»LAYAL«: Die Uraufführung eines Nocturnes

Neben zwei Klassikern der Moderne in Frankreich, Debussys »Prélude à l’Après-midi d’un faune« und Strawinskys »Petruschka«, führt das Abonnementkonzert VII zu einem der jüngeren und höchst erfolgreichen Exponenten der zeitgenössischen französischen Musik: zu Benjamin Attahir und der Uraufführung seines Violinkonzerts »Layal«.

Der Komponist wurde 1989 in Toulouse geboren, erlernte zunächst das Geigenspiel, begeisterte sich aber auch schon früh für das Komponieren. Zu seinen Lehrer:innen zählen Édith Canat de Chizy, Marc-André Dalbavie, Gérard Pesson und Pierre Boulez. Nach wie vor tritt er, von Ami Flammer ausgebildet, daneben auch als Violinist auf und spielt in Formationen wie dem Jersey Chamber Orchestra oder dem LSO SoundHub auf. Seine Werke, vielfach, ausgezeichnet, wurden von vielen klassischen französischen Orchestern und dem Ensemble Intercontemporain zur Aufführung gebracht. Seine Oper »Le Silence des ombres« nach Maurice Maeterlinck erlebte ihre Uraufführung 2019 im Königlich-Flämischen Schauspielhaus in Brüssel (in einer Produktion des Opernhauses La Monnaie). Einige seiner Werke wie etwa das Klavierkonzert »Al Fajr« waren auch bereits in Berlin, nämlich in verschiedenen Konzerten im Pierre Boulez Saal unter der Leitung von Daniel Barenboim, zu hören.

Benjamin Attahir & Renaud Capuçons künstlerische Zusammenarbeit

(c) Simon Fowler
(c) Simon Fowler

Auch mit Renaud Capuçon, dem Solisten der Uraufführung von »Layal«, verbindet Attahir eine längere künstlerische Zusammenarbeit. Seit einem gemeinsamen Aufenthalt in der Villa Medici in Rom (dem französischen Pendant zum deutschen Stipendienprogramm in der Villa Massimo) 2017 verfasste Attahir eine ganze Reihe von Werken für den berühmten Violinisten: angefangen vom Solostück »Swimming is not saving«, über »Istiraha« für Violine und Klavier, »La Femme fendue« für Violine und Rezitation, das Doppelkonzert »Je / suis / Ju / dith« für Sopran, Violine und Orchester, uraufgeführt von Renaud Capuçon, Raquel Camarinha und dem Orchestre national du Capitole du Toulouse, bis zu »Insinuarsi« für Violine, Viola und Kammerorchester. Alle diese Stücke hat Renaud Capuçon selbst zur Uraufführung gebracht. Neben diesen konzertanten Werken für sein eigenes Instrument, die Violine, hat Attahir auch zwei Klavierkonzerte, ein Cellokonzert sowie als Rarität ein Konzert für Serpent (ein historisches Blechblasinstrument aus der Familie der Zinken) und Orchester verfasst. Diese Reihe von konzertanten Kompositionen setzt der Komponist nun mit der Uraufführung seines Violinkonzerts fort, die ursprünglich schon für 2020 geplant war, aber pandemiebedingt verschoben werden musste.

»Layal« – indirekte Hommage an den großen Geiger Isaac Stern

Wie in vielen von Attahirs Werken verbinden sich in »Layal« europäische und arabische Einflüsse und Traditionen. Offensichtlich wird das schon am Titel, der im Arabischen (layāl / ليال) »Nächte« bedeutet (und im Übrigen mit dem davon abgeleiteten Namen Leila zusammenhängt). Dieser Titel nimmt – worauf der Komponist hinweist – nicht nur Bezug auf die Grundstimmung des Stücks, die man mit der Gattung des Nachtstücks/Nocturne vergleichen könnte, sondern stellt auch eine indirekte Hommage an den großen Geiger Isaac Stern dar. Der hätte 2020 seinen 100. Geburtstag gefeiert und hat Attahir wie Capuçon geprägt– nicht zuletzt spielt Renaud Capuçon auf der Guarneri-Violine »Panette«, die einst Stern gehörte.

