»Man ist gegenseitig nur Hüter der Einsamkeit des anderen.«
Am 19. Mai feiert »Abstract Pieces«, ein Auftragswerk der Staatsoper Unter den Linden, Uraufführung in der Neuen Werkstatt. Dramaturg Roman Reeger hat mit Komponist und Regisseur Manos Tsangaris vorab gesprochen.
Dein neues Werk, das nun in der Neuen Werkstatt der Staatsoper Unter den Linden aufgeführt wird, trägt den Namen »Abstract Pieces«. Wie kam es zu der Idee für dieses Stück?
Das war, als ich im Sommer 2017 den alten Orchesterprobensaal, die jetzige »Neue Werkstatt«, besichtigt habe. Eigentlich hatte ich zu diesem Zeitpunkt ein bis zwei ganz andere Stücke im Kopf. Als ich den frisch renovierten Raum dann sah, wurde mir klar, dass die dort nicht funktionieren würden.
Stattdessen wollte ich den Raum mit seiner besonderen Architektur selbst zum Thema der Komposition zu machen. Der Theaterraum und seine Mittel sollten komplett sichtbar sein. Kein Bühnenbild, nur Technik und Funktionsgegenstände sollten als wesentliches Material in Erscheinung treten. Ich erfand eine Fiktion, in welcher der antike Gott Dionysos, der als Erfinder des Theaters gilt, nach 2500 Jahren zurückkehrt, um sich anzuschauen, was mittlerweile aus dem Theater geworden ist.
» [Ich] wollte den Raum mit seiner besonderen Architektur selbst zum Thema der Komposition zu machen.«
Was bedeutet Abstraktion für Dich?
Wenn man von Abstraktion spricht, stellt sich sofort die Frage, was und wie abstrahiert wird. Das lateinische Wort »abstrahere« bedeutet in der wörtlichen Übersetzung »Abziehen«. Abstrahieren meint also immer, dass von irgendetwas abgezogen wird. Je mehr ich bei der Arbeit darüber nachdachte, desto mehr merkte ich, dass es keine absolute Abstraktion geben kann. Stattdessen handelt es sich um dynamische geistig-räumliche Prozesse, deren Voraussetzungen sich stetig verändern. In Bezug auf die Begriffsgeschichte im 20. Jahrhundert lässt sich beobachten, dass bestimmte Dinge, die uns beispielsweise vor 100 Jahren sehr abstrakt erschienen, heute keinen abstrakten Zusammenhang mehr behaupten. Darüber hinaus fördert der Prozess des Abstrahierens, also des Abziehens, immer ein sehr konkretes Resultat. Das »Schwarze Quadrat« von Malewitsch, das eine Ikone der abstrakten Kunst darstellt, ist als Pigment auf einer Leinwand ein konkreter Gegenstand.
Wie hast Du diesen Begriff dann in Deinem Musiktheater umgesetzt?
Für mich bedeutet das in diesem Sinne zunächst einmal, dass ich mich beim Schreiben nicht sklavisch irgendeinem Erzählstoff unterwerfen muss. Natürlich braucht es Referenzräume, aber dennoch steht die konkrete Verwendung der Mittel, die in der Partitur einkomponiert sind, im Vordergrund. Dadurch wird bereits ein bestimmter Grad an Abstraktion erreicht.
Kannst du Beispiele nennen?
Wenn Lichtquellen verwendet werden, nutzen wir sie nicht nur als Beleuchtung, um etwa die Protagonisten auszuleuchten, sondern wir verwenden sie als prima materia. Das Licht wird, wie Klänge, Tonhöhen, menschliche Stimmen, Texte und räumliche Konstellationen, zu einem gleichberechtigen Mittel. Für mich ist das Musiktheater auch dafür da, Räume zu abstrahieren, sie komponierbar zu machen. Bis heute existiert eine strenge Hierarchisierung in Bezug auf die unterschiedlichen Mittel im Theater. Somit ist die Frage nach der Emanzipation dieser unterschiedlichen Sprachfolien naheliegend. Alle Gewerke werden hier gleichberechtigt behandelt, aber nicht schematisch, sondern je nachdem welcher Aspekt im Handlungszusammenhang – wir befinden uns ja nach wie vor in einer Bühnenhandlung – gerade in den Vordergrund tritt.
