»Interna aus der Sunset Motion Pictures«
»Man könnte das Stück auch nennen: ‚Aufstieg und Fall der Manon‘ oder ‚Die Hollywood-Tragödie‘«, so Regisseur Jürgen Flimm, der die Handlung unserer nächsten Premiere in die Welt der Traumfabrik und in die Zeit des frühen 20. Jahrhunderts verlegt hat. Dazu »gründete« er die »Sunset Motion Pictures«.
Was sich bei der Begegnung zwischen dem aufsteigenden Star Manon und dem Komparsen Des Grieux hinter verschlossenen Türen wirklich ereignete, verrät uns ein »Mitarbeiter« des Filmstudios.
»Zu den Vorteilen meines Berufes gehört es, ständig überall und nirgends zu sein – am Set, hinter dem Set, am Imbisswagen neben dem Set, in der Cafeteria oder meistens auf dem Weg zwischen allem. Ich bin Kabelträger bei der Sunset Motion Pictures, einer noch relativ jungen Filmcompany, die mittlerweile ganz passabel im Geschäft ist. Das bedeutet meistens, auf tausende Extrawünsche exzentrischer Kameramänner oder nie zufrieden zu stellender Beleuchter einzugehen. Drehtage können ganz schön lang sein, und die Arbeit geht einem dabei nie aus. Aber wie gesagt: Ich kann von mir behaupten, immer nah dran zu sein an den Menschen, die Filmgeschichte schreiben. Oder auch nicht – denn seien wir mal ehrlich: Die ganz großen Schauspieler hat die Sunset Motion Pictures in ihrer Anfangszeit nicht verpflichten können. Dafür fehlten Mr. B…, unserem Produzenten, schlicht die Mittel. Gott sei Dank hatten die Erfolgsfilme der Company wie »Lone in the Wind« und »The Wizard of Nox« noch andere Stärken (u. a. die spektakulären Kameraeinstellungen, die ich mit vorzubereiten half), die die ziemlich durchschnittlichen schauspielerischen Leistungen der Protagonisten einigermaßen zu überdecken vermochten.
Deshalb bleiben mir aus dieser Zeit nur einige wenige in Erinnerung, die das Zeug zu wirklichen Stars hatten: Vivian Sleigh gehört dazu, zweifellos eine der talentiertesten, die ich je vor der Kamera gesehen habe, ehe sie sich tragischerweise bei Gehversuchen mit hohen Absatzschuhen, die sie unbedingt für ihre Rolle als Prinzessin von Neukaledonien tragen wollte, den Knöchel so brach, dass sie zeitlebens nur noch humpeln konnte; oder Thomas Witchell, der mit uns seine ersten Erfolge feierte, sich dann aber der offenbar zahlungskräftigeren Aurora Movie Company anschloss, ausgerechnet unserem ärgsten Konkurrenten! Aber dem Verräter geschah es recht, dass die Aurora nur eineinhalb Jahre nach seinem Wechsel pleiteging. Seitdem hat er, wie ich höre, nur noch unbedeutende Engagements bekommen. Hochmut kommt eben vor dem Fall und fallen kann man in Hollywood sehr schnell – das trifft auch auf die nächste zu, derer ich mich gerne erinnere: Manon Lescaut, ein Name wie aus einer französischen Oper. Oder einer italienischen? Ihrer ein wenig ins Breite gehenden, aber ansonsten tadellosen Deklamation des Englischen merkte man jedenfalls höchstens ihre Provenienz aus dem Mittleren Westen an.
