KAIN SIND WIR

Das Böse kennt keinen  Trost. Kain erschlägt seinen Bruder Abel und begeht damit den ersten Mord in der Geschichte der Menschheit. Die Empfindung von Neid, Ungleichheit und Ungerechtigkeit als Ursprung unmoralischen Handelns und Selbstjustiz ist das Thema von »Il Primo Omicidio«. In der Inszenierung von Romeo Castellucci wird das selten aufgeführte Werk zur Meditation über die Bedingung des Menschseins. Nachfolgend findet Ihr ein Interview mit dem Regisseur.

Welche Themen stehen für dich bei »Il Primo Omicidio« im Fokus?
Mich interessiert die Präsenz des Bösen in den Menschen, das Verhältnis zwischen Bösem und Schönheit und die paradoxe Geschichte der Liebe in der Entstehungsgeschichte der Genesis. Das zeigt sich besonders an einer Figur: Kain ist ein komplexer Charakter. Er ist uns sehr nah. Ein Verräter wie wir alle, wie wir alle die Liebe verraten. Durch die Einwirkung einer äußeren Kraft begeht er eine Tat, die er nicht begehen möchte. Er wird Teil eines göttlichen Plans, das Böse in die Welt zu bringen.
Seine Schuld ist paradox, denn er ist nicht wirklich schuldig. Kain hat noch keinen Begriff vom Tod, denn er weiß nicht, was der Tod ist. Deshalb kann man ihn nicht schuldig nennen. Er konnte die Konsequenzen seiner Tat nicht absehen. Die Bibel erzählt, dass Kain Abels Leiche versteckt habe. Was steht dahinter? Möglich sind verschiedene Interpretationen: So stellt das Begräbnis eine Geste der Zuneigung und der Liebe dar.
Er ist schmerzerfüllt, er freut sich nicht über den Tod. Kain wird als Mann des Schmerzes bezeichnet, als jemand, der den Schmerz als Last tragen muss. Im Libretto von Ottoboni verdammt Gott Kain zu einer paradoxen Strafe: Er verurteilt ihn nicht zum Tod, er verurteilt ihn zum Leben. Kain ist dazu verdammt fortzulaufen. Er gründet Städte, erfindet Maße und Gewichte. Einigen Traditionen zufolge erfindet er sogar die Musik. Er ist ein Mensch der Zivilisation.

In dieser Inszenierung gehe ich bewusst auf die Tatsache ein, dass es sich um ein Oratorium handelt, indem es Momente gibt, in denen man nur zuhört, in denen es wenig zu sehen gibt.

»Il Primo Omicidio« ist ein selten aufgeführtes Oratorium von Alessandro Scarlatti. Lange Zeit war das Werk verschollen. Was ist die Herausforderung im szenischen
Umgang mit dieser musikalischen Form?
Das Oratorium hatte zur Zeit des Barock eine andere Funktion als die Oper. Es war ein Akt der Meditation über ein Thema. Es gab nichts zu sehen, man hatte die Augen geschlossen. Oratorien waren Teil des kirchlichen Katechismus, um denjenigen, die nicht lesen konnten, bedeutende religiöse Stoffe zu vermitteln. Es gibt den Moment der Kontemplation. Oper ist hingegen theatralisch. Die Oper entstand zur selben Zeit wie das Oratorium, aber mit der Funktion, die Menschen in Staunen zu versetzen. In dieser Inszenierung gehe ich bewusst auf die Tatsache ein, dass es sich um ein Oratorium handelt, indem es Momente gibt, in denen man nur zuhört, in denen es wenig zu sehen gibt. Es ist ein beständiger Fluss, aber kein Bilderstrom, denn die meditative und kontemplative Dimension war mir wichtig.

Durch den Mord wird alles konkret. Wir gelangen von der idealen Welt in die Härte der Realität. Die Realität als Verurteilung. Wir sind dazu verurteilt zu leben. Es ist kein Paradies, sondern ein brutales, schwer zu kultivierendes Feld.