Dennoch synchronisieren sich die einzelnen Werkzeuge des Theaterraums an gewissen Punkten wieder miteinander…
Ja, wir betreiben auf dialektische Weise die konsequente Ausdifferenzierung der einzelnen Mittel, um sie auf einer höheren Ebene wieder zusammenzuführen. In dem Moment, in dem ich beispielsweise das Licht als eigenständiges musikalisches Element wahrnehme, als musiké, was in etwa »Klangleib des Wortes« heißt, ist das Synchronisierungspotential wieder gegeben. Häufig verwende ich in meinen Stücken sehr kleine Lichtquellen, wie Taschenlampen, deren Musikalität dann im dynamischen Prozess der Differenzierung zum Vorschein kommt. Auch die unter der Decke hängenden Moving-Lights erhalten so ihre Legitimation im Raum. Am Ende geht es darum, den Raum als eigentliches Geheimnis und eigentliches Instrument zu komponieren. Nicht um schöne Melodien, einzelne Sätze oder Inhalte.
»In einem solchen historisch-rekonstruierten Raum hatte ich sofort den Einfall, ein Stück wie »Abstract Pieces«, mit seiner technischen Disposition zu machen.«
Wie hast du den Raum der Neuen Werkstatt (der alte Orchesterprobensaal) erlebt, als Du ihn zum ersten Mal betreten hast?
Vor fast zehn Jahren haben wir in diesem Raum für mein letztes Stück an der Staatsoper Unter den Linden »Batsheba. Eat the History!« geprobt. Damals hatte er noch einen anderen Charakter, was wohl an seinem etwas abgerockten Zustand lag. Als ich ihn letztes Jahr wieder betrat, begegnete mir erstmal dieses Sanierungsphänomen der neu gestalteten Oberflächen, das nicht nur die Staatsoper sondern alle sanierten historischen Gebäude betrifft, wie zum Beispiel auch das Berliner Stadtschloss.
In einem solchen historisch-rekonstruierten Raum hatte ich sofort den Einfall, ein Stück wie »Abstract Pieces«, mit seiner technischen Disposition zu machen. Wie kann man hier eine Theatermaschine, die auch das Gegenteil einer Illusionsmaschine sein kann, installieren? Diese Setzung gibt uns auch die Möglichkeit, verschiedene Schichten zu eröffnen oder zu schließen. Aus diesem Impuls wurde auch die Idee geboren, das Publikum zu teilen und an die beiden Stirnseiten zu setzen. Und im späteren Verlauf des Abends den Platz tauschen zu lassen und dasselbe Stück noch einmal zu spielen.
Die Trennung des Raumes in zwei Hemisphären hat auch mit der stückinhärenten Narration zu tun…
Ja, zusammen mit der Teilung des Publikums und der besonderen Raumdisposition entstand die Vorstellung eines aus einer Sängerin und einem Sänger bestehenden Gegensatzpaars. Wir beide haben ja anfangs viel über das Verhältnis dionysisch-apollinisch nachgedacht und kamen später auf das Thema der Trennung, beziehungsweise des sich Verlierens. Somit lag es nahe, dass wir uns dann dem Orpheus-Stoff zugewandt haben, der ja auch als Ursprungsstoff des Musiktheaters gilt.
Ausgehend von den beiden Seiten des Raumes gefiel uns dann eine Fiktion: Was wäre, wenn Orpheus sich nicht umgedreht hätte und zusammen mit Eurydike aus dem Hades gekommen wäre? Sie wären also wieder zusammengekommen. Dieses Zusammenkommen bildet aber gleichzeitig erst recht die Geschichte einer Trennung, da das geliebte imaginierte Bild des jeweils anderen der Realität nicht standhält.
Natürlich wollen wir keine herkömmliche lineare Geschichte erzählen. Es geht vielmehr um Zustände und Konstellationen im Raum. Kategorien, die miteinander in Schwingungen geraten. Wir wollten eine Grundspannung exponieren, um diese kleine »Pieces«, diese Splitter zu schreiben.
Warum ausgerechnet Orpheus?
