Hörtipps Alban Berg

Auf einen Kaffee mit der Dramaturgie

Heute startet der Alban-Berg-Zyklus. Grund genug für Detlef Giese, sich unserem »Berg-Fest« ausführlich zu widmen.

Lieber Leser, weißt Du, was ein Berg-Fest ist? Zugegeben, bei dieser zweifelsohne relevanten Frage habe ich mich von einem Autor anregen lassen, der in der Welt der Oper eine eher untergeordnete Rolle spielt. Es war nämlich Karl May, der seine »Winnetou«-Trilogie mit dem Satz einleitete: Lieber Leser, weißt Du, was ein Greenhorn ist? Um daraufhin die Geschichte von Old Shatterhand zu erzählen, der bekanntlich alsbald der Blutsbruder des Häuptlings der Apachen sein wird – so wie weiland Siegfried und Gunther in Wagners »Götterdämmerung«, aber das nur am Rande. Die Frage aber bleibt: Lieber Leser (und die liebe Leserin möge sich hier selbstredend mit eingeschlossen fühlen), weißt Du, was ein Berg-Fest ist?

Dieser Begriff – und auch eine mögliche Deutung – ist mir zum ersten Mal nicht im Wilden Westen, sondern im Stillen Osten begegnet, in den Achtzigern in einem über eine Zeitspanne von zwei Wochen anberaumten Kinderferienlager. Am Ende der ersten Woche wurde dort zu einem sogenannten »Berg-Fest« eingeladen. Ein wenig gerätselt habe ich schon, was es wohl damit auf sich hat, zeichnet sich doch meine schöne vorpommersche Heimat nicht gerade durch allzu hohe Erhebungen, geschweige denn durch regelrechte Gebirge aus. Ein Hügelchen von 20 Meter über dem Meeresspiegel wurde in einer hiesigen Karte sogar als »Hoher Berg« ausgewiesen, sehr zur Erheiterung unserer Gäste aus dem Süden, wobei diese Gefilde damals lediglich bis zum Thüringer Wald und dem Erzgebirge reichten. Dabei kann ein derart »Hoher Berg« inmitten einer Landschaft, bei der man am Mittwoch schon sieht, wer am Samstag (oder Sonnabend, wie man dato sagte) zu Besuch kommt, durchaus ein markantes Etwas sein, gleichsam eine Trutzburg des Himmelsstrebenden gegenüber den niederdrückenden Gravitationskräften der Ebene. Aber vielleicht war die Sache ja doch viel einfacher – und in der Tat schien es so zu sein, als ein Betreuer auf die immer etwas unfroh wirkende lapidare Art der Leute aus der Region meiner naiven Frage zur Antwort gab, was ein Berg-Fest denn nun sei: »Hälfte is rum!« Aha, das besitzt eine gewisse Logik, dachte ich bei mir (heute würde man sagen: Das macht Sinn), erinnerte ich mich doch des gedankentiefen Friedrich-Rückert-Gedichtes »Mit vierzig Jahren ist der Berg erstiegen«, kongenial vertont vom guten Johannes Brahms. Die Lebenszeit ist damit gemeint, wodurch das Ganze eine gerade existenzielle Dimension gewann, wie es schon in der Heiligen Schrift eindringlich artikuliert worden ist: »Unser Leben währet siebzig Jahr, und wenn’s hoch kömmt, so sind’s achtzig« (Psalm 90, Vers 10). Spätestens mit vierzig Jahren wäre dann in der Tat der Berg erstiegen, von dessen Gipfel es nurmehr abwärts führt.

Mit Bedacht haben wir im Schiller Theater darauf verzichtet, ein Berg-Fest zu feiern – wir hätten auch gar nicht gewusst, wann. Hinter uns werden wir es wohl haben, so können wir mit Recht hoffen. Darum aber soll es hier gar nicht gehen, sondern um ein Berg-Fest in einem anderen, sehr viel direkteren Sinne. Man mag es platt nennen – wenn auch nicht so platt wie das schöne Vorpommern –, den offenbar bedeutungsvollen Begriff des Berg-Festes mit einem Personennamen kurzzuschließen. Gleichwohl, Wortspiele leben von einem bewussten In-der-Schwebe-Lassen, von Doppeldeutigkeiten und Hintergedanken. So auch im Falle unseres Berg-Festes im März: ein Fest für Alban, dem Expressiven unter den Modernen.

