In der Spirale der Gewalt – Puccinis »La fanciulla del West«
Puccinis »La fanciulla del West« hat im Juni 2021 in der Inszenierung von Lydia Steier Premiere gefeiert, die mit dieser Produktion ihr Debüt an der Staatsoper Unter den Linden gegeben hat. Lydia Steier ist hier im Gespräch mit Benjamin Wäntig über die »Wild West«-Oper, die in Kalifornien zu Zeiten des Goldrauschs spielt.
Benjamin Wäntig: Wie »Madama Butterfly« und »Turandot« spielt auch »La fanciulla del West« an einem für Opernverhältnisse exotischen Ort: in einem Goldgräberlager im Kalifornien des Goldrausches, einem Ort ohne stabile Strukturen und Gesetze. Wie würdest du die Gesellschaft charakterisieren, die an diesem Ort lebt?
Lydia Steier: Es ist eine Gesellschaft, die weniger von sozialen Normen zusammengehalten wird, denn die befinden sich gerade erst im Aufbau. Sie funktioniert eher, solange sich jeder nur um sich selbst kümmert und Kontakte zu anderen vermeidet. Wir sehen einige »einsame Wölfe«, vor allem Sheriff Rance, aber auch manche der Goldgräber. Wenn es durch Interaktionen zu Regelverletzungen kommt, gibt es kein System, das diese Verstöße in einem reglementierten Verfahren ahndet. Wenn man stattdessen jemanden falsch anschaut oder beim Kartenspielen betrügt, könnte es sein, dass man im nächsten Moment gehängt wird. Solch ein System scheint unserer heutigen Gesellschaft erstmal sehr fremd.
BW: Das Stück selbst, aber auch deine Inszenierung führen eindringlich vor, wie nahe sich Freundlichkeit, Höflichkeit einerseits und Gewalt andererseits sein können. Ist das ein eher historisches Phänomen oder siehst du darin Verweise auf moderne Gesellschaften?
Lydia Steier: Das amerikanische Streben nach individueller Freiheit hat dazu geführt, dass ohne einen Gesellschaftsvertrag das Gemeinwesen kaum zusammenhält
LS: Ich stamme aus dem Nordwesten der USA, wo man sich für relativ europäisch geprägt hält, habe aber auch einige Zeit in Montgomery, Alabama, verbracht, wo gesellschaftlich andere Regeln gelten. Es gibt dort keine Vereine oder Clubs, wo Menschen zusammenkommen, die Kirche ist der einzige Ort gesellschaftlichen Miteinanders. Viele Menschen sind abgesehen von ihren familiären Bindungen sehr isoliert. Ich als weiße Frau bin in dieser Gesellschaft gut klargekommen und habe mir immer gedacht, wie höflich und nett die Leute sind und dass sie stets »God bless you« sagen. Aber die Leute können kaum über den Tellerrand schauen. Als jemand mit anderer Hautfarbe oder sexueller Orientierung als die Mehrheit wäre es mir dort nicht so gut ergangen.
Das amerikanische Streben nach individueller Freiheit hat dazu geführt, dass ohne einen Gesellschaftsvertrag das Gemeinwesen kaum zusammenhält. Das begünstigt, dass einige Menschen heutzutage den Staat und die Justiz nicht mehr anerkennen und in ihrem Misstrauen eigene Wertmaßstäbe höherhängen. Und das führt letztendlich zu Gewalt, wenn Leute ihren Überzeugungen Ausdruck verleihen in dem Glauben, dass alle anderen im Unrecht sind. Das bezieht sich nicht nur auf die bekannte heutige Situation in den USA; erst vor wenigen Tagen hat sich das Massaker von Tulsa, Oklahoma, zum 100. Mal gejährt, wo es nach einer angeblichen Vergewaltigung eines weißen Mädchens durch einen schwarzen Mann zu Ausschreitungen und Lynchmorden kam.
BW: Dahinter steht derselbe Mechanismus wie in »La fanciulla del West«?