Das Werk besteht aus zwei Teilen, die sich auch visuell voneinander unterscheiden. Der erste Teil ist atmosphärisch und abstrakt, der zweite zeigt hingegen konkrete
Situationen…
In den beiden Akten verwende ich zwei unterschiedliche Strategien: Im ersten Akt gibt es verschiedene Verweise auf die Malerei, auf die Kunstgeschichte des Barock. Die Körper der Sängerinnen und Sänger nehmen gemäldeartige Posen ein. Die Aktionen sind nahezu zweidimensional. Hinter ihnen befindet sich eine Welt, die noch im Entstehen begriffen ist. Wir sind noch im Paradies, in dem es kein Verbrechen gibt. Die Bilder und Farben sind erst dabei, sich herauszubilden. Es gibt nichts Konkretes, alles liegt wie im Nebel, die Unschärfe hat auch eine theologische Dimension. An einer Stelle gibt es einen konkreten Bezug auf ein Gemälde von Simone Martini, das verkehrt herum vom Schnürboden hinunterfährt, wobei die Kuppelspitzen wie eine Guillotine wirken. Dieses Gemälde stellt Eva dar, eine sehr faszinierende Figur. Wie auch Maria erhält Eva eine Verkündigung von der teuflischen Schlange. Beide zählen zu den großen Verkündigungen aus der Bibel und bei beiden handelt es sich um Mütter. Dass sich »Ave« und »Eva« spiegeln und es eine Verbindung zwischen ihnen durch die Verkündigung gibt, hat zuerst Dante festgestellt. Aus dem Gemälde wie auch aus der Barockmalerei insgesamt haben wir Gesten und Ikonografien entnommen. Im zweiten Akt dagegen, der den Mord enthält,
wird es absolut konkret. Wir sind auf einem Feld. Vermutlich auf dem Feld von Kain, dem Bauern, dort wo der Brudermord stattfindet. Durch den Mord wird alles konkret. Wir gelangen von der idealen Welt in die Härte der Realität. Die Realität als Verurteilung. Wir sind dazu verurteilt zu leben. Es ist kein Paradies, sondern ein brutales, schwer zu kultivierendes Feld. Hier kommt es zur Begegnung zwischen den beiden menschlichen Kulturen: dem Jäger und Sammler und dem Bauern. Eine große Auseinandersetzung zwischen zwei Arten und Weisen das Leben, die Kultur aufzufassen.

Kinder hier auf der Bühne einzusetzen, unterstreicht die Idee der Unschuld. Ein Kind ist per Definition unschuldig. Auch in der Ikonografie und der Malerei sind Kinder immer unschuldig.

Im zweiten Teil übernehmen Kinder größtenteils die szenischen Aktionen der Sängerinnen und Sänger, so auch den Brudermord…
In dem Moment, in dem der Mord geschieht, wird alles zu einem Spiel von Kindern. Die Geste Kains, welche die Menschlichkeit versiegen lässt, ist ein Schlag. Eine Geste, welche die Natur des Menschen verändert. Kinder hier auf der Bühne einzusetzen, unterstreicht die Idee der Unschuld. Ein Kind ist per Definition unschuldig. Auch in der Ikonografie und der Malerei sind Kinder immer unschuldig. Der Anknüpfungspunkt ist, die Perspektive umzudrehen, dass Kain der Schuldige und Gott der Richter ist. Durch die Unschuld der Kinder wird der Richter verurteilt, Gott wird verurteilt. Warum hat Gott das Böse zugelassen, es für die Menschen gewollt? Gott bevorzugt das Opfer von Abel und nicht die Früchte Kains. Die Bibel gibt dafür keinen logischen Grund an, warum Gott Abel bevorzugt. Es gibt die Hypothese, dass Abel Blut opfert. Abel ist der erste Schlächter und möglicherweise ist Kain aus Liebe eifersüchtig, nicht aus Hass. Kain macht dasselbe wie Abel, er opfert Gott seinen Bruder. Er bringt ihm auch ein Blutopfer dar. Meiner Meinung nach ist das eine Art Geschenk, die Kain im Grunde nicht versteht. Es ist eine infantile Nachahmung, die einem Wunsch nach exklusiver, alleiniger Liebe entspringt.

Meiner Meinung nach hat der Mord von Kain etwas Unschuldiges.

»Il Primo Omicidio« beschreibt den ersten Mord in der Geschichte der Menschheit. In deinen Inszenierungen spielt das Heilige im Zusammenhang von Gewalt oftmals
eine Rolle. Was interessiert dich an diesem Spannungsfeld?
Das Heilige und die Gewalt sind zwei untrennbare Worte. Sie bilden immer ein Gegensatzpaar. Das Theater ist eine künstlerische Ausdrucksform, die auf allen Ebenen von Gewalt handelt, schon immer. Die Gewalt bestimmt darin alles, vor allem die Sprache. Beim Sprechen erfahren wir Gewalt. Die Gewalt besteht nicht nur in blutigen Stereotypen, sondern sie geht weit tiefer und verborgener. Aus diesem Grund ist meine Inszenierung von »Il Primo Omicidio« vielleicht nicht »gewaltvoll«. Viele fragten mich
auch mit einer gewissen Enttäuschung, warum dem so ist. Sie erwarteten etwas viel Blutigeres. Meiner Meinung nach hat der Mord von Kain etwas Unschuldiges. An dieser Stelle könnte man von der Religion in einem weiteren Sinn sprechen. Die Gewalt und die Religion sind das Theater, auch da wo es kein Thema ist. Das Theater hat eine zutiefst religiöse Natur. Es geht nicht um konkrete Religion, sondern um die Wurzeln des Menschen.

Ein Theaterstück ist kein in sich geschlossenes Objekt, es hat viele Löcher, viele Schattenseiten. Paradoxerweise könnte man sagen, dass ich eine Sache zeige, aber wichtiger ist, was verborgen bleibt.

