»Seine Position an der Schwelle zur Neuen Musik gleicht einem Pfeil, der einsam in die Höhe schießt.«

Pierre Boulez, der große französische Komponist und Dirigent, hat diese prägnanten Worte zu Claude Debussy gefunden, zu jenem Jahrhundertkünstler, der vor genau einem Jahrhundert verstorben ist. Einer der Revolutionäre der Musik ist er gewesen, jedoch kein lauter, der mit Klang- und Wortgewalt sich Gehör verschaffte, sondern ein leiser, der mit fein gesponnenen, raffiniert ausgestaltenen Partituren die Kunst der Musik am Ausgang des 19. Jahrhunderts nachhaltig zu verändern und zu erneuern wusste. Im Jahr seines 100. Todestages haben es sich die Staatsoper und die Staatskapelle zur Aufgabe gemacht, einen Großteil seines in vielfacher Hinsicht außergewöhnlichen Orchesterwerks der Öffentlichkeit zu präsentieren.

Klarheit und Natürlichkeit, jene Ideale, welche die französische Musik seit jeher auszeichneten, waren Debussy ebenso ästhetische Leitbilder wie das Bestreben, ein nuanciertes Farbenspiel mit den Klängen des Orchesters zu initiieren, das ätherisch schwebend sich über die Erdenschwere der Tradition erhebt. Schon die Zeitgenossen bewunderten Debussys ausgefeilte Instrumentationskunst, die eine schier unendliche Zahl von Schattierungen an die klangliche Oberfläche brachte, mit einer eigentümlichen Wirkungsmacht.
Bekanntes, gar Populäres ist unter den Werken, die die Staatsoper Unter den Linden und die Staatskapelle Berlin in dieser Saison aufführen, darunter wahrhafte Trouvallien, Früh- wie Spätwerke, reine Instrumentalmusik wie Werke mit Einbezug von Gesangssolisten und Chor. Vor wenigen Tagen erst, im 7. Abonnementkonzert der Staatskapelle am 1. und 3. Mai, wurde dem Publikum ein »All Debussy«-Programm geboten, mit der Kantate »La Damoiselle élue«, der staunenswerten Komposition des 25-Jährigen und den späten „Trois Ballades de François Villon“ als zwei Vokalwerken, denen sich mit den »Nocturnes« und »La Mer« zwei farbenreiche Orchestertriptychons zur Seite stellten. Am Beginn der Saison stand, gleichsam programmatisch, eine Aufführung der »Images pour orchestre«, deren dreiteiliges Hauptstück, die von südlicher Sonne durchflutete und mit impulsiven spanischen Rhythmen aufwartende Satzfolge »Ibéria«, den ganzen Klangzauber, den zu erzeugen Debussy imstande war, eindrucksvoll erscheinen ließ. Zu den FESTTAGEN dann die eigentliche Entdeckung: die Musik zu Gabriele d’Annunzios Mysterienspiel »Le Martyre de Saint Sébastien«, zu dem bereits kurz vor Weihnachten ein Vorgeschmack gewonnen werden konnte, als Daniel Barenboim und die Staatskapelle die aus diesem 1911 entstandenen und uraufgeführten Monumentalwerk ausgekoppelten vier sinfonischen Fragmente spielten. »Le Martyre« selbst, in einer Fassung für Sprecherin, drei Vokalsolistinnen, großem Chor sowie großes Orchester geboten, hinterließ mit seinen unverkennbaren »Parsifal«-Anklängen, seinem feierlichen Gestus, seinem unverhüllten Pathos, aber auch seiner dramatischen Intensität merklichen Eindruck. Ein Chef d’œuvre Debussys ist es zweifellos, wenngleich kein allgemein anerkanntes. Man kennt seine Musik und seine Ästhetik jedoch nicht vollends, wenn man sich nicht wenigstens einmal dem »Saint Sébastien« zugewendet hat, von dem, so enigmatisch er auch sein und wirken mag, doch eine seltsame Faszination ausgeht.
Lohnend war gewiss auch die Begegnung mit einem mehr als zweieinhalb Jahrzehnten zuvor geschriebenen Stück, der »Fantasie« für Klavier und Orchester, die die Wunderpianistin Martha Argerich eigens für dieses FESTTAGE-Konzert einstudiert hat. Debussys spezielle Tonsprache, die er beizeiten ausbildete, zeigt sich bereits hier, ähnlich wie in »La Damoiselle élue«, die er zur gleichen Zeit, Ende der 1880er Jahre, geschaffen hat. Anna Prohaska lieh der »auserwählten Jungfrau« ihre Stimme, wie auch der »Seele Sébastiens« in »Le Martyre«, während Marianne Crebassa eine Reihe anderer, nicht minder wichtiger Gesangspartien anvertraut war.
Jetzt singt die französische Mezzosopranistin zum ersten Mal die Mélisande in Debussys einziger vollendeter Oper. Sie darf nicht fehlen, wenn im Jubiläumsjahr 2018 das Werk dieses Ausnahmekomponisten beleuchtet wird. Fast zehn Jahre benötigte er von der Idee bis zur Uraufführung von »Pelléas et Mélisande« nach dem Drama des belgischen Symbolisten Maurice Maeterlinck, fast ein Jahrzehnt stand auch die Inszenierung von Ruth Berghaus nicht auf dem Spielplan der Staatsoper. Im März 1991 hat sie Premiere gefeiert, inmitten der unruhigen Umbruchphase nach der politischen Wende, in der noch nicht abzuschätzen war, welchen Weg das Traditionshaus Unter den Linden wohl nehmen würde. Michael Gielen, der nachmalige »Principal Guest Conductor« der Staatskapelle dirigierte damals, 2018 nun ist es Daniel Barenboim selbst, der am Pult steht. Zum Ende des bewegten Jahres 1991 ist er zum Generalmusikdirektor der Staatsoper berufen worden, nur wenige Monate nachdem »Pelléas et Mélisande« in der inzwischen als »legendär« eingestuften Regie von Ruth Berghaus erstmals auf die Bühne gekommen ist.
Daniel Barenboim war auch die treibende Kraft des diesjährigen »Debussy-Zyklus«, der immerhin mehrere Sinfoniekonzerte, ein Klavierprogramm gemeinsam mit Martha Argerich (bei dem sie Originalwerke sowie hochoriginelle Transkriptionen Debussys für zwei Pianisten spielten) sowie die Wiederaufnahme von »Pelléas et Mélisande« (in Starbesetzung mit Marianne Crebassa, Rolando Villazón, Michael