Mozart und Mahler – meine ersten Otmar-Suitner-Schallplatten

Otmar Suitner, der von 1964 bis 1991 Generalmusikdirektor der Staatsoper Unter den Linden war, hätte am 16. Mai seinen 100. Geburtstag gefeiert. Dr. Detlef Giese erinnert sich an seine Lieblingsaufnahmen mit Suitner.

Mozarts »Zauberflöte« – fein angestimmt erschien jede Ausdrucksnuance

In der vorpommerschen Provinz, wo das Land weit ist und der Weg zum nächsten Opern- oder Konzerthaus noch weiter war, hatte ich das Glück, schon in jungen Jahren Otmar Suitner zu hören. Zwar nicht live und in auratischer Präsenz, dazu hat sich leider nie die Gelegenheit ergeben, wohl aber auf der Schallplatte, damals ein treuer Begleiter und Katalysator meiner stetig wachsenden Musikbegeisterung. So lag unter dem Weihnachtsbaum, es war zu Beginn der 80er Jahre, für einen kleinen Jungen, der gerade dabei war, die unendliche Welt der Oper für sich zu entdecken, eine Aufnahme von Mozarts »Zauberflöte« bereit, drei schwarze Eterna-Platten in einer gelbbraunen Pappverpackung. Immerhin, einige der Sängernamen waren mir schon bekannt, der schönstimmige Peter Schreier als Tamino und der bedeutungsvolle Worte singende und sagende Theo Adam als Sarastro etwa, andere lernte ich rasch kennen: Helen Donath mit ihrem Silberklang als Pamina, Sylvia Geszty als koloraturenreiche Königin der Nacht und andere mehr. In den kommenden Jahren habe ich diese Platten, zumeist ohne Pause hintereinander weg, so häufig gehört, dass ich mir eine andere »Zauberflöte« hätte gar nicht vorstellen können. Es klang so leicht und durchsichtig, so vollkommen natürlich und in keiner Weise angestrengt, diese wundersame Musik Mozarts. Fein angestimmt erschien jede Ausdrucksnuance, sofort ansprechend und auch beim wiederholten Hören immer noch interessant. Nach wenigen Wochen schon war mir jedes Wort und jede Geste geläufig, auch der Klang der Staatskapelle Dresden, die Otmar Suitner dirigierte. Es waren Stunden tiefer innerer Versenkung in diese Kunst, in das Werk wie in die Aufführung, mit dem unbewussten Gefühl, dass hier etwas wahrhaft Großes, weit größer als das eigene Selbst, seinen Einfluss und seine Kraft entfaltete.

»Die Hochzeit des Figaro« – temporeich und federnd

Ein halbes Jahr, es dürfte zum Geburtstag gewesen sein, gab es die nächste Mozart-Oper. Drei Platten auch diesmal, mit gleicher optischer Erscheinung, auf dem Cover stand »Die Hochzeit des Figaro«. Obwohl ich schon wusste, dass es sich eigentlich um ein Stück in italienischer Sprache handelte, war ich nicht unglücklich, dass auf Deutsch gesungen wurde – selbst ein Wort wie »Pizza« kannte ich damals mangels eigener Erfahrung noch nicht. Dafür aber waren ein paar Namen schon keine unbekannten mehr, allen voran Otmar Suitner, der auch diesmal dirigierte. Rasant und hochlebendig kam die Ouvertüre daher – so temporeich und federnd habe ich diese Musik später nie mehr gehört. Und die Sängerinnen und Sänger haben mich sehr beeindruckt, in ihrer stimmlichen Qualität und ihrem Ausdrucksvermögen: Hilde Güden als Gräfin, Anneliese Rothenberger als Susanna, Edith Mathis als Cherubino, Walter Berry als Figaro und nicht zuletzt Hermann Prey als Graf. Dass sie allesamt aus dem Westteil Deutschlands stammten und dort sangen, war mir ebensowenig klar wie die Tatsache, dass Otmar Suitner Österreicher war. Aber warum sollten sie nicht alle gemeinsam musizieren, an einem Ort wie Dresden, wo man gerade wieder die prächtige Semperoper aufbaute?

