Alban Berg – Chronik eines Lebens IV
Anlässlich des 130. Geburtstages von Alban Berg widmet sich Dramaturg Roman Reeger in einer vierteiligen Chronik dem Leben und Werk des Komponisten. Der vierte und letzte Teil reicht von der Uraufführung seiner Oper »Wozzeck« an der Berliner Staatsoper Unter den Linden bis zu seinem Tod am 24. Dezember 1935.
Die Uraufführung des »Wozzeck«« bildet ein Zentralmoment in der Biografie Alban Bergs. Er hatte er einen Umgang mit der Atonalität gefunden, seine Klangsprache entscheidend weiterentwickelt und unterschiedlichste Tendenzen seines Komponierens in diesem ersten Bühnenwerk zusammengefasst. Mit Blick auf das Gesamtoeuvre stellt »Wozzeck« eine Zäsur in der Entwicklung Bergs dar, denn in Bezug auf die Grundparameter seines Komponierens sollte sich sein Stil nach dieser Oper noch einmal entscheidend verändern.
Den Grundstein für diesen fundamentalen Einschnitt bildet das 1925 vollendete Kammerkonzert für Klavier, Geige und 13 Bläser, welches Adorno als »Archetypus, alles dessen, was er danach schrieb« bezeichnete. Erstmals verzichtet Berg auf eine Opuszahl. Der Kompositionsauftrag kam von Schönberg und Berg mochte gespürt haben, dass nach der Komposition des »Wozzeck« der große Druck der Erwartungshaltung auf ihm lastete und berichtete 1923 von der »Nervosität vor Beginn einer neuen Arbeit«, zumal sein ehemaliger Lehrer die Idee zunächst kritisierte. Tatsächlich hatte Berg zuvor häufiger vom Plan eines Klavierkonzertes gesprochen. Als er sich schließlich doch überraschend für eine Kammerbesetzung entschied, wollte »dieser Klavierkonzertidee wenigstens insofern Rechnung tragen, als daß [er] […] das Klavier heranzog«. Etwa zweieinhalb Jahre sollte die Komposition in Anspruch nehmen, die Berg nicht zuletzt aufgrund der bevorstehenden Uraufführung des »Wozzeck« immer wieder unterbrechen musste. »Die Komposition dieses Konzerts, das ich Dir zu Deinem fünfzigsten Geburtstag gewidmet habe, ist erst heute, an meinem vierzigsten Geburtstag, fertig geworden. Verspätet überreicht, bitte ich Dich, es dennoch freundlich entgegenzunehmen, umsomehr als es […] auch ein kleines Denkmal einer nunmehr zwanzigjährigen Freundschaft geworden ist: In einem musikalischen Motto, das dem ersten Satz vorangesetzt ist, sind die Buchstaben Deines, Anton Weberns und meines Namens, soweit dies in der Notenschrift möglich ist, in drei Themen (bezw. Motiven) festgehalten, denen eine bedeutende Rolle in der melodischen Entwicklung dieser Musik zugefallen ist.«
In diesem Brief an Schönberg erläuterte Berg nicht nur die Intention des Kammerkonzertes, sondern schickte zugleich eine Analyse sowie eine Erklärung der Formstruktur mit. Im Unterschied zu den früheren Werken, die vor allem durch Materialökonomie und Konzentriertheit bzw. Dichte geprägt sind, erscheint das Kammerkonzert in Bezug auf seine formalen Strategien sehr viel ausgedehnter, spielerischer und nicht zuletzt auch um einen Aspekt von Virtuosität erweitert. Die Struktur wird, mehr als bei vorhergehenden Kompositionen, von mathematischen Zahlenverhältnissen beherrscht. Umso konsequenter wandte sich Berg nun der von Schönberg 1923 entwickelten Zwölftontechnik zu. Das Komponieren »mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen« kann als Regelwerk verstanden werden, welches nach der Auflösung der Tonalität ein neues musikalisch-harmonisches Ordnungssystem repräsentierte und zugleich die Phase der »freien Atonalität« beendete. Diese Methode geht von der Theorie aus, dass zwölf gleichberechtigte Töne innerhalb einer Oktave eine sogenannte Zwölftonreihe bilden, die entweder in Grundgestalt, in Umkehrung, was bedeutet, dass die Intervalle beibehalten werden, die Richtung jedoch wechselt, als Krebs, also rückwärts laufend oder Umkehrung des Krebses, also wechselnde Richtung bei gleichzeitiger Rückläufigkeit der Reihe, erscheinen. Hierneben existieren noch andere Regeln und Richtlinien, welche an dieser Stelle nicht weiter ausgeführt werden, denn freilich lassen sich die dodekaphonischen Kompositionen Schönbergs, Weberns und Bergs, nicht abschließend nur mit den Gesetzen dieser Technik analysieren.
