»Jenůfa« – Eine Oper wie für Netflix

Damiano Michielettos Inszenierung von Leoš Janáčeks »Jenůfa« feiert am 22. Mai 2022 Publikumspremiere. Im Gespräch mit Dramaturg Benjamin Wäntig gibt der Regisseur Einblicke in seine Interpretation der Oper.

Wie auch in Janáčeks »Káťa Kabanová« haben wir es mit einer Geschichte zu tun, die von Frauen geprägt wird.

Benjamin Wäntig: Während der außerhalb von Tschechien geläufige Titel »Jenůfa« den Fokus nur auf eine Hauptfigur lenkt, bezeichnet der Originaltitel der Oper, »Její pastorkyňa« (»Ihre Stieftochter«), zwei Frauen und ihr besonderes Verhältnis: Jenůfa und die Küsterin. Wie siehst du diese zwei Figuren?

Damiano Michieletto: Der ursprüngliche Titel ist ziemlich raffiniert: Die Stieftochter ist natürlich Jenůfa, aber durch das Pronomen steht hinter ihr eine geheimnisvolle, zunächst nicht genannte Person, die Küsterin. An der Geschichte ist mir sofort aufgefallen, wie kompliziert die Verwandtschaftsverhältnisse in der Familie Buryja sind. Wie auch in Janáčeks »Káťa Kabanová« haben wir es mit einer Geschichte zu tun, die von Frauen geprägt wird. Angeführt wird die Familie von der Großmutter, der alten Buryjovka, die Generation nach ihr vertritt die Küsterin – alle Männer dieser Generation sind nicht mehr am Leben – und nach ihr folgen Jenůfa, Števa und Laca, alle Waisen.

Was die Küsterin angeht, die schließlich zur Kindsmörderin wird, so war es mir zusammen mit Evelyn Herlitzius wichtig, sie nicht zu verurteilen und als eine Art Monster zu zeigen. Sie versucht, Jenůfa aus einer prekären familiären Situation zu retten. Diese Situation erkennt sie als ihre eigene von einst wieder: Auch sie hat einen Mann geheiratet, von dem sie fasziniert war, der reich war, der aber trank und sich als gewalttätig herausstellte. Ich habe mich immer gefragt, warum die Küsterin keine eigenen Kinder hat. War sie vielleicht schwanger und hatte eine Fehlgeburt, vielleicht sogar wegen der Gewalttätigkeiten ihres Mannes? In ihrem Verhalten sehe ich auch eine untergründige Spur von Neid auf Jenůfas Mutterschaft. In den wenigen Minuten, die Jenůfa in der Oper als Mutter vergönnt sind, wenn die Musik auf einmal sanft und zärtlich wird, fordert die Küsterin sie auf zu beten, dass sie das Kind loswerden möge. Neben der Angst vor der gesellschaftlichen Schande durch Entdeckung des unehelichen Kindes schwingt für mich hier auch das Bedauern mit, keine eigenen Kinder zu haben.

BW: Trotzdem versucht sie alles, um ihre Stieftochter zu beschützen.

DM: Das ist richtig, dabei geht sie allerdings ziemlich repressiv vor. Als Števa betrunken nach der Musterung zurückkommt und der Weg für die Hochzeit mit Jenůfa frei wäre, untersagt sie diese Hochzeit wegen seiner ständigen Trunkenheit. Wegen all des Leids, das sie erfahren hat, wegen ihrer eigenen Geschichte handelt sie in meinen Augen streng und hartherzig. Ihr Verhältnis zu Jenůfa ist davon bestimmt. Jenůfa hat noch nicht viel erlebt, aber das wenige ist bereits schwerwiegend: Ihre Schwangerschaft bringt die ganze Geschichte ins Rollen. Als sie das Kind bekommt, versucht die Küsterin wiederum alles, um eine Lösung zu finden. Sie erniedrigt sich vor Števa, den sie im Prinzip verabscheut, sie fleht ihn knieend an, Jenůfa zu heiraten und das Kind zu legitimieren. Die größte Erniedrigung erfährt sie dann durch Števas Weigerung. Die Tötung des Kindes ist ihr letzter Ausweg.

Realismus ist in »Jenůfa« nur der Ausgangspunkt, (…) im Untergrund gibt es eine expressionistische Schubkraft

BW: In »Jenůfa« ist Janáček einem Realismus verpflichtet, der das dörfliche Leben in der mährischen Slowakei detailreich ausmalt. In vielen Fällen schränkt solch ein Realismus die Freiheit der szenischen Umsetzung ein, wie erging es dir in diesem Fall?

DM: Auf der einen Seite ist »Jenůfa« dem Realismus verbunden, hat aber gleichzeitig auch den Expressionismus beeinflusst, Alban Berg zum Beispiel. Realismus ist in »Jenůfa« nur der Ausgangspunkt, nicht das eigentliche Ziel. Janáček hat der Oper einen realistischen Rahmen gegeben, was mir sehr gefällt, denn dadurch wird die Geschichte sehr einfach und nachvollziehbar dargestellt. Doch es bleibt nicht nur dabei, im Untergrund gibt es eine expressionistische Schubkraft, und das macht es für mich als Regisseur interessant. Ich habe nicht das Gefühl, dass das Stück danach verlangt, seinen Realismus in allen Details nachzustellen, er bleibt oft nur angedeutet. Wo spielt die Geschichte? Ob draußen oder drinnen spielt eigentlich kaum eine Rolle. Es gibt eine Mühle, aber sie bleibt eigentlich nur ein Zeichen, ein Verweis. »Jenůfa« lässt trotz der sehr konkreten Geschichte in dieser Hinsicht viele Freiräume, es ist eben nicht »La Bohème« mit der festgeschriebenen Dachwohnung. Die Themen in »Jenůfa« – Gewalt, Alkoholismus, Mutterschaft – betreffen nicht nur die Situation in diesem Dorf zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt, sondern sie sind universell.

Kürzlich habe ich an einem Projekt für die internationalen Serien-Plattform »Netflix« gearbeitet. Eines der Kriterien, nach denen »Netflix« seine Projekte auswählt, ist, dass eine Geschichte ortsspezifisch ist, gleichzeitig aber auch ein Publikum weltweit anspricht. Genau das trifft auch auf »Jenůfa« zu: Die Oper spielt in einem kleinen, entlegenen Dorf in einer bestimmten Region, sie wird auf Tschechisch gesungen, Janáčeks Musik wurzelt teilweise in der Folkloremusik dieser Region, es werden (erfundene) Ortsnamen wie Belovec oder Nové Zámky genannt – das Ganze ist ganz und gar site-specific. Man spürt, wie es Janáček ein Bedürfnis war, »seine« Welt zu schildern, die er ja auch als Ethnomusikologe mit seinen Aufzeichnungen erforscht hat. Und nun spielen wir »Jenůfa« auf der ganzen Welt.

Es gibt durchaus noch einige Aspekte von Mutterschaft, die uns heute noch bewegen.

BW: Dass die Küsterin zur Mörderin wird, ist den sozialen und auch religiösen Werten der dargestellten Gesellschaft geschuldet, die die Existenz eines unehelichen Kindes nicht duldet. Solche Wertvorstellungen scheinen für uns heute doch eigentlich überholt. Warum lässt uns »Jenůfa« dennoch nicht kalt?

DM: Es stimmt, dass uneheliche Kinder in den meisten westlichen Ländern heute kein Anlass zu gesellschaftlicher Schande sind. Aber es gibt durchaus noch einige Aspekte von Mutterschaft, die uns heute noch bewegen. Zum Beispiel ist je nach Land die Rechtslage unterschiedlich, ob auch homosexuelle Paare Kinder adoptieren dürfen. Oder das Thema der Leihmutterschaft, auf der eine ganze Industrie aufbaut: Ich erinnere an ein Beispiel aus der Anfangszeit des Lockdowns, als in ukrainischen Privatkliniken, in denen Leihmutterschaften für europäische und amerikanische Paare vermittelt werden, viele Babys geboren wurden, die auf einmal nicht abgeholt werden konnten und von irgendwem betreut werden mussten.

Abgesehen davon, dass die Emanzipation der Frau sich im Vergleich mit Janáčeks Zeiten wesentlich weiterentwickelt hat, sind Machotum, das die Entscheidungsfreiheit der Frauen einschränkt, und Gewalt gegenüber Frauen bis hin zum Frauenmord noch immer brennende Themen unserer heutigen Gesellschaft. Diese Dynamik der Gewalt und die Angst vor männlicher Gewalt, wie sie die Küsterin erlebt hat, prägt alle Beziehungen in »Jenůfa«.

BW: In dieser Oper erleben wir eine Bandbreite an negativen Emotionen. Das Ende eröffnet hingegen eine ganz andere Welt. Wie erlebst du dieses Finale von »Jenůfa«, wie wird die Zukunft von Laca und Jenůfa aussehen?

Das Finale ist wirklich etwas Besonderes.

DM: Das male ich mir auch gerne aus, auch wenn ihnen nach den Geschehnissen sicher keine unbeschwerte Zeit bevorsteht. Mich interessiert fast mehr Števas Zukunft: Für ihn nimmt die Geschichte ein wirklich tragisches Ende. Er mit seinem großen Ego bleibt allein, seine Hochzeitspläne mit Karolka zerstört, von der Großmutter Buryjovka verstoßen.

Das Finale ist wirklich etwas Besonderes, denn Opern mit einer ähnlich tragischen Geschichte enden meistens mit dem Tod der Protagonistin – das scheint fast ein Bedürfnis der meist männlichen Verfasser zu sein. Aber gerade weil die Geschichte von »Jenůfa« von einer Frau geschrieben wurde, der Schriftstellerin Gabriela Preissová, glaube ich, dass wir hier einen anderen Blick vorfinden. Nachdem Jenůfa die ganze Zeit über gegen ihr Schicksal gekämpft hat, ist es nur gerecht, dass sie am Ende eine Zukunftsperspektive verdient. Eigentlich könnte an der Stelle Schluss sein, nachdem die Küsterin ihr Geständnis abgelegt hat und alle erschüttert den Ort verlassen haben – das wäre ein tragischer, auch konventioneller Schluss. Doch dann folgt das Ende mit der Annäherung von Laca und Jenůfa, die zum Schluss erstmals im Stück seinen Namen mit wirklicher Emphase ausruft. Doch alles bleibt nur kurz und knapp angedeutet, die beiden gehen von der Bühne – Fortsetzung folgt. In unserer Inszenierung bleibt die Küsterin allein zurück, belastet von ihrer Schuld, ohne Hoffnung auf eine Zukunft.

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