlich, dass sie keinerlei Spielraum fürs Improvisierte und Extemporierte lässt, sondern jede Regung und Bewegung choreographisch festlegt. […] Vordergründig wirkt ihre Inszenierung durchaus unpolitisch. Da sie Rossinis »Barbier« jedoch von der Commedia dell’arte her versteht und ihr Kostüm- und Bühnenbildner Achim Freyer die Figuren im Stil der Arlekine, Dottores und Pantalones ausstaffiert, setzt sie auf Verfremdungseffekte, wie Brecht sie mit anderen, aber nicht unähnlichen Mitteln herbeiführt. […] Indem sie den »Barbier« als stilisiertes Spiel auf die Bühne bringt, adaptiert sie Aufführungsmethoden, wie sie im Berliner Ensemble nebenan längst gang und gäbe sind, auf der Opernbühne jedoch verstörend wirken.

Wie Brecht benutzt Berghaus die Bühne nicht als Illusionsraum, sondern als Ort, an dem man Rollen durchspielt. So wird der obligatorische Brecht-Vorhang nicht einmal an der Rampe auf- und zugezogen, sondern auf einer Guckkastenbühne, die mitten auf der Bühne steht. Nicht minder ins Spiel integriert ist der sichtbare Souffleurkasten, auf dem Graf Almaviva sich so herrschaftlich postiert, als wolle er den einfachen Leuten auf der Nase herumtanzen, während Figaro gelegentlich auf allen Vieren neben ihm kniet und sich als lebender Sitzplatz andient. Zudem besitzt Figaro, ähnlich Brechts Shen Te und Shui Ta, zwei Gesichter. Das eine zeigt den jovialen Geschäftsmann, der mit seiner Betriebsamkeit den Beutel füllen will, der ihm übers Gemächte hängt, das andere, von einer Halbmaske verdeckt, den Intriganten, der zwar nicht alle Fäden in der Hand, doch überall seine Finger im Spiel hat. Jede Figur zeichnet sich durch eine eigene Körpersprache aus. Die eine trippelt, die andere humpelt, die dritte hüpft, die vierte hoppelt, die fünfte gleitet eher über die Bühne als dass sie geht, die sechste stapft mit Riesenschritten durch den Raum und so weiter und so fort. Die eine vollführt immer wieder einen angedeuteten Knicks, die andere reckt regelmäßig ihr Bein nach vorn, die dritte winkelt ständig den Fuß spitz an, womit Ruth Berghaus keine individuellen Charaktere zeichnet, sondern klassenspezifische Charakteristika hervorhebt. Es geht um die Haltung des Aristokraten, um das Alerte des Geschäftsmanns, um das Gebuckelte des Subalternen. Mit allem zielt sie auf soziale Markenzeichen, die das gesamte Opernpersonal als Marionetten erscheinen lassen, denen nicht die Freiheit bleibt, sich nach eigenem Gusto zu bewegen.

Zu DDR-Zeiten singt man den »Barbier« auf Deutsch, wie es nicht nur an der Komischen Oper üblich ist, wo Walter Felsenstein darauf beharrt, dass Opern wie Schauspiele in allen Schritten logisch nachvollziehbar sein müssen. […] Erst nach der Wende geht man zum italienischen Original zurück, wofür Ruth Berghaus eigens Proben einberuft und Änderungen vornimmt. […] Im Gegensatz zu Felsenstein lehnt Berghaus jedoch jeden Bühnenrealismus ab und rückt die Musik ins Zentrum. Was sie an der Gattung Oper fasziniert, ist gerade ihr Künstliches und Artifizielles. […] Gerade Rossini liegt jeder Realismus fern, schließlich steht er – mit heutigen Kategorien zu reden – dem Slapstick näher als jenem Verismo, der erst nach seiner Zeit aufkommt. Das Expressive und Virtuose bilden sein Element, alles Bedeutungsschwangere liegt ihm fern. Alles gerät bei ihm zum Spiel, zu einem Spiel allerdings, das von maliziöser Mechanik lebt. Und just diese Mechanik stellt Ruth Berghaus aus. Weil ihre Figuren den Gesetzen einer strikten sozialen Motorik gehorchen, ist ihr »Barbier« frei von jeder onkelhaften Art Humor. […]

