Verbindungen zum Kosmos – Uraufführung von »Werckmeister Harmonien«

Der Schweizer Theaterkünstler Thom Luz präsentiert seine erste Musiktheater-Performance Unter den Linden. Thom Luz und Mathias Weibel (musikalische Leitung) im Gespräch mit Dramaturg Christoph Lang.

»Werckmeister Harmonien« ist eine Musiktheaterkreation, die sich mit dem Berufsbild des Klavierstimmers auseinandersetzt. Welcher Aspekt interessiert euch in diesem Zusammenhang besonders?

THOM LUZ: Ich fand die Idee schön, einen Beruf, der eigentlich immer im Unsichtbaren wirkt, ins Zentrum zu stellen. Wenn ich selber ins Theater gehe, entdecke ich auch gerne Dinge, die man normalerweise nicht sieht oder die nicht im Fokus der Aufmerksamkeit stehen. Klavierstimmer:innen sind Menschen, die vor jedem Konzert eine sehr wichtige Arbeit verrichten und dann verschwinden. Andere ernten die Lorbeeren für ihre sehr wichtige und grundlegende Arbeit – die Stimmung des Instruments. Man sagt ja: Die gründlichste Erörterung eines Themas kann zu den falschen Schlüssen führen, wenn die Grundlage nicht stimmt. Musikalisches Beispiel: Noch bis ins 18. Jahrhundert hat jede Stadt ihre Orgeln und Instrumente anders gestimmt. Es gab Versuche, eine einheitliche Stimmung einzuführen, bei der alle Tonarten spielbar sind. Aber da trafen verschiedene Ideologien aufeinander und es gab Konflikte. Das ist ein Dilemma, das mich für dieses Projekt interessiert: Wenn man so stimmt, dass in C-Dur alles rein ist, bekommt man in den weiter entfernten Tonarten Probleme. Die Vorgaben der Natur korrelieren nicht mit den Halbtonschritten unserer Klaviaturen. Es ist wie so oft bei großen Theorien: Sie erklären die Wirklichkeit nie vollständig und lassen sich oft nur mit Drücken und Würgen umsetzen.

Der Abend ist nach dem Musiktheoretiker Andreas Werckmeister betitelt. Welche Qualitäten haben dessen Texte und welche Funktion haben sie in der Produktion?

TL: Werckmeister entwickelt in seinen Texten eine Theorie für eine einheitliche Klavier- und Orgelstimmung. Er beginnt mit seinen Erörterungen im Weltall und endet unter dem Klavierhammer. Mir gefällt das sehr, wie er von den Klängen der Sphären und den Proportionen der Planeten ableitend eine Theorie entwickelt, wie unsere Klaviere auf der Erde so gestimmt werden müssen, damit es für alle passt. Die Texte klingen alchemistisch und rätselhaft, das hat mich angezogen. Das Nachdenken über das große Ganze, die Ordnung der Sphären, die wir Menschen nur erahnen, und die Übertragung dieser Gedanken auf so irdische Apparate wie Klaviere ist eine sehr menschliche, wenngleich zum Scheitern verurteilte Angelegenheit. Werckmeister sucht immer einen Kompromiss zwischen dem, was gewünscht ist, und dem, was möglich ist. Man hätte gerne alles rein und ordentlich, aber diese Vorstellung passt nicht in die Wirklichkeit. Neben den Texten von Werckmeister sind in »Werckmeister Harmonien« aber auch Interviews mit zahlreichen Klavierstimmer:innen verarbeitet, die ich in den letzten Jahren für dieses Projekt geführt habe. Ich finde die Mischung aus den großen, philosophischen Werckmeister-Texten und den sehr pragmatischen Statements der Klavierstimmer:innen, die von ihren Werdegängen und ihrer Arbeit abseits der Aufmerksamkeit erzählen, sehr reizvoll.

Musik ist in all euren Arbeiten von zentraler Bedeutung. Für »Werckmeister Harmonien« habt ihr Musik aus verschiedensten Stilrichtungen gesammelt und bearbeitet. Wie ist es zu dieser Auswahl gekommen?

MATHIAS WEIBEL: Ausgehend von Werckmeisters Texten haben wir uns im Barock umgeschaut. Werckmeister selbst kommt zur Sprache, aber auch Purcell, Schütz und ein kleines bisschen Bach. Der größte Teil der Musik stammt aber von Charles Ives, einem unserer Lieblinge. Das Kernstück sind dabei die »Quarter Tone Pieces«. Ives war selbst auch ein großer Theoretiker, der sich viele Gedanken gemacht hat, wie man das musikalische System weiterentwickeln könnte. Durch lauschendes Wahrnehmen seiner Umgebung hat er neue Stimmungen entwickelt und insofern Werckmeisters Gedanken im 20. Jahrhundert weitergeführt.