Wenn du ein Stück inszenierst sind Figuren keine Figuren im eigentlichen Sinn, sondern Denkräume, der Text oftmals nur ein Ausgangspunkt für eine Reihe von
Assoziationen…
Manche Figuren oder auch Bilder sind Systeme welche die narrative Linie unterbrechen, sie bilden Scharniere, die dich dazu zwingen innezuhalten.
Sie eröffnen eine andere Welt und so ist es möglich, die narrative Linie anderswohin
zu verlassen. Es gibt keine Erklärungen. Es gibt keine zu übermittelnden Botschaften,
sondern nur Wege. So muss das Publikum vor jedem Scharnier den Blick neu ausrichten. Ich versuche mich von Inhalten zu befreien, in dem Sinn, dass es nicht einen Inhalt gibt, sondern zwei, drei … zwanzig Inhalte. Auch das ist die Aufgabe der Bilder. Meiner Meinung nach funktioniert eine Aufführung gut, wenn es Teile gibt, die fehlen, Leerstellen. Die narrative Linie ist nicht komplett kohärent, es fehlen Teile darin. Dieser Mangel enthält Informationen vor, das ist sehr gut, weil die Abwesenheit dieser Informationen einen für die Zuschauenden verfügbaren Raum schafft. Ein Theaterstück ist kein in sich geschlossenes Objekt, es hat viele Löcher, viele Schattenseiten. Paradoxerweise könnte man sagen, dass ich eine Sache zeige, aber wichtiger ist, was verborgen bleibt.

Du hast einmal gesagt, das Publikum sei ein Monarch. Es entscheidet, was es sieht, es hat die Macht …
Ja! Der Künstler sollte verschwinden. Die Idee ist, dass der Künstler sich diesem Geflecht entzieht, das bezieht sich auch auf diese Zeit, in der Zuschauersein etwas Essentielles und Politisches bedeutet. Heute sind wir alle Zuschauende, 24 Stunden am Tag. Allerdings ohne die Möglichkeit, zu wählen. Das ist das Problem. Das ist auch die Angst. Die wahre Macht liegt in der Kommunikation. Kunst soll den existenziellen, politischen Zustand heute reflektieren das ist das Wesen des Zuschauens.

Theater hat nichts mit Freiheit zu tun. Die Kunst nähert sich Grenzen an. Was sind die
Grenzen? Für mich die wirkliche Gewalt und wirkliches Blut.

Welche Rolle spielt Angst, Mut und Kontrollverlust in der Radikalität deiner Bilder?
Theater hat nichts mit Freiheit zu tun. Die Kunst nähert sich Grenzen an. Was sind die
Grenzen? Für mich die wirkliche Gewalt und wirkliches Blut. Sich die Pulsadern aufzuschneiden auf der Bühne wäre naiv. Das Theater ist kein Ort der Wahrhaftigkeit, es ist der Ort der Falschheit. Wenn ich Bilder suche, suche ich die dichtesten und radikalsten, das gebe ich zu. Manchmal ist das radikalste Bild jedoch paradoxerweise auch das banalste. Es ist eine ständige Suche, es gibt dabei keine feste Vorgehensweise. Was ist Radikalität? Zu den Wurzeln vorstoßen, die Quelle der Quelle der Quelle finden.

Man muss das Böse annehmen, also genau das Gegenteil: Der Bad Guy bin ich, Romeo Castellucci.

Was hat »Il Primo Omicidio« mit uns heute zu tun?
Ich glaube an die Wirkung des Theaters als Gift. Im Theater vertieft man sich in das Böse in uns selbst. Nicht in den Anderen. Es geht nicht darum, zu sagen: Wir hier im Saal sind die Guten, die anderen sind die Bösen. Kain sind wir. Ich bin Kain. Ich und nicht irgendein grausamer Herrscher auf der Welt. Es wäre stereotyp, sich auf die Seite der Guten zu stellen. Das ist meiner Meinung nach nicht die Funktion des Theaters. Es ist ein Sprung ins Dunkle, eine Reise ins Ungewisse. Es gibt nichts Entgegenkommendes, es gibt nichts Tröstendes. Wenn ich jemand Anderen denunzieren kann, erleichtert es mich persönlich. Man muss das Böse annehmen, also genau das Gegenteil: Der Bad Guy bin ich, Romeo Castellucci. Aber auch die Zuschauerinnen und Zuschauer sind nicht unschuldig. Das Zuschauen ist kein unschuldiger Akt, Zuschauen ist eine Bürde. Das Theater kann mächtig sein, wenn der Blick mit einem Zustand von Wachheit einhergeht.
Das ist heute sehr wichtig, wenn Bilder produziert werden, um Ängste und Wünsche zu
erzeugen, um zu töten – und jetzt nicht als Metapher. Man führt Kriege, um ein Bild zu erzeugen. Ich finde, dass das Theater wie auch die Kunst ein Ort ist, in dem das Verhältnis der Bilder und unseres Schauens eine Bedeutung zukommt.

 

Das Gespräch führte Jana Beckmann.

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