Lydia Steier: Die Schicht von Kultiviertheit, die uns von dem Ausbrechen von Gewalt trennt, ist trügerisch und nur sehr dünn
LS: In der Gesellschaft von »La fanciulla« können wir sehen, wie stark in Kontrasten von Schwarz-Weiß, Gut-Böse, Sheriff-Bandit gedacht wird, wie gleichzeitig diese Zuweisung aber auch sehr subjektiv ist, und das ist gefährlich. Insofern hat sich die Gesellschaft seit den Zeiten von »La fanciulla« letztlich nicht wesentlich weiterentwickelt: Die Schicht von Kultiviertheit, die uns von dem Ausbrechen von Gewalt trennt, ist trügerisch und nur sehr dünn.
BW: Wie hast du dich »La fanciulla« mit diesen Gedanken im Hintergrund angenähert? Puccinis Realismus und seine überbordenden Regieanweisungen geben ja viel vor …
LS: Das stimmt, damit muss man umgehen wollen, denn an dem Stil szenischer Darstellung, den Puccini im Sinn hatte, kommt man nicht vorbei. In einer Zeit, in der Regie quasi nicht existierte, ist es ja genial, wie Puccini seinen Darsteller:innen durch die vielen Details in seinen Stücken eine Inszenierung quasi aufzwingt. Auf Englisch würde man das als »director-proof« bezeichnen. Das betrifft die Solist:innen wie auch den Chor, der bei seinen Auftritten in den Wimmelbildern des ersten und dritten Akts viele kleine und feine Aktion und Reaktionen auszuführen hat. Ich habe bereits »Butterfly« und »Turandot« inszeniert, aber ich muss sagen, dass »La fanciulla« szenisch tatsächlich noch mehr Aktionen in kurzer Zeit vorgibt. Die Oper bietet, rein von der Aktionsdichte her betrachtet, nur wenig Raum für eigene Interpretationen, um sie aus einer heutigen Sicht zu befragen.
BW: Inwiefern konntest du trotzdem eingreifen?
LS: Zunächst habe ich versucht, die Ecken und Kanten des Stücks zu schärfen, etwa in Bezug auf den erwähnten Dualismus von Kultiviertheit und Gewalt. Im ersten Akt sehen wir bereits, wie die Situation mehrfach kurz kippt; im dritten Akt aber steigert sich die Jagd auf Johnson, eigentlich als eine Art Mauerschau gestaltet, in einen wahren Blutrausch, eine Orgie der Gewalt auf der Bühne.
Lydia Steier: Ein Traumbild, das sich in einer langen Rezeptionsgeschichte gebildet hat
Dann auf der ästhetischen Ebene: David Zinn und ich wollten keine historische Rekonstruktion des Wilden Westens auf die Bühne bringen, sondern vielmehr einen Traum davon. Ein Traumbild, das sich in einer langen Rezeptionsgeschichte gebildet hat. Hierzulande hat Karl May, im Übrigen nur kurz vor Puccini, ein idealisiertes, romantisiertes Bild vom Wilden Westen entworfen; in den USA prägt das Genre des Westerns die kollektive Vorstellung. Die Goldgräber der Oper hängen genauso einem Traumbild nach: Sie haben auf der Suche nach ein bisschen Glück und Reichtum ihre Heimat verlassen und sind aus allen möglichen Ländern nach Kalifornien gekommen, wo allerdings ihre Träume an der Realität zerbrechen. Genau dasselbe passiert auch mit Davids Bühnenbild.
Daneben haben uns auch etwa David Lynch oder die Serie »Breaking Bad« inspiriert. Letztere vor allem für einen Kniff, um mit den indigenen Figuren Billy Jackrabbit und Wowkle umzugehen. Ihre Darstellung durch Äußerungen mit grauslich falscher italienischer Grammatik und »Ugh«-Rufen kann man heute nur als rassistisch bezeichnen und daher nicht so bedienen. Daher werden sie bei uns zu einem Paar Heroinsüchtiger, die kaum mehr richtig sprechen können, weil sie so high sind.
BW: Daneben hast du auch eine Rolle hinzugefügt, die von Wowkles Kind.
LS: Es gibt drei Ebenen von zusätzlichen Charakteren, die die Inszenierung durchziehen: der gehängte Mann, der u. a. am Anfang der Inszenierung steht, die tanzenden Cowboys als brechendes, überzeichnendes Element und das Kind, das das ganze Geschehen beobachtet. Die Zuschauer:innen sehen die Oper gewissermaßen durch die Augen des Kindes. Es bleibt aber kein passiver Beobachter, sondern muss sich an einem Punkt für oder gegen den Weg der Gewalt entscheiden. Wir sehen natürlich nicht seine komplette Entwicklung, ich würde aber pessimistischerweise kaum erwarten, dass es dieses Kind schaffen wird, die Spirale der Gewalt zu durchbrechen.