Anders als die bisherigen konzertanten Kompositionen Attahirs, die aus der Tradition des Instrumentalkonzerts mit einem das musikalische Geschehen beherrschenden Solisten im Zentrum entsprungen sind, basiert »Layal« auf dem Modell der konzertanten Sinfonie. Dabei bezieht sich der Komponist weniger auf den Begriff der Sinfonia concertante aus der Wiener Klassik, der ein Instrumentalkonzert für mehrere Solo-Instrumente – im Falle Mozarts etwa Violine und Viola – meint, sondern auf den Weg, den etwa Hector Berlioz mit seinem »Harold en Italie« verfolgte: eine Sinfonie mit einem Soloinstrument, hier eine Bratsche, das zwar formal eine herausgehobene Rolle spielt, aber weniger durch Kadenzen und andere Demonstrationen von Virtuosität glänzt. Eine ähnliche Rolle kommt der Violine in »Layal« zu: Bisweilen führt sie das Geschehen an, manchmal folgt sie dem Orchesterklang oder solistischen Interventionen anderer Instrumente – oder sie bleibt mit ganz eigenem Material auf einer kommentierenden Ebene quasi außerhalb des Orchesters.

Ganz am Anfang (…) steht die Violine allein mit einer sonoren, sich zart aufschwingenden Melodie. Erst nach und nach erwachen die anderen Instrumentengruppen

Ganz am Anfang des ungefähr halbstündigen Stücks steht die Violine allein mit einer sonoren, sich zart aufschwingenden Melodie. Erst nach und nach erwachen die anderen Instrumentengruppen, zunächst Percussion und Klavier, dann Kontrabässe und Tuba, schließlich weitere Holz- und Blechbläser, wobei zunächst eher dunkle Klangfarben vorherrschen. Zur »arabischen« Seite der Partitur gehört zum einen der häufige Einsatz übermäßiger Intervalle, etwa der übermäßigen Sekunde im Anfangsthema der Violine, oder auch von Halbtonschritten, die im Prinzip alle Melodien des Stücks durchziehen. Auch die arabeskenhaften Figurationen über mehrere Saiten hinweg, in die sich die Violine nach wenigen Takten ergeht, erinnern an diese Klangsphäre. Doch am meisten ist es das Prinzip der Monodie, das an orientalische Musikmodelle erinnert: Es ist zumeist eine Melodie vorherrschend; etwaige Gegenstimmen haben eher eine ornamentale als kontrapunktische Funktion oder verstärken als Ostinati die ausgeprägte rhythmische Ebene. Dies sorgt für eine Durchsichtigkeit der Partitur und ihrer Klangfarben selbst an bewegteren Tutti-Stellen.

Nach dem verhaltenen Beginn schließt sich eine Passage im tänzerischen 9/8- und 12/8-Takt an, deren Vehemenz sich immer weiter steigert, bis die Melodie, die hier zwischen Soloinstrument und verschiedenen Orchestergruppen hin- und herwandert, in immer kürzere Fragmente zerbröselt. Dann hebt ein neuer Abschnitt mit einer weit gespannten Melodie an, die im Unisono von Solo-Violine, Klavier, Glockenspiel und Vibraphon angestimmt wird. Hier wie an vielen weiteren Stellen sorgt diese Instrumentenkombination (häufig erweitert durch die Harfe) für eine schwebende, gleichsam entrückte Klanglichkeit. Nach Entwicklungen durch abrupte Beschleunigungen kehrt dieser ätherische Teil mehrmals wieder.

Im weiteren Verlauf der Komposition beanspruchen weitere Instrumente die Führung, machen dem Solo-Instrument gewissermaßen den Rang streitig: Erst handelt es sich um zwei Solo-Violinen aus dem Orchester, später um zwei Solo-Bratschen, die die Solo-Violine bereitwillig mit pizzicati begleitet. Schließlich verstummt die Solo-Violine während eines veritablen Fugato-Orchesterzwischenspiels gänzlich, um sich anschließend umso vehementer mit Doppelgriffen in Oktaven wieder zu Wort zu melden.

Gegen Ende beruhigt sich die erregte Atmosphäre in einem Duett der Solo-Violine mit einem Cello über einem bewegten Streicherteppich und gleichsam glitzernden Akzenten von Klavier und Harfe. Schließlich sinkt die Musik in die tiefen Klangregionen des Anfangs zurück, wenn das tiefe gis der Solo-Violine fast einsam verklingt, lediglich grundiert von den verbliebenen tiefen Hörnern und Kontrabässen.

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