Alban – eigentlich ja noch viel wohlklingender Albano Maria Johannes – Berg ist ein Phänomen in der Musikwelt. Allzu viel hat er gar nicht komponiert, sein Werkverzeichnis passt locker auf die Doppelseite eines gewöhnlichen Buches. Was sich allerdings darunter befindet, ist von exorbitanter Qualität, ob er nun für die Bühne schrieb, für den großen Konzertsaal oder für den kleineren Rahmen. Hörend kann man sich in diese außergewöhnliche Musik hineinvertiefen, wozu ich gerne Folgendes empfehlen möchte.

Die beiden so verschiedenen Opern, »Wozzeck« und »Lulu«, liegen in einer Reihe von Tonaufnahmen vor, die sowohl sängerisch als auch orchestral sehr sorgfältig gearbeitet sind. Einige Dirigenten, die sich in Sachen Berg sehr verdient gemacht haben, seien genannt. Zunächst einmal natürlich Pierre Boulez, der sich den Berg’schen Opern mit den Kräften der Pariser Opéra gewidmet hat, dem »Wozzeck« bereits 1966 mit den ganz hervorragenden Protagonisten Walter Berry (der einen gleichermaßen beängstigten wie beängstigenden Wozzeck singt) und der ausdrucksstarken Isabel Strauss, der »Lulu« 1979 mit Teresa Stratas in der Titelpartie und Franz Mazura als Dr. Schön. Diese Einspielung enthält übrigens die von Friedrich Cerha ergänzte dreiaktige Fassung des Werkes, die Boulez in dem erwähnten Jahr zur Uraufführung gebracht hat, während sich die meisten anderen »Lulu«-Aufnahmen auf die von Berg komponierte Musik beschränken. Vor Boulez war es Karl Böhm, der Bergs Opern eingespielt hat, den »Wozzeck« ebenfalls schon in den Sechzigern mit Dietrich Fischer-Dieskau, Evelyn Lear und scharf profilierten Charakterdarstellern wie Gerhard Stolze als Hauptmann, Karl Christian Kohn als Doktor, Helmut Melchert als Tambourmajor und Fritz Wunderlich als Andres – sängerisch auf absolut hohem Niveau. Böhms »Lulu«, ebenfalls mit Evelyn Lear und Dietrich Fischer-Dieskau, dazu mit Josef Greindl als Schigolch steht dagegen ein wenig im Schatten, auch weil sie als Live-Aufnahme nicht ganz die Perfektion anderer Aufnahmen erreicht.Diesbezüglich kann aber die Einspielung unter Christoph von Dohnányi punkten, der »Lulu« 1976 mit den Wiener Philharmonikern aufgenommen hat, mit einer stimmlich wie gestalterisch, in Klang wie in Worten überzeugenden Anja Silja, damals sicher eine Idealbesetzung für die Lulu. An ihrer Seite Sänger wie Walter Berry als Dr. Schön, Brigitte Fassbaender als Geschwitz und Hans Hotter als Schigolch.

Drei Jahre später hat Dohnányi dann auch den »Wozzeck« aufgezeichnet, erneut mit den Wiener Philharmonikern, mit Anja Silja als Marie und dem kraftvoll-gebrochenen Eberhard Waechter in der Titelrolle. Aus den Siebzigern stammt zudem eine hochinteressante »Wozzeck«-Produktion, die der mittlerweile nur wenig bekannte Herbert Kegel mit dem Leipziger Rundfunkorchester (dem heutigen MDR Orchester) dirigiert hat. In diesem Mitschnitt von 1973 sind u. a. der große Wagner-Sänger Theo Adam mit einem intensiv gestalteten Wozzeck, der die Rolle des Hauptmanns prägnant charakterisierende Horst Hiestermann sowie der strahlkräftige Reiner Goldberg als Tambourmajor zu hören. Und natürlich möge man sich die Live-Aufnahme aus der Staatsoper Unter den Linden unter Daniel Barenboim anhören, die im Frühjahr 1994 entstand: mit einem großartigen Sängerensemble um Franz Grundheber und Waltraud Meier, mit Graham Clark, Günter von Kannen, Mark Baker und anderen. An zwei Wochenenden (vom 6. bis 8. sowie vom 13. bis 15. März) – und das ist das eigentliche »Berg-Fest« – kann man beide Opern, inszeniert von Andrea Breth, wieder im Schiller Theater sehen und hören, mit Daniel Barenboim und der Staatskapelle, komplettiert durch zwei Sonderkonzerte in der Philharmonie.

