LINDEN 21 Produktion »DIE ARABISCHE NACHT« – Eine Stadt in einem Haus

Regisseur Marcin Łakomicki, Bühnen- und Kostümbildnerin Leonie Wolf und Dirigent Philipp Armbruster im Gespräch mit Dramaturg Benjamin Wäntig.

BENJAMIN WÄNTIG Zu den Besonderheiten von Roland Schimmelpfennigs Schauspiel »Die arabische Nacht« wie auch der Vertonung von Christian Jost gehört, dass von Anfang an die Grenzen von Traum und Realität verschwimmen, sodass man beides kaum auseinanderhalten kann. Wie habt ihr euch diesem Text genähert?

MARCIN ŁAKOMICKI Es war ein bisschen so wie bei Beziehungen im richtigen Leben: Wenn man eine Person kennenlernt, versteht man sie auch nicht sofort. Ich habe diesen Text erst nach und nach auf dem Weg zu unserer Produktion entdeckt. Am Anfang war mir nicht klar, wovon er im Wesentlichen handelt: von der Liebe, von der Beziehung der beiden Mitbewohnerinnen Franziska und Fatima, von Traum und Albtraum? Erst nach und nach habe ich verstanden, wie in diesem Stück der übliche Antagonismus in Geschichten von Realität und Traum nicht greift. Die Stockwerke des Mietshauses versinnbildlichen die verschiedenen Ebenen, auf denen die Geschichte spielt: Realität, Erinnerung, Traum. Per Fahrstuhl bewegen wir uns permanent zwischen diesen Ebenen. Es geht in diesem Stück nicht darum, Dinge genau zu verstehen, sie genau einer dieser Ebenen zuzuweisen.

LEONIE WOLF Die Frage ist ja auch, ob es überhaupt eine allgemein gültige Realität gibt oder ob sich nicht jeder selbst seine individuelle Realität erschafft, in die ganz persönliche Erfahrungen, Erlebnisse und Träume hineinspielen. Es existiert also nicht die eine Realität, die wir erzählen wollen, sondern eine Vielzahl von Perspektiven in Parallelhandlungen. Der Reiz des Stücks besteht darin, nachzuvollziehen, dass jede Figur in ihrer eigenen Realität lebt; weniger darin, bestimmen zu können, zu wie viel Prozent sich diese aus Träumen und Surrealem speist.

MŁ Von Sartre stammt der Ausspruch »Die Hölle, das sind die anderen«. Das ist auch hier so: Du bist mein Traum, ich bin dein Albtraum. Oder eine Erinnerung. Aber in dem Moment, in dem sich eine Figur befindet, wird all das zur Realität.

LW Die Individualität des Blickwinkels wird ja immer dann deutlich, wenn sich zwei Menschen an ein scheinbar gleiches Ereignis erinnern. Diese Erinnerungen sind nie deckungsgleich.

BW Der Librettotext zeigt diesen Mechanismus strukturell auf, indem er gleichzeitig als Textfläche wie auch als Figurenrede funktioniert. Man könnte ihn wie folgt beschreiben: Es ist ein großer zusammenhängender Monolog, der auf verschiedene Figuren aufgeteilt ist, die voneinander unabhängig über dasselbe nachdenken und sich dabei die thematischen Staffelstäbe überreichen, aber ganz assoziativ, ohne dass dem eine kausale Handlungslogik zugrunde liegt.

LW Genau diese Offenheit wollten wir beibehalten, statt sie durch die Festlegung in Reales und Erdachtes zu erklären – was ohnehin kaum gelingen kann.

Philipp Armbruster Schimmelpfennigs Stück wie Christian Josts Oper funktionieren beide strukturell auf einer spielerischen Ebene. Josts Spielfeld ist beispielsweise geprägt von wiederkehrenden Themen wie dem, das mit Wasser verknüpft ist, das Hausmeister Lomeier aus den Wänden hört. Wasser ist ja eine wichtige Chiffre für den ganzen Text: Man kann hineintauchen in einen anderen Aggregatzustand und findet unter der Oberfläche unter Umständen etwas ganz anderes.

BW Was sind denn neben diesen strukturellen Themen die »inhaltlichen« Hauptthemen, um die das Stück kreist?

MŁ Für mich vor allem das Thema Einsamkeit. Ich habe lange in einem Plattenbau gewohnt: fünf Treppenhäuser, fünf Stockwerke und drei Wohnungen pro Etage. Ich weiß noch genau, dass es 81 Stufen bis zum vierten Stock gab. Ich habe auch noch durchaus Erinnerungen an die Nachbar:innen, aber ihre Namen oder Berufe kannte ich nie. Was auch immer in den einzelnen Wohnungen passiert, die Familien drum herum bekommen es nicht mit. Eine Stadt in einem Haus, doch man ist sich fremd.

LW Handelt es tatsächlich von Einsamkeit, einem individuellen Gefühl, oder eher von Isolation, also dem Phänomen von außen betrachtet? Der Grundgedanke des Plattenbaus ist ja zunächst die Idee der Gleichheit zwischen allen Bewohner:innen gewesen.

BW Trotz aller Kommunikationsprobleme zwischen den Figuren dekliniert das Stück verschiedene Möglichkeiten der sozialen Interaktion in einem solchen Wohnblock durch: die Mitbewohnerinnen, die Nachbarinnen, die man kennt, der Hausmeister, der als verbindendes Element mit allen spricht, oder in einem ähnlichen, aber einseitigen Sinn auch der Spanner von gegenüber, der alles mitanschaut.

MŁ Interaktion, der Wunsch nach Austausch liegt in der menschlichen Natur. Ohnehin kommen alle grundlegenden emotionalen Zustände des menschlichen Miteinanders – Leidenschaft, Eifersucht, Hass – in dem Stück vor. Allerdings nicht gerade mit einem optimistischen Ausgang.

BW Die Musik stützt meiner Auffassung nach eher die beschriebene Monologstruktur des Textes, als sie den einzelnen Rollen z. B. durch Klangfarben eigene Profile verleiht. Oder unterscheiden sich die Figuren durch die Handhabung der Gesangsstimmen?

PA Die weiblichen Hauptrollen Franziska und Fatima unterscheiden sich doch deutlich. Fatima hat zwei längere solistische Repliken, eine in der Mitte, die zweite gegen Ende, letztere in fast unverblümten b-Moll nur von Klarinette, Vibraphon und Bassklarinette begleitet. In ihrer monodischen Schlichtheit haben diese Stellen geradezu Weill’sche Qualitäten. Franziskas Musik dagegen, etwa in ihren beiden langen Traumsequenzen, ist häufig sehr bildlich mit ihren Trillern, Arabesken und Koloraturen zur Schilderung orientalischen Kolorits, wobei ihre Musik damit eher an der Oberfläche bleibt. Die übrigen Figuren »schwimmen« in einem einheitlicheren Klangstrom.

BW Wie würdest du Christian Josts Musik im Grundsätzlichen charakterisieren?

PA Seine Musik zeichnet eine hohe Dichte aus. Sie besteht häufig aus vielen miteinander verwobenen Schichten, vielen solistischen, auch hochvirtuosen Passagen der Instrumentalist:innen, bewusst am Limit der Spielbarkeit komponiert. Es ist an einigen Stellen gar nicht einfach, ihre vielen Noten mit den Gesangsstimmen in meist längeren Notenwerten zusammenzubekommen und dabei sowohl Spielbarkeit als auch natürlichem Sprachduktus Rechnung zu tragen.

Zu den besonderen Herausforderungen der Partitur zählt ihre Struktur als Raumkomposition durch die Teilung in zwei Orchester, die zwar direkt nebeneinandersitzen, aber dennoch ergeben sich Stereoeffekte aus dem Wechsel zwischen links und rechts. Dabei geht es häufig um rhythmisch sehr komplexe Muster, nicht selten in schnellen Tempi, woraus sich auch trotz schwerer Ausführbarkeit der ungeheure Drive vieler Passagen erklärt.

BW Zu den szenischen Herausforderungen gehört eine sprachliche Eigenheit von Schimmelpfennig: Er hat Regieanweisungen gleichsam als Teil der Figurenrede integriert. Wie geht man damit um?

LW Von Anfang an war uns als allgemeines Spielprinzip klar, diese Regieanweisungen nicht zu doppeln, also wörtlich auszuspielen und zu bedienen.

MŁ Die Konsequenz dieser gesprochenen Regieanweisungen – oder sagen wir: verbalen Beschreibungen eigener oder fremder Handlungen – ist, dass sich kein realistischer Dialog zwischen Figuren entfalten kann, was den bereits erwähnten Aspekt der Isolation unterstreicht. Adressat ist immer das Publikum. Szenisch haben wir versucht, verbal formulierte Vorgänge immer durch die gezeigten zu kontrastieren – eine Diskrepanz, die das Spiel mit Realitätsebenen auf die Spitze treibt.

BW Welche Auswirkungen hatte die Anlage des Stücks als Ausgangspunkt für die Ausstattung?

LW Fundamental war mir hier die Gleichwertigkeit der Figuren, die sich auch in der Wiederholung der Struktur des Bühnenbildes widerspiegelt. Auch die Kostüme geben keine Priorisierung vor. Daraus, dass alle fast durchgehend auf der Bühne präsent sind, ergibt sich analog zur Vielstimmigkeit von Text und Musik die Notwendigkeit, parallele Handlungen auf der Spielfläche zu ermöglichen. Außerdem haben wir uns entschieden, das Stück vor allem durch die Kostüme in der Zeit der 1980er Jahre anzusiedeln, also auch deutlich vor der Entstehungszeit des Schauspiels 2001, um die zeitliche Distanz dazu etwas zu vergrößern. Gerade in Bezug auf Orientklischees haben sich unsere Maßstäbe in den letzten 20 Jahren verschoben, sodass dem Text eine gewisse Historizität innewohnt, was diese Verortung unterstreicht.

Ganz grundsätzlich standen wir vor der Herausforderung, für die nicht ganz kleine Orchesterbesetzung in einem einfachen Saal eine Raumlösung zu finden: hinter der Spielfläche, durch einen Schleier getrennt, aber durch die Fenster optisch trotzdem zugehörig.

BW Was ist denn die Bedeutung des titelgebenden »arabischen« Elements, das sich vor allem in Franziskas und Lomeiers Orientträumen äußert? Sie träumt von ihrer Entführung als Heranwachsende in den Harem eines Scheichs, der sie entjungfert und eine eifersüchtige Nebenbuhlerin hinrichten lässt, die als letztes einen Fluch über sie ausspricht; er träumt von der Hochzeitsreise mit seiner inzwischen verstorbenen Frau nach Istanbul und hat eine Vision in der Wüste. Diese Träume reproduzieren einerseits eurozentristische Klischeebilder, stellen sie aber auch teilweise ironisch auf den Kopf. Handelt es sich »nur« um Produkte ihrer Fantasie?

MŁ Vordergründig geht es um eine märchenhafte Sphäre, wie wir sie aus »Tausendundeine Nacht« kennen und die den Gegenentwurf zur Alltagstristesse bildet. Über das Alltagsleben lässt sich so poetisch nicht sprechen. Gleichzeitig lässt sich mit so einer Flucht aus der Realität auch der graue Alltag gut vergessen.

PA Franziska gibt darüber hinaus in ihrem Traum ja mögliche Erklärungen für ihre psychischen Auffälligkeiten, oder sie baut sich, überspitzt gesagt, eine Story für ihre Psychose, die vielleicht wirklich auf einem Übergriff oder einem traumatischen Erlebnis fußt. Und sie überhöht sich selbst in dieser Geschichte. Das ähnelt dem, was wir bei Avataren in Computerspielen sehen.

BW Das Setting des Stücks wäre eigentlich eine Einladung zu einer Sozialstudie, es schlägt dann aber durch diese Flucht der Hausbewohner:innen in ihre eigenen Gedankenwelten eine ganz andere Richtung ein. Seht ihr in dem Stück ein Plädoyer für Fantasie?

LW Auf der einen Seite ja, andererseits zeichnet es schon Vertreter:innen einzelner gesellschaftlicher Gruppen, natürlich keines kompletten Panoramas. Aber es geht vielleicht eher um gesellschaftliches Miteinander als um soziale Herkunft.

MŁ Im Verlauf der Arbeit ist für mich die Beziehung der beiden Mitbewohnerinnen, die auf einer eher unbewussten Ebene in einem ständigen Wettbewerb miteinander sind, auch immer wichtiger für das ganze Stück geworden. Ich habe den Eindruck, dass sie dabei wie Kinder agieren, ganz haltlos. Dazu kommt, dass die Figuren, eigentlich alle, kaum eine Entwicklung im Stück durchmachen.

LW Am ehesten Fatima, die mit ihrer Rache an Kalil aus ihrer anfänglich genügsamen Rolle ausbricht.

MŁ Die beiden Ariosi, die Philipp erwähnte, Fatimas Beschreibung von Franziska und dem Tag ihres Einzugs, zeigen allerdings auch musikalisch kaum eine Entwicklung.

PA Das stimmt, denn gerade die zweite Stelle ist merkwürdig meditativ inmitten einer eigentlich sehr aufgepeitschten Passage. Macht nicht Lomeier eine Entwicklung durch, indem er sich im Traum an seinen eigenen Dämonen, nämlich den Erinnerungen an seine Frau Helga, abarbeitet? Die musikalische Erlösung hin zum Dur-Tonalen am Schluss scheint das ja zu unterstützen.

BW Aber können wir wirklich davon ausgehen, dass die Geschichte für Franziska und Lomeier ein Happy End nimmt? Dass sie ein Paar werden, ganz zu schweigen ein dauerhaftes, ist doch eher unwahrscheinlich, zumal wir am Ende überhaupt nicht mehr wissen, auf welcher (Ir)Realitäts- oder Traumebene sich ihre finale Annäherung ereignet. Trotz der Seligkeit parallel gesungener Terzen sehe ich in den letzten Takten der Musik eher ein offenes Ende.

PA Es gibt ja tatsächlich keine Hauptrolle, mit der man sich emotional identifizieren könnte. Was bleibt also nach dem im Nichts verschwindenden Schluss übrig außer Leere? Ich bleibe immer mit einem etwas schalen Gefühl zurück.

MŁ Ich finde, dass das Ende auch etwas Versöhnliches hat. Denn eigentlich ist die Geschichte doch ganz einfach: Wir haben acht Nachbar:innen in einem Wohnhaus, die sich treffen, reden, nicht-reden. Es ist eine Alltagsgeschichte; Handlungen müssen nicht immer in dramatischem Auf und Ab bestehen. Viele Passagen berühren mich sehr, etwa dieses Fatima-Arioso mit der prosaischen Beschreibung von Briefkasten und Fahrstuhltür. Man kann Schönheit auch an banalen Orten finden.

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