Manon war eine echte Entdeckung, wie man sie nur selten in unserer Branche macht. Sie kam zu uns durch ein Casting. Im Allgemeinen mag ich diese Castings: Es gibt für mich nur wenig zu tun, da die Kandidaten nur in statischen Kameraeinstellungen in mehr oder minder geglückten Posen ihr Talent zu zeigen versuchen. Deshalb kann ich normalerweise in Ruhe zuschauen und die Unglücklichen wahlweise bemitleiden oder über sie und ihren verzweifelten Elan schmunzeln. An jenem Tag, an dem Manon Lescaut zu uns stieß, war die Aufgabe, möglichst glamourös in einem roten Wagen zu posieren, denn man suchte für einen Streifen, dessen Name mir entfallen ist, ein junges Mädchen, das aber schon über möglichst viel Grandezza verfügen sollte. Eine Aufgabe, an der die Schauspielaspirantinnen, die sich in einer endlos scheinenden Reihe neben dem Auto aufgestellt hatten, grandios scheiterten. Ich erinnere mich noch, wie die Regieassistentin eine nach der anderen durchwinkte – die Gescheiterten natürlich in Tränen aufgelöst –, der Kameramann vor mir immer schlechtere Laune bekam und Mr. B…, sich auf seinem Stuhl in Verzweiflung windend, immer wieder vom lächerlichen Geschehen abwandte. Der Strom an Talentlosen, angezogen von der vermeintlichen Traumfabrik, riss nicht ab, und so schleppte sich der Tag dahin. Doch dann kam Manon. Sie war noch ziemlich jung, strahlte aber trotzdem schon eine gewisse Reife und eine mysteriöse Unnahbarkeit aus. Sie stieg ins Auto mit einer nie gesehenen Eleganz, winkte kapriziös und ließ uns alle im selben Augenblick dasselbe denken: ein Naturtalent! Mr. B… betrachtete Manons Treiben mit vor Staunen geweiteten Augen, dann rannte er auf sie zu, bat sie zur Seite und tat etwas, das er sonst nie tat: Er legte ihr augenblicklich einen Vertrag vor. Er ging mit ihr mit einer Zuvorkommenheit um, in deren Genuss wir, die Crew, selten bis gar nicht kamen. Die viel jüngere Manon schien in ihm, der nicht gerade als Kostverächter bekannt war, gleich Begehrlichkeiten geweckt zu haben.
Wir alle hatten die Szene mit großer Freude verfolgt, froh, endlich fündig geworden zu sein und diese Tortur von einem Casting beenden zu können. Manon hatte uns alle mit der Natürlichkeit ihrer Darbietung verzaubert; einen aber ganz besonders. Es war ein Schauspieler aus unserer Truppe namens Renato Des Grieux – auch dieser Name, wenn ich es recht bedenke, eine recht eigentümliche Mischung aus dem Italienischen und Französischen. Waren die beiden füreinander vorherbestimmt? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, was ich wie alle anderen am Set damals beobachtete: Wie Renato, der sich das Casting nur zufällig anschaute, schon beim Eintreten Manons erblasste und nervös anfing, das Auto, in dem sie posierte, in einem großen Kreis zu umrunden, sodass sie ihn bemerken musste. Dabei geriet er kurz ins Kamerabild und wurde sogleich von der erbosten Regieassistentin beiseite gezogen. Ein wenig später sah ich, wie er auf Manon, die den noch nicht unterzeichneten Vertrag in den Händen hielt, zuschritt und mit ihr plauderte. Der Renato! immer der erste, der den neuen Kolleginnen gratuliert, knurrte der missmutige Kameramann neben mir, zweifellos, weil er lieber an Renatos Stelle gewesen wäre, seinen Posten aber nicht verlassen durfte.