Schon 2002 habe ich eine größere Opernarbeit »Orpheus, Zwischenspiele« gemacht und versucht, die beiden Figuren Orpheus und Eurydike voneinander zu emanzipieren. Also das patriarchale Klischee des Künstlers, Orpheus auszuspielen. Erst über die Trauer, die narzisstische Züge trägt, kommt er zu seiner Kunst und wird zum Inbegriff des antiken Dichters und Sängers. In Christoph Willibald Glucks Oper »Orfeo ed Euridice« von 1762, die für uns einen wichtigen Bezugspunkt bildet, tritt die Figur der Eurydike erstmals als emanzipierte Figur auf, die das Elysium gar nicht unbedingt verlassen möchte und mit Orpheus in Streit gerät. Diese Geschichte liest sich wie eine Vorahnung auf das, was möglicherweise an der Oberfläche geschehen würde.
Der Begriff der Trennung spielt darüber hinaus auf mehreren Ebenen in »Abstract Pieces« eine Rolle, wie hängen diese miteinander zusammen?
Der Begriff der Kommunikation, im Sinne der wörtlichen Übersetzung von communicare (»teilen, teilhaben lassen«) ist hier sehr wichtig. Als gesellschaftliche Wesen, die in einem permanenten Netz der zwischenmenschlichen Beziehungen eingesponnen sind, erleben wir doch gleichzeitig immer wieder den Zustand des Voneinander-Getrennt-Seins. Dem Anspruch der zweisamen Liebe, deren Vorlage Orpheus/Eurydike bildet, wurde über die Jahrhunderte quasi transzendentale Qualitäten zugeschrieben. Sie wurde historisch im 18. und 19. Jahrhundert zu einer Art Religionsersatz. Gleichzeitig ist unsere Vorstellung von Glück bis heute immer noch an das Finden des richtigen Partners gekoppelt, eine Suche die eigentlich nie endet. An einer Stelle tauchen auf seiner Seite Videoelemente des Wirtschaftswunders auf: Glück und Zweisamkeit sind hier mit Konsumgütern verbunden. Das dystopische Moment der Trennung ist in diesem Zusammenhang eigentlich unvermeidlich. Ebenso wie die Banalisierung dieses zweisamen Liebesglücks, die wir alle kennen. Diese Person, die ich einst so begehrt habe, langweilt mich plötzlich und wird unerträglich. Als sie sich entschließt, sich von ihm zu trennen singt sie: »I sleep with the window open, you keep the window closed« – eine völlige Banalität, die jedoch Grund oder Indikator für das Zusammenbrechen einer gesamten gemeinsamen Lebenskonzeption sein kann.
Kurz darauf hören beide für sich alleine die berühmte Liebesverlustarie auf Kopfhörern »Che farò senza Euridice?«. Obwohl ihre Liebe gerade gescheitert ist, hängen sie trotzdem jenen romantischen Bildern nach. Es ist ein ewiger Kreislauf. Auf einer Hochzeit habe ich mal den Satz gehört: »Man ist gegenseitig nur Hüter der Einsamkeit des anderen.« Das hat mir gefallen.
Die Zuschauerinnen und Zuschauer erleben also den Abend zweimal, wenngleich auch aus zwei unterschiedlichen Perspektiven: einmal folgen wir der Seite des Baritons und einmal des Mezzosoprans. Was verbirgt sich hinter dieser Idee des »Doppeltspielens«?
Die Zuschauer werden sich der Rolle als Rezipient bewusst, wenn ihre Erinnerung Präsenz gewinnt. Wir erhalten Informationen aus dem Ablauf des Stückes. Danach wechselt das Publikum die Seiten und es wird dasselbe noch einmal gespielt. Die Erinnerung des gerade erlebten Ablaufs wird somit immer gegen das gesetzt, was ich gerade sehe. Den objektiven Vorgängen auf der Bühne mische ich als Zuschauer also meine subjektive Erfahrungswelt bei, was man es als Rezipient eines Theaterabends ohnehin immer tut, allerdings ohne es zu bemerken. Dieser Prozess des Abziehens, der vielmehr ein Prozess des Addierens ist, zeigt, dass meine eigene Perspektive ein entscheidendes Moment der Theateraufführung ist. Somit kommen wir in Bezug auf unser eigenes Bewusstsein auf eine Metaebene. Hierin liegt vielleicht das eigentliche Abstraktionsmoment des Abends.
Was bedeutet die Wiederholung in der Musik?
Wenn man es von diesem Standpunkt aus betrachtet, gibt es keine Wiederholungen in der Musik, da das Bewusstsein immer mitspielt. Jede Wiederholung ist so gesehen auch eine Variation.