Nach und nach erfuhr ich mehr über Otmar Suitner. Dass er die beiden Staatskapellen in Dresden und in Berlin leitete, dass er Mozart, Wagner und Strauss besonders mochte, dass er sowohl Opern als auch Konzerte dirigierte. Und ich habe mich schon damals gewundert, was einen Österreicher denn wohl animiert hatte, in die kleine graue DDR zu wechseln. So Manches schien erklärungsbedürftig, auf das Meiste gab es auch keine Antwort. Entscheidend blieb die Musik, immer wieder die »Zauberflöte«, immer wieder auch der »Figaro«, in der Lesart und im Klangempfinden Otmar Suitners. In den Momenten des Hörens erschien alles in einer beruhigenden Weise »richtig« zu sein, in höchstem Maße stimmig, als ob es gar nicht anders sein könnte.

Mahlers »Auferstehungssinfonie« zieht die Hörenden unweigerlich in ihren Bann

Und dann gab es da noch eine Doppelschallplatte, die ich in den späten 80ern so oft gehört habe wie kaum eine andere. Vergleichsweise schmucklos war sie aufgemacht, mit einem roten Cover, einem Bild Gustav Mahlers sowie weißen und schwarzen Lettern. In Weiß stand groß der Name des Komponisten, in Schwarz der Titel des Werkes sowie die Namen derjenigen, durch die es zu Klang geworden ist. »Sinfonie Nr. 2 c-Moll« war da zu lesen (auf den Beinamen »Auferstehungssinfonie« hatte man wohl bewusst verzichtet), ebenso »Otmar Suitner«, beileibe ja kein Unbekannter mehr, dazu »Chor der Deutschen Staatsoper« und »Staatskapelle Berlin«. Dass ich viele Jahre später einmal das Glück und Privileg haben sollte, für diese Institution und dieses Orchester zu arbeiten, war zu diesem Zeitpunkt, als die Platte mit der roten Hülle vor mir lag, beim besten Willen nicht zu ahnen.

Unzählige Male wohl habe ich diese Sinfonie gehört, mit und ohne Partitur, zu Hause und auswärts, auch auf den Wegen durch das Städtchen und auf Reisen. Ein guter Freund, großer Fan von Udo Lindenberg, half mir mit seinen Gerätschaften, diese Musik auf Kassette (aus Ostproduktion) zu überspielen, um sie dann auf einem Walkman (aus Westproduktion) abzuspielen. Über viele Jahre hat sie mich begleitet.

Höreindrücke verändern sich mit der Zeit, das ist bekannt. Erinnerungen können täuschen, auch das ist kein Geheimnis. Die ernsthafte Begegnung mit Mahlers Musik kann kaum anders als tiefgehend sein, es ist keine Kunst, die an der Oberfläche bleibt. Gerade die 2. Sinfonie zieht die Hörenden unweigerlich in ihren Bann, mit ihren monumentalen Klangausbrüchen wie mit ihren verinnerlichten Passagen. Wenn Uta Priew, einfühlsam begleitet von Otmar Suitner und der Staatskapelle Berlin, das »Urlicht« singt, scheint die buchstäblich »andere Welt« nicht fern, wenn das Orchester von innen heraus dynamisiert wird, der Klang organisch an- und wieder abschwillt, wenn die Musik mal das Idyllische und mal das Dämonische hervorkehrt, das Wilde wie das Besänftigende, mal im Stillstand verharrt und mal unbändige Bewegungsenergie ausstrahlt, so ist damit ein expressiver Reichtum ohnegleichen erreicht. Und ich kenne kaum eine andere musikalische Umsetzung, wo dies so offenbar wird wie in dieser Aufnahme, die nunmehr fast vier Jahrzehnte alt ist. Wenn ich Otmar Suitner, die Staatskapelle Berlin und Mahlers Zweite heute höre, öffnet sich ein zuweilen ein Fenster in die Vergangenheit. Es ist eine Musik, die auf eine eigentümlich geheimnisvolle Weise mit der eigenen Geschichte zu tun hat. Und obwohl ein Dirigent und Musizierende als gestaltende Subjekte am Werk waren, Anfang der 80er Jahre in der Christuskirche in Berlin-Oberschöneweide, so scheint sie doch ganz bei sich selbst zu sein, diese Musik, die eine ganze Welt umfasst.

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