Und noch jemand war bei all dem anwesend: Manons Bruder – seinen Vornamen habe ich vergessen, weil er von allen immer nur beim Nachnamen gerufen wurde –, der sich ziemlich großspurig als ihr Manager aufspielte. Ein unangenehmer Kerl, der, wie man im Nachhinein gehört hat, durchaus eher auf seinen eigenen Vorteil bedacht war als auf den Manons. Auch davor muss man sich hüten in Hollywood. Von den weiteren dramatischen Vorkommnissen dieses Tages habe ich teils von unser Maskenbildnerin erfahren, die sie mir brühwarm erzählte: Renato habe Manon unter vier Augen gesprochen (ohne zu ahnen, dass es sechs waren), um ihr seine aufrichtige Liebe zu gestehen. Sie solle sich auf keinen Fall bei Mr. B… verdingen, denn zweifellos würde der an ihr Engagement gewisse Bedingungen knüpfen – sein Ruf eilte Mr. B… in diesen Dingen voraus. Vermutlich wird er in unserem Business kaum der einzige gewesen sein. Manon war tatsächlich bereit, alles soeben Gewonnene in den Wind zu schlagen und mit Renato durchzubrennen. Als Mr. B… ihr Verschwinden bemerkt hatte, eilte er zu Lescaut, der mit der Crew inklusive mir zusammensaß. Manon, kaum da, schon weg – das ließ uns in Gelächter ausbrechen. Doch Lescaut versicherte ungerührt, Manon werde es garantiert nicht lange bei einem mittellosen Schauspieler aushalten, wie Renato Des Grieux es war. Tatsächlich: Große Rollen und damit große Gagen hatte der noch nicht gesehen. Kaum hatte Lescaut seine Ausführungen beendet, klopfte es an der Tür. Ich ging öffnen. Es war Manon, die ohne mich zu beachten mit gesenktem Kopf hereintrat und schüchtern stehenblieb. Mr. B… ging auf sie zu und schloss sie in die Arme.
Am nächsten Morgen schien der Ausbruchsversuch schon fast vergessen, bis ich erfuhr, dass Renato zum Dreh eines drittklassigen Westerns an ein anderes Set nach Arizona aufgebrochen war, wo er eine plötzlich dringend erforderliche Zusatzrolle spielen sollte. Derweil kümmerte sich Mr. B… rührend um Manon und trug sie, ganz Gentleman, auf Händen. Doch abgesehen davon, dass die beiden jeden zweiten Tag zum Shoppen nach LA fuhren, musste Manon auch hart an sich arbeiten: Um in das ihr zugedachte Kleid für ihre erste Hauptrolle zu passen, mussten ein paar Pfunde herunter. Dafür wurde ihr gleich ein Bewegungscoach an die Seite gestellt. Doch trotz dieser zusätzlichen Mühen machte sie vor der Kamera innerhalb kürzester Zeit enorme Fortschritte, sodass bald die ersten Szenen des neuen Meisterwerks, dessen Name mir wie gesagt entfallen ist, im Kasten waren. Um sie recht schön ins Bild zu setzen, ersannen wir immer neue ungewöhnliche Blickwinkel und Kameratricks. So inspirierte ihre Schönheit auch uns. Trotzdem blieb sie mir immer auch ein Rätsel. Es gab Momente, in denen sie so verloren am Set stand, als gehöre sie hier gar nicht hin. Dann brach sie plötzlich in ein strahlendes Lachen aus und wurde wieder zum Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Im Mittelpunkt stand sie auch, wie ich hörte, bei den gesellschaftlichen Events und Partys des Filmbusiness, zu denen man als einfacher Kabelträger nie Zutritt hat.
Eines Abends, als wir, die ganze Crew, nach einem langen Drehtag zu einem mehr als verdienten Feierabendbier das etwas schäbige Café am Set betraten, rannten dort schon zwei Gestalten auf und ab. Es waren Manon und Renato, der zur Überraschung aller aus Arizona zurückgekommen war – im Übrigen ohne seinen Dreh abgeschlossen zu haben, wie sich später herausstellte. Sie hielten inne, als sie uns sahen: Als hätten wir sie bei irgendetwas ertappt. Mr. B…, der ein Gespür für in der Luft liegende Irritationen hatte, kam auch herein. Bei seinem Anblick sank Manon auf einen Stuhl nieder. Um ihr die Schande der folgenden Situation zu ersparen, fasse ich sie nur kurz zusammen: Sie hatte erneut versucht, ihre Flucht mit Renato vorzubereiten, diesmal aber auch die Kasse und den Schmuck aus ihrer Garderobe (der zum größten Teil nur wertloser Modeschmuck war, den Unterschied konnte man zu Zeiten des Schwarz-Weiß-Films sowieso nicht ausmachen) an sich genommen. Damit hatte sie unwiderruflich Mr. B… gegen sich aufgebracht. Ihre Zurückweisung hätte er – mit etwas Realitätssinn – noch verschmerzen können, aber bei Geld hörte seine Freundschaft auf.