Neben dem Lied »Schließe mir die Augen beide« nach einem Gedicht von Theodor Storm, gilt die 1926 entstandene Lyrische Suite als erstes Zeugnis der Verwendung der Zwölftontechnik in einer Komposition von Alban Berg. Er widmete sie seinem Freund und früheren Mentor Alexander Zemlinsky, dessen Lyrischer Sinfonie der Titel der Streichquartettkomposition entlehnt ist. Sie gehört neben »Wozzeck« zu den berühmtesten Stücken Bergs und kann gleichsam als Zentralmoment bezeichnet werden, in welchem die Extreme aufeinandertreffen: Es findet sich kaum ein formstrengeres oder vergleichbar durchkonzipiertes und auf der anderen Seite ebenso kein leidenschaftlicheres Werk in seinem Schaffen.
Die sechs Sätze bilden Liebesgesänge, die einem Programm folgen, welches zugleich einen intimen Einblick in Bergs Seelenleben gewährt. 1925 verliebte er sich in Hanna Fuchs-Robettin, die Schwester Franz Werfels und Ehefrau des Industriellen Herbert Fuchs-Robettin. Die kurze und heftige Romanze ist durch einen 1976 wiederentdeckten Briefwechsel dokumentiert, der eine bis dato unbekannte Seite von Bergs Persönlichkeit zum Vorschein bringt, die zugleich jedoch an den schwärmerischen jungen Mann kurz nach der Jahrhundertwende erinnert. Obwohl beide ihre Liebesbeziehung vor den Ehepartner geheim hielten, ahnten sowohl Herbert Fuchs-Robettin als auch Helene Berg bald etwas von selbiger, was die Situation verkomplizierte. Schließlich kam es zum Bruch, da es Hanna ablehnte, ihren Mann und ihre beiden Kinder zu verlassen.
In der Lyrischen Suite finden sich zahlreiche Belege und Symbole, die darauf hinweisen, dass es sich hierbei mehr oder weniger um ein Stück für Hanna handelt. Insbesondere die Tonfolgen A-B und H-F, tauchen als Initialen für Alban Berg und Hanna Fuchs an zentralen Stellen des Werkes immer wieder auf. Die geheimen Zahlen 10 und 23, die Berg in einem Brief an Hanna »unsere Zahlen« nannte, bestimmen die Satzstruktur.
Neben dem Einfluss von Hanna Fuchs zeigt sich in Lyrischen Suite jene absolute Formstruktur, bei der es Berg gelingt, das klangliche Material nicht nur innerhalb der Sätze durch einen bemerkenswert fantasievollen Umgang mit der Zwölftonmethode zu ordnen, sondern klangliche Strukturelemente gleichsam jeweils von einem Satz in den nächsten zu überführen und somit zu verbinden, um eine dramaturgische Entwicklung entstehen zu lassen, die an den Opernkomponisten Berg erinnert. Zugleich gelangt Berg erstmals zu einer neuen klanglichen Sinnlichkeit, welche auch in den nachfolgenden Werken eine Rolle spielen wird.
Bereits während der Arbeit an seiner zweiten Oper »Lulu« nach Frank Wedekind, erhielt Berg einen Kompositionsauftrag, welchen er im Jahr 1929 in einem für ihn bemerkenswerten Tempo erfüllte. Die Konzertarie mit Orchester Der Wein, für die Berg Gedichte aus Charles Baudelaires Fleurs du mal wählte. Besonders Schönberg war sehr zufrieden über die genaue formale Disposition der Partitur. Außerdem verwendete Berg erstmals Musik aus der Umgebung seiner Zeit und integrierte so u. a. Jazz- und Tanzrhythmen. Als Vorbild könnte ihm hierfür durchaus Schönbergs Suite op. 29, welche ebenfalls unterschiedliche Tanzarten miteinander verband, gedient haben.
Am 9. Juli 1928 schrieb Berg an Schönberg: »Ja, ich arbeite. Aber es geht sehr langsam und schwer vonstatten. Schuld daran trägt wohl die fast 2jährige Kompositionspause, dann die immer beträchtliche Schwierigkeit, die Musik einer ganzen Oper mit einer Reihe zu bestreiten, schließlich meine, durch neuerliches schweres Asthma, sehr beeinträchtigte Arbeitsfähigkeit.« Sein zweites großes Opernprojekt nach »Wozzeck« plante Berg bereits 1927. Es sollte eine Vertonung des auf die Stücke Erdgeist und Die Büchse der Pandora aufgeteilten »Lulu«–Dramas von Frank Wedekind werden. 1905 wohnte Berg einer Aufführung des im Vorfeld als skandalträchtig gehandelten Die Büchse der Pandora bei. Die »moralische Anstössigkeit« des Fin de Siècle Melodrams, welches den Aufstieg und Fall einer jungen Frau im Spiegel der Gesellschaft beschreibt, erregte die Gemüter.