Für uns hat es aber keine Rolle gespielt, das Prinzip der Wiederholung zu thematisieren, wie es beispielsweise Morton Feldman getan hat oder mein Kollege Bernhard Lang heute tut. Es geht uns nicht darum, eigene semantische Räume und Welten durch konsequente Wiederholung zu kreieren. Ich habe mich stattdessen viel mit der einmaligen Wiederholung beschäftigt, die mich sehr interessiert, da man sie bereits im Barock und in der klassischen Sonatensatzform findet. In der Aufführungspraxis wurde ihre Bedeutung häufig geschmälert. Bei Aufnahmen der Sonaten von Scarlatti ging man irgendwann dazu über, die Wiederholungen wegzulassen, um Kapazitäten auf den Tonträgern zu sparen. Ich bin ein großer Freund dieser einmaligen Wiederholung, denn hierdurch werden die einzelnen Satzteile erst so recht existent.
Wie ist die besondere Architektur von »Abstract Pieces« entstanden?
Die Probensituation an einem Opernhaus hat uns die Möglichkeit gegeben, die Form des Stückes anders anzulegen. Die Partitur bildet eine Struktur aus vertauschbaren Modulen. Es gibt viele kleine Einzelstücke, die sog. »Pieces«, von denen ich etwa 40 bis 50 geschrieben habe. Diese sind sehr unterschiedlich angelegt – manche stellen individuelle und unteilbare Zellen dar, andere hingegen bilden Gelenkstellen (»Konnexe«), in denen das räumlich geteilte Ensemble für einen Moment miteinander verknüpft wird. Es gibt drei Konnexe, die jeweils durch einen aus zwei Lautsprechern erklingenden Chor eingeleitet werden. Ansonsten lässt uns die Partitur große Freiheiten in bezug auf die Form. Etwa ein Drittel des Ausgangsmaterials haben wir gestrichen.
Viele Module und Felder lassen sich verschieben, überlagern oder an gewissen Punkten verändern …
Für mich ist es aber dennoch wichtig, dass der Werkcharakter und die kompositorische Konsistenz erhalten bleiben. Zu Beginn der Proben haben wir noch aus Spaß gesagt: »Kommt wir vergessen das Stück und machen eine richtige Stückentwicklung und improvisieren mal!« Ausgehend von der weitreichenden Frage, ob es überhaupt richtig ist, Stücke in Partiturform zu schreiben.
Was denkst Du über Improvisation und wie hast du improvisatorische Momente in »Abstract Pieces« angelegt?
Mein Freund, der berühmte Schlagzeuger Jaki Liebezeit [der im Januar 2017 verstorben ist], galt als einer der ersten Free-Jazz-Schlagzeuger Europas. Irgendwann entschloss er sich jedoch, den Free Jazz zu verlassen, da es ihm zu viele Regeln und Verbote gab: diatonische Skalen waren verboten, Wiederholungen waren verboten und so weiter.
Improvisation ist nur möglich durch ein klares Reglement. Es ist wie beim Fußball: Die Freiheit des Spiels kann nur entstehen, wenn sich alle an die Regeln halten.
In »Abstract Pieces« gibt es auskomponierte Elemente, die der Musikerin oder dem Musiker gleichzeitig eine freie Pausengestaltung einräumen. Es gibt andere Stellen, an denen gewisse Fenster gelassen sind, die durch Improvisation gefüllt werden. Diese klare Rahmensetzung halte ich für äußerst wichtig, da zu viel Freiheit in der Partitur für MusikerInnen häufig große Unfreiheit bedeuten kann.
Viele Komponisten denken, dass sie ein Meisterwerk abliefern, um dann mit der Peitsche einzufordern, es richtig zu spielen. Ich begreife mich auch als Diener der MusikerInnen und möchte sie stimulieren, sodass sie Lust zum Musizieren bekommen. Auf fast romantische Art und Weise glaube ich an das kreative Potenzial des Einzelnen und es wäre schade, wenn man sich dieses nicht zunutze machen würde.
»Das Ergebnis muss mehr sein als die Summe seiner Einzelteile.«
Wie stellst Du dieses Verhältnis von Freiheit und genauen Vorgaben her?