Manons Pech war, dass just zu diesem Zeitpunkt die jährliche Entlassungsrunde anstand, gewissermaßen das Gegenstück zu den Castings. Es hätte ihrer eigentlich gar nicht bedurft, schließlich wurden Schauspieler nur für einzelne Filme engagiert. Aber Mr. B… pflegte einmal im Jahr mit dem ganzen Vorstand der Company zusammenzukommen, um die nächsten Schritte und anstehenden Filmprojekte zu besprechen. Deshalb versammelten sich auch stets alle Schauspieler der aktuellen Produktionen, um zu erfahren, ob auch für sie etwas herausspränge. Stets gab es dabei auch Glückliche, aber Mr. B… verzichtete nie darauf, vor versammelter Mannschaft die Namen derjenigen kundzutun, mit denen er nie wieder zusammenzuarbeiten gedenke. Dieser Vorgang kam dem einer öffentlichen Verbannung gleich, und tatsächlich hatten die Verstoßenen – Hollywood ist klein – kaum mehr eine Chance, hier in der Nähe an ein Engagement zu kommen. Ganz offensichtlich immer noch maßlos aufgebracht durch Manons Treuebruch machte B… in diesem Jahr Tabula rasa und ließ fast die Hälfte der Schauspielerinnen gehen, von denen sich eine nach der anderen unter den mitleidigen Blicken der Belegschaft davonmachte: die freche Rosetta, die B…s Zorn verlachende Madelon, die würdevolle Caton, die trotz allem kokettierende Regina, die blonde Claretta, die aufreizende Violetta, die wie immer aufwändig gestylte Nerina, die stille Elisa, die von all dem peinlich berührte Ninon und schließlich die grinsende Giorgetta (Warum hatten eigentlich alle unsere Schauspielerinnen italienisch-französische Namen?). Am Ende wandte sich B… Manon zu, die er mit keinem Wort bedachte, die sich trotzdem gleich zum Gehen wandte. In diesem Moment stürzte Renato Des Grieux auf sie zu, versicherte ihr, dass er ihr überallhin folge, und kündigte seinerseits sein bestehendes Engagement bei der Sunset auf. Dieser Schritt imponierte uns allen, war ihm doch gerade die Rolle des Geparden in »Geparden küsst man nicht« versprochen worden. Arm in Arm verließen beide das Set.
Das war das letzte Mal, dass ich Manon gesehen habe. Seitdem haben weder ich noch meine Kollegen etwas von ihr gehört. Der Film, ihr Film, der ihr Durchbruch geworden wäre, wurde ad acta gelegt, ohne dass man es bei Sunset jemals wieder thematisiert hätte. Meine Kollegen und ich tun auch gut daran, es nicht zu tun. Seit ihrem Weggang produziert die Sunset, die mit ihr so kurz davorstand, es zu schaffen, nur noch B-Movies. Viele Schauspielerinnen habe ich seitdem kommen und gehen sehen, aber an ihre Aura reichte keine heran. Ich würde ihr wünschen, dass sie anderswo neu hat anfangen können. Vielleicht hat sie sich einen neuen Künstlernamen zugelegt? Vielleicht hat sie auch das Singen angefangen und erobert jetzt die Opernbühnen in Frankreich, in Italien?«