Dort werden dann, außergewöhnlich genug, alle Werke geboten, die Berg unter Einbezug des Orchesters komponiert hat: Bekanntere Stücke – wirklich populär ist Bergs Musik ja leider nie geworden – wie das Violinkonzert und die für Streichorchester arrangierten Sätze aus der »Lyrischen Suite« stehen neben eher selten zu hörenden Werken: drei Orchesterstücken op. 6, dem Kammerkonzert für Klavier und Geige mit 13 Bläsern sowie Vokalkompositionen wie den »Sieben frühen Liedern«, den »Altenberg-Liedern« und der Konzertarie »Der Wein«. Wer im Vorfeld etwas davon hören möchte, könnte beispielsweise zu den Aufnahmen von Michael Gielen greifen, aber auch zu denen von Claudio Abbado, von Ingo Metzmacher oder – was vielleicht auf den ersten Blick erstaunen mag – zu denen Herbert von Karajans, der 1972/73 die Drei Orchesterstücke und die Teile aus der »Lyrischen Suite« mit großer klanglicher Sensibilität und Nuancierungskunst eingespielt hat. Wer sich mit dem in der Tat ein wenig sperrigen Kammerkonzert beschäftigt, dem lege ich die mit höchster Transparenz erstellte Aufnahme von Pierre Boulez mit dem Pariser Ensemble InterContemporain ans Herz, mit Daniel Barenboim und Pinchas Zukerman als Solisten. Der glänzende Musiker Zukerman wird im Übrigen bei unserem Berg-Fest den Solopart im Violinkonzert übernehmen, aufgenommen haben dieses konstruktiv wie expressiv so konsequent durchgestaltete Werk so profilierte Interpreten wie Anne-Sophie Mutter (gemeinsam mit James Levine), Itzhak Perlman (mit Seiji Ozawa) sowie – und damit schließt sich der Kreis – Zukerman selbst mit Pierre Boulez und dem London Symphony Orchestra. Nicht von ungefähr wird es das Violinkonzert, Bergs letzte vollendete Komposition, sein, die am frühen Abend des 15. März das Berg-Fest der Staatsoper beschließt.

Ob Alban Berg Karl May kannte und schätzte, ist unklar. Wohl aber, dass der »Winnetou«-Autor eine gewisse Affinität zur Musik besaß. Als sein Romanheld zu Tode kommt, lässt er an seinem Sterbeplatz von einer Gruppe deutscher Siedler ein »Ave Maria« singen, beginnend mit den einprägsamen Worten »Es will das Licht des Tages scheiden« – die Noten dazu sind übrigens dem dickleibigen Band von »Winnetou III« beigegeben. Und dann gibt es noch eine denkwürdige Szene in einem dieser sattfarbenen Karl-May-Filme, die ab und an im Fernsehen liefen, sogar schon in den Achtzigern: In »Der Ölprinz« von 1965 spielt der große Komiker Heinz Erhardt eine Gestalt namens Kantor Hampel, der es sich in den Kopf gesetzt hat, eine Winnetou-Oper zu schreiben. Der Dialog mit einem zwar gutwilligen und Hampels ambitionierter Idee prinzipiell aufgeschlossenen, aber recht unbedarften Wild-Westlers ist kurz, aber ganz wunderbar: »Ist Winnetou Tenor? – Nein, Indianer.« Und dann erscheint der Held, folgt man dem entworfenen Szenario, auf einer lichten Anhöhe, von Glanz umstrahlt wie einst Lohengrin, um eine große Arie zu singen. Aber in welchem Stil? In dem von Mozart oder Wagner oder vielleicht sogar in dem von Alban Berg? Manche Fragen müssen eben offen bleiben. Dafür aber, lieber Leser und liebe Leserin, weißt Du jetzt ganz bestimmt, was ein Berg-Fest ist.

Bis zum nächsten Mal
Euer Detlef Giese

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