Das hat mit den Raumbedingungen zu tun. Durch die musikalischen Vorgänge versuchen wir, den Raum aufzuladen, beziehungsweise ihn im besten Sinne auch zu überschreiten. Es gibt neben den vertikal strukturierten Konnex-Ensemblestellen auch sogenannte »Bäuche«, welche das Material gewissermaßen bündeln und zu einem solchen Punkt hinzuführen. Wenn man zu einer instrumental reduzierten Stelle nach und nach die beiden Klaviere hinzu schaltet, baut sich eine Komplexität auf, die natürlich nichts mit der New Complexity von Brian Ferneyhough zu tun hat, sondern eher mit der Komplexität der Barockmusik verwandt ist. Meinen Studierenden gegenüber vergleiche ich das Komponieren häufig mit dem Kochen. Man muss zum richtigen Zeitpunkt die richtigen Ingredienzien hinzugeben, die jedoch auch gutes Material, also »frisch« sein müssen. Auch wenn man alles nach Rezept richtig macht, kann es misslingen, es braucht eine gewisse Vorstellungskraft.
»Für das Kochen wie für das Komponieren gilt: Das Ergebnis muss mehr sein als die Summe seiner Einzelteile.«
Wie würdest Du das Verhältnis von Form und Inhalt im Kontext Deines Musiktheaters beschreiben?
Ich sehe als Musiker fast nur Formen. Wenn man einen Stein zerschlägt, um herauszufinden, was der Inhalt dieses Steins ist, wird man immer nur neue Steine finden. Diese Formen halten etwas von innen zusammen. Man darf sie sich nicht als Gefäß vorstellen, in die etwas eingefüllt wird. Stattdessen geht es um einen inneren Zusammenhang, der selbst Inhalt stiftet. Ich fühle mich unwohl, wenn nicht verschiedene Deutungsmöglichkeiten möglich sind, oder Widersprüche zwischen narrativen Strängen und Behauptungen nicht ausgehalten werden können.
Neben Stimme, Klang und Licht kommt auch dem Video eine zentrale Rolle in der Partitur zu. Wie wird es eingesetzt?
Es war relativ früh klar, dass es Video geben würde. Allerdings interessierte es mich, dieses Medium ins Verhältnis zum Körper und den instrumentalen Vorgängen zu setzen. Es wird also möglich, mit dem Video einen Dialog zu führen. Das Spiel mit diesen Zuordnungen, Systemen und Ebenen gehört zum Stück. Die Bedingungen der Aufführung werden immer auch mit komponiert. Das Video ist zwar in der Partitur komponiert, aber ich vertraue natürlich in der Zusammenarbeit mit der Videokünstlerin Nastasja Keller darauf, dass sie mit diesen Hinweisen dann weiterarbeitet, dass sie in einen eigenen kreativen Prozess kommt, auf den ich dann wieder reagieren kann. Wir können heute von keiner Form ausgehen, die bedingungslos akzeptiert wird, sondern die Voraussetzungen müssen immer wieder neu erforscht und kombiniert werden.
Wie kam es zu der Auswahl der Instrumente und den unterschiedlichen Klangmaterialen?
Die symmetrische Anlage des Raumes hat auch eine symmetrische Anlage der Instrumente inspiriert. Dies zeigt sich natürlich vor allem in den beiden diagonal einander gegenübergestellten Flügeln, die eine permanente klangliche Korrespondenz erzeugt. Es entsteht ein ständiges Gespräch zwischen den beiden Seiten. Dann sollte es auf der dionysischen ER-Seite natürlich ein Blasinstrument geben, inspiriert von der Aulos des Dionysos, sowie ein apollinisches Saiten- Streichinstrument auf der SIE-Seite. So fiel die Wahl auf Bassklarinette und Viola. Wenngleich ich selbst Schlagzeuger bin, habe ich selten soviel Schlagzeug verwendet wie in diesem Stück. Die eingespielten Geräuschklänge, deren Spektrum Knacksen, metallisches Klirren und Flageoletts umfasst, erzeugt eine ständige Atmosphäre der Gefährdung im Raum.
Außerdem liebe ich heterogene Dispositionen und mag es nicht, wenn etwas zu homogen oder konventionell daherkommt. Mit den Materialien, die sich hier auf Deinem Schreibtisch befinden, eine Tasse, ein paar Papierbögen, ein Lautsprecher, ein Computermonitor, könnte ich sofort ein Stück komponieren. Ein Stück mit Materialien des Alltags zu kreieren, das wiederum eine Werkhaftigkeit beansprucht und eine eigene Physiognomie entfaltet, finde ich viel reizvoller, als nur für Violine oder Stimme zu schreiben.