[…] Konträr fallen die Reaktionen beim Publikum aus. Buhs und Bravos halten sich am Premierenabend die Waage, so wie es auch meist bei den späteren Berghaus-Inszenierungen der Fall ist, im Osten wie im Westen. Die einen sind begeistert, die andern vermissen alles Ausgelassene und Rauschhafte. Was ihre Kritiker als seelenloses Gestikulationstheater empfinden, feiern ihre Anhänger als avantgardistischen Abschied von allem Traditionalistischen. […]

Obwohl Berghaus sich politisch überaus loyal verhält, bewegt sie sich in der DDR stets an der Grenze des ästhetisch noch Möglichen. Dabei verdankt sich die Langlebigkeit ihrer »Barbier«-Inszenierung gerade jenem formalistischen Zugriff, der auf alles Aktualistische verzichtet. Denn weder spielt Berghaus gezielt auf die Gegenwart an, noch sind hinter ihren Figaros, Almavivas und Bartolos auch nur entfernt zeitgeschichtliche Gestalten zu erkennen. Es geht ihr ums Generelle: um Oben und Unten, List und Tücke, Dünkel und Verschlagenheit. Dabei interessiert sie sich weit weniger für die Psyche ihrer Figuren als ihr hierarchisches Funktionieren. Ihr Hauptaugenmerk gilt nicht dem Einzelfall, sondern dem Emblematischen.

Der Kostüm- und Bühnenbildner Achim Freyer nennt den »Barbier« ihr beider Gesellenstück. Seine Bühne besteht aus luftigen Tüchern mit aufgemalten Palästen, die eher Skizzen gleichen denn Bildern. Alles besteht aus Draperie, die nichts wirklich verhüllt. Der Zuschauer sieht die lauschenden Intriganten stets schon neben den wallenden Wänden, bevor sie ihren Gegnern wieder in die Parade fahren. Im Zentrum des mit Putten geschmückten Bühnenbaldachins hängt ein Schild mit der Aufschrift »Der Barbier von Sevilla oder die unnütze Vorsicht«. Es ist der Originaltitel des Stücks, mit dem von Anfang an klargemacht wird, dass am Ende keine einzige Verstellung nützt und das Spiel durchschaut ist, bevor es beginnt.

Mit seiner rokokohaften Bühne und seinen pastosen Kostümen, die bunt, aber nicht knallig sind, sorgt Freyer für ein märchenhaftes Moment. Den Grundton bildet ein gedämpftes Weiß, das wie alte Kalkwände Patina angenommen zu haben scheint. Während Berghaus’ Bewegungsregie bis ins Letzte durchstrukturiert ist, darf man dank Freyers szenischer Fantasie auch ins Träumen geraten. Doch bei allem Verspielten handelt es sich nicht um ein historisierendes Kostümfest, vielmehr steckt in jedem Detail ein Zitat, als stamme das Stück aus einer Zeit, die es zugleich gegeben hat und auch nicht. Es handelt sich um ein ›Theater im Theater‹, bei dem jeder sehen kann, dass es eine Verbindung zur Realität unterhält, aber dennoch seinen eigenen Gesetzen gehorcht.

Weil dort über alles gelacht werden darf, gedeiht die Gattung der Komödie in Hegels Augen am besten in Freiheit. Sie führt vor, wie Figuren, die verbissen nach fragwürdigen Zielen gieren, zum Untergang verdammt sind, ohne es zu merken. Im Unterschied zur Tragödie, die im Ausweglosen verharrt, löst sich in der Komödie am Schluss alles auf. So sieht sich der überwachungssüchtige Doktor Bartolo im »Barbier« von lauter Verrätern umgeben, denen er voll Ingrimm das Handwerk legen will. Doch alle Vorsichtsmaßnahmen, die er trifft, lassen ihn am Ende nur umso dümmer dastehen. Sein ganzes Trachten und Sinnen führt zum Gegenteil dessen, was er erstrebt. Alle Vorsicht ist – wie schon der Titel verkündet – unnütz! Indem Ruth Berghaus den »Barbier« in quasi zeitloser Commedia dell’arte-Manier inszeniert, lässt Doktor Bartolo sich auch mit Gestalten identifizieren, die im Laufe seiner fünfzigjährigen Aufführung ein ähnliches Schicksal ereilt hat – und zwar direkt nebenan in den Regierungsgebäuden der Stadt. Die Komödie feiert das Leben, die Tragödie den Tod.

 

Es handelt sich um einen Auszug aus einem Beitrag Karl-Heinz-Otts in der Publikation »Diese kostbaren Augenblicke. 275 Jahre Staatsoper Unter den Linden«, herausgegeben vom Carl Hanser Verlag.

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