BW: All das bildet den Rahmen für eine Liebesdreiecksgeschichte von Minnie, Johnson und Rance, die auf den ersten Blick eher konventionell wirkt. Doch handelt es sich bei allen drei um Charaktere, die verschiedene, teilweise auch fast konträre Seiten haben. Das ist dem Stück häufig als Inkonsequenz negativ angelastet worden. Wie siehst du die Zeichnung der Protagonisten?
Lydia Steier: Wenn alle ihre moralischen Fehler haben, dann gibt es keine nur guten oder bösen Charaktere in diesem Stück
LS: Keine anderen Puccini-Figuren, die ja meist wie z. B. Butterfly sehr klar und präzise gezeichnet sind, reichen an die Widersprüchlichkeiten von Johnson, Rance und Minnie heran. Gerade Minnie verkörpert nicht nur ein Klischeebild einer operntypischen Femme fatale oder Femme fragile, sie vereint verschiedene Charakterzüge: Sie ist ganz naiv auf der Suche nach der großen Liebe, hat gegenüber dem bewunderten Johnson zunächst fast eine Art Minderwertigkeitskomplex. Trotzdem lebt sie selbstbestimmt und bewacht furchtlos die Ersparnisse der Goldgräber. Sie fungiert als deren große Schwester. Sie hat keine große Bildung, spricht aber in der Pokerszene mit Rance im Finale des zweiten Aktes die treffendste Beschreibung der Gemeinschaft aus: »Sprechen wir beide Klartext … und bringen es zu Ende! Wer seid Ihr, Jack Rance? Ein Spielsüchtiger. Und Johnson? Ein Bandit. Ich? Wirtin einer Spelunke und Spielhölle, lebe von Whiskey und vom Gold. Wir sind alle gleich! Wir sind alle Banditen und Betrüger!«
Sie bringt es damit auf den Punkt: Wenn alle ihre moralischen Fehler haben, dann gibt es keine nur guten oder bösen Charaktere in diesem Stück. Auch nicht Sheriff Rance, erst recht nicht in der vielschichtigen Darstellung von Michael Volle. Alle drei Protagonisten sind komplexe Charaktere, wie ich sie in dieser Kombination aus keiner anderen Oper kenne. Ich bin froh, dass wir mit Anja Kampe, Marcelo Álvarez und Michael Volle drei Sängerdarsteller haben, die neben ihren musikalisch unglaublich anspruchsvollen Partien diese Komplexität und Zerrissenheit der Figuren durch ihre enttäuschten Wünsche und Begierden hervorragend umsetzen können – und sich daneben auch noch merken, welche der zahlreichen Requisiten sie als nächstes bespielen müssen.
BW: Noch ein Wort zum Schluss, der ja für Puccini untypischerweise keine tragische Sterbeszene bereithält. Trotzdem kann man aber nicht von einem richtigen Happy End sprechen, oder?
LS: Zwar entkommen Minnie und Johnson, vordergründig scheint ihre Liebe zu siegen. Aber in den letzten Momenten der Oper richtet sich der Fokus auf die anderen, die dableiben und wie in einem Gefängnis nicht ausbrechen können. Mit Minnie verschwindet diejenige Instanz, die bislang immer mildernd und ausgleichend gewirkt hat. Vielleicht schwindet mit ihr ja der letzte Zusammenhalt dieser Gemeinschaft. Es scheint ebenfalls kaum vorstellbar, dass alle nach der beispiellosen Gewalteskalation zuvor, für die Minnies Weggang auch wie eine Art Bestrafung wirkt, nun wieder in ihren Alltag zurückfinden können.
BW: Es liegt ja auch etwas Tragisches darin, dass mit Minnie und Johnson die einzigen gebürtigen Kalifornier inmitten eines Haufens von Heimatlosen nun auch ihre Heimat verlieren, also das Schicksal von allen anderen teilen.
LS: Ich würde mir wünschen, dass sich die Zuschauer:innen in diesen letzten Momenten fragen, zu welcher Seite sie gehören würden: zu denen, die eine Chance auf einen Neubeginn verdient haben, oder zu denen, die im System gefangen bleiben?