Für Berg sollte »Lulu« das Gegenstück zu »Wozzeck« bilden. Wieder einmal hatte Berg sich vorgenommen, das gesamte Spektrum seines Stils in einer Oper zusammenzubringen. Er ordnete jeder Figur des Stückes einen entsprechenden musikalischen Komplex zu. Im Zentrums steht die zwölftönige »Lulu«-Reihe, die in ihrem Partiell in der gesamten Oper präsent ist, jedoch in Grundfrorm nur während des berühmten Liedes der »Lulu« in der ersten Szene des zweiten Aktes auftaucht. In seinen Skizzen hatte Berg diese Reihe in allen möglichen Transpositionen, Umkehrungen usw. auf zwei große Reihentafeln mit je 48 Systemen untereinander skizziert und Dur-, Moll- und verminderte bzw. übermäßige Dreiklänge herausgeschrieben. Dieses »Ausanaylsieren« der Reihe erschien ihm notwendig und gibt einen Einblick in seine Arbeitsweise. Wie bei »Wozzeck«« stehen klare Formabschnitte, unterteilt in Arien, Sonaten usw., nebeneinander. Doch erscheint die musikalische Sprache in der »Lulu« auf paradoxe Art und Weise zugleich reicher und einfacher. Die »Einfachheit der Fülle«, wie Adorno Bergs »Lulu«-Stil zu bezeichnen pflegte, zeigt sich in der Klarheit der Textur, in der alle Klanginformationen stets präsent sind und kein Ton überflüssig zu sein scheint. Dieser Deutlichkeit, die Berg anstrebte, kommt er in keinem anderen Werk so nahe wie in der »Lulu«.
Mitten in der Arbeit des dritten Aktes musste Berg die Komposition abermals unterbrechen, da er dem Auftrag des amerikanischen Geigers Louis KrasnerAnfang des Jahres 1935 nachgehen wollte, für ihn ein Violinkonzert zu komponieren. Nicht zuletzt zwangen ihn auch äußere Umstände hierzu, denn bald nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten entfielen in Deutschland die Tantiemen und er hoffte, sich durch den lukrativen Auftrag zumindest zeitweilig von finanziellen Sorgen befreien zu können. Das Violinkonzert widmete er der am 22. April des Jahres im Alter von 18 Jahren an Kinderlähmung verstorbenen Manon Gropius – der Tochter Walter Gropius’ und Alma Mahlers – und überschrieb es mit »Dem Andenken eines Engels«.
Wie zuvor die Wein-Arie entstand diese Auftragsarbeit in kürzester Zeit. Bereits zwei Monate nach Annahme des Auftrags konnte Berg die Partitur abschließen. »Ich bin darüber noch mehr erstaunt als Sie es vielleicht sein werden. Ich war allerdings so fleißig, wie noch nie in meinem Leben und dazu kam, daß mir die Arbeit immer mehr Freude machte.« schrieb er seinem Auftraggeber Krasner am 16. Juli. Das Violinkonzert gehört zu den eingängigsten Kompositionen Bergs. Er wählte wenige Grundelemente, die er jedoch auf vielfältigste Art und Weise zu transformieren verstand. Zugleich finden sich zahlreiche Bezüge, die von der Melodie des Volksliedes »Ein Vogerl auf’m Zwetschgenbaum« bis zum Bach-Choral »Es ist genug« im letzten Abschnitt reichen. In seinem letzten großen sinfonischen Werk beschwört Berg am Ende noch einmal das Bild eines »Engels« und entgegnet somit noch einmal auf Schönbergs anfängliche Kritik am Sujet des »Wozzeck«, nach der die Musik von Engeln erzählen müsse und nicht von Soldaten.
Berg sollte das Violinkonzert, dessen Uraufführung für den April 1936 geplant war, nicht mehr miterleben. Am 19. Dezember berichtete Helene Berg an den mittlerweile in die USA emigrierten Schönberg von »Albans monatelanger Erkrankung«, die sich »zu einer Schauderhaften Furunkulose« entwickelt hatte. In der Folge mehrerer Operationen erkrankte er an einer Blutvergiftung, an der er am frühen Morgen des 24. Dezember 1935 verstarb.