THOM LUZ: Ich mag es, wenn man Dinge nicht sofort einordnen kann.

TL: Mir gefällt es immer, wenn Musik ein Darsteller, wenn nicht sogar der Hauptdarsteller eines Theaterabends ist. Was klingt woher und wie? Bei »Werckmeister Harmonien« steht die Stimmung und das Suchen nach Zwischenbereiche zwischen den gewohnten Ganz- und Halbtönen im Mittelpunkt. Meine Arbeit beschäftigt sich häufig mit Zwischentönen und bewegt sich immer zwischen den gewohnten Sparten. Ich mag es, wenn man Dinge nicht sofort einordnen kann: Wir haben eine Gruppe von Musiker:innen auf der Bühne, die auch als Schauspieler:innen in Erscheinung treten. Es gibt auch choreografische Elemente, Licht spielt eine große Rolle – der Abend oszilliert und das ist in diesem Zusammenhang thematisch.

Schwebungen oder Imperfektionen umgeben uns in praktisch jeder Situation unseres Lebens. Ist das schlimm oder sollten wir vielmehr lernen, diese zu akzeptieren und anzunehmen?

TL: Es ist wie in einer Beziehung. Es gibt die romantische Idee und es gibt die Praxis. Man hat die Idee einer reinen Liebe, aber in der Wirklichkeit muss man ständig Kompromisse machen. Das zieht sich durch die ganze Schöpfung. Man hat große Ideen, wie Dinge zu funktionieren haben, wie zum Beispiel Demokratie: Das ist eine wunderbare Idee, aber um sie anzuwenden muss man ständig nach Kompromissen suchen und Problemfelder überbrücken. Auch bei Klavierstimmung kommt man schnell vom Hundertsten ins Tausendste.

MW: Beim Klavier und anderen Tasteninstrumenten sind die Töne eben fix gestimmt. Da gibt es immer Kompromisse und man muss damit leben, auch wenn man sich manchmal ärgert. Ein Streichinstrument hat diese Probleme in einem viel kleineren Maße und lässt sich außerdem im Konzert nachstimmen.

Thom Luz: Im Leben ist Schönheit ja – philosophisch ausgedrückt – häufig da, wo es kleine Reibungen gibt und die Dinge zu schweben beginnen.

TL: Ein Ton auf einem Klavier besteht aus drei Saiten, die gleichzeitig schwingen. Diese Saiten sind aber nicht alle identisch gestimmt. Die kleinen Schwebungen zwischen den Saiten sind es, die wir als schön empfinden. Im Leben ist Schönheit ja – philosophisch ausgedrückt – häufig da, wo es kleine Reibungen gibt und die Dinge zu schweben beginnen. Klavierstimmung ist theoretisch ganz einfach: Ich stimme ein Klavier, damit es richtig klingt. Dahinter stehen aber ganz tiefe Fragen: Was ist richtig und für wen? Was ist eine Ordnung, die für alle funktioniert? Was ist ein Grundton, auf den sich alle einigen können? Was ist damit möglich? Wo muss ich meine Frequenz verschieben, dass andere auch noch Platz haben im Spektrum. Man denkt immer, ein Klavier zu stimmen sollte in einer Viertelstunde möglich sein, aber es ist ein philosophischer Vorgang, weil man Unvereinbares miteinander vereinen muss. Das in der Natur mögliche Klangspektrum lässt sich nicht ohne Verluste in das Halbton-System hineinpressen, das sich die Menschen ausgedacht haben.

MW: Im 20. Jahrhundert dachte man bei der gleichstufigen Stimmung: Jetzt haben wir’s! Wir haben die endgültige Stimmung, die für alle Zeiten richtig ist. Im Zuge der Beschäftigung mit Musik des 17. Jahrhunderts hat man aber festgestellt, dass diese Musik in unserer Stimmung gar nicht richtig funktioniert. Die Charakteristika der Tonarten gehen verloren. Also hat man sich wieder mit Werckmeister und seinen Zeitgenossen beschäftigt. Das Material beeinflusst die Musik und umgekehrt. Man denkt sich nicht nur Musik aus und spielt sie dann, sondern das jeweilige Instrument und musikalische System erfordern eine bestimmte Kompositionsweise oder inspirieren zumindest dazu. Das herausragendste Merkmal des Tasteninstruments und eigentlich überhaupt der europäischen Musik ist die Mehrstimmigkeit, die keine Selbstverständlichkeit ist und Bach besonders fasziniert hat. Er hat sogar mehrstimmige Fugen für Violine solo geschrieben.

Die Rahmensituation des Abends ist ein Konzert mit zwölf Pianist:innen, vor dessen Beginn die Klaviere noch gestimmt werden müssen. Wie kam es zu dieser Idee?

Thom Luz: Ich musste im Zusammenhang mit Klavierstimmer:innen immer an Sisyphos denken.

TL: Ich musste im Zusammenhang mit Klavierstimmer:innen immer an Sisyphos denken. Der rollt immer wieder einen Stein den Hügel hinauf und immer wieder rutscht er ihm aus den Händen. Auch der Klavierstimmer fängt immer wieder von vorne an. Wenn er fertig ist, reißt eine Saite und er kann wieder von vorne anfangen. Daher dachte ich beim Bühnenbild: Wir brauchen nicht ein Klavier, sondern 20, die alle gestimmt werden müssen. Man sieht einen kleinen Menschen und eine riesige Aufgabe – ein einfaches Bild, an dem man viel zeigen kann. Ich stimme Saiten in einem Holzkasten und stelle dadurch eine Verbindung mit dem Kosmos her. Denn nach Bach ist Musik das einzige Werkzeug, das der Schöpfer dem Menschen in die Hände gegeben hat, damit er sich mit dem Kosmos verbinden kann. Doch diese Verbindung basiert auf unsicherem Material: schwere Klaviere, zum Teil billig gebaut. Es braucht ganz viel Liebe zum Detail und unendlich viel Geduld, um das ins richtige Schweben zu bringen.

MATHIAS WEIBEL: Einige [Klaviere] sind »bockig«, andere geben nach, wieder andere helfen mit.

MW: Die Klaviere sind auch sehr individuell. Beim Proben ist mir bewusst geworden, wie schwer es ist, verschiedene Klaviere zu spielen und zu stimmen. Das liegt nicht nur an den von uns geplanten verschiedenen Stimmungen. Der Anschlag, die Reaktion sind sehr verschieden. Einige sind »bockig«, andere geben nach, wieder andere helfen mit. Das merkt man auch als Zuschauer:in, wenn wir diesen Klavierpark bedienen. Was mich in diesem Zusammenhang auch fasziniert ist, dass bereits der Vorgang des Stimmens von einer unglaublichen Schönheit ist, der man sich nicht entziehen kann.

TL: Das ging mir schon als Kind oft so, wenn ich das Stimmen des Orchesters aus dem Graben gehört habe. Dieses faszinierende Schweben, diese wunderbaren Flächen. Obwohl das Stimmen ganz im feinstofflichen Bereich stattfindet, ist es faszinierend. Bevor die Proben angefangen haben, hat uns ein Klavierstimmer eingeladen und seine Arbeit demonstriert. Bis man diese feinen Schwebungen erstmal hört, dauert es eine Weile. Es ist eine Hörschule, oder wie Robert Walser gesagt hat: »Wenn ich keine Musik höre, fehlt mir etwas und wenn ich Musik höre, dann fehlt mir erst recht etwas.« Daran musste ich bei den Proben oft denken.

Der Apollosaal wird nur selten für szenische Produktionen verwendet; »Werckmeister Harmonien« ist erst die zweite Inszenierung hier seit Wiedereröffnung des Hauses nach der Sanierung. Welche Möglichkeiten bietet der Raum für eure Arbeit?

TL: Das Thema des Kosmos steckt ja schon im Namen des Raums. Ein leerer weißer Raum, in dem Klaviere herumfahren – diese Vorstellung habe ich als sehr passend empfunden. Als ich bei einer Führung durch die Staatsoper zum ersten Mal in den Saal kam, wurde tatsächlich gerade für ein Konzert ein Cembalo gestimmt. Dieser Mann, der in dem großen, leeren Saal einen einzigen Ton wieder und wieder spielt bis er stimmt, das hat mir sehr gefallen. Draußen wartete schon das Publikum, aber der Spezialist war noch nicht ganz zufrieden. Das war eigentlich der Auslöser für dieses Projekt. Der Raum mit seinem klassischen Aussehen ist ein Aufführungsort, ein Kulturtempel. Dass hier Spezialist:innen im Verborgenen wirken, um die richtige Stimmung zu erreichen, erinnert mich an Archimedes, der gesagt hat: »Gebt mir einen festen Punkt und ich werde die Welt aus den Angeln heben.« Beim Klavierstimmen ist es bereits schwierig, einen festen Punkt zu definieren. Was ist denn ein C, wer definiert das? Unser Abend baut auf der Suche nach dem Grundton auf. Und das Bild dieser Spezialist:innen, die sich im Kulturtempel verbunkern, um in Ruhe und »splendid isolation« ihre Klaviere rein stimmen zu können, während draußen ganz andere Grundlagen ins Rutschen geraten – das hört man dann vielleicht durch die Wände oder abgeschlossenen Türen –  das hat mich auch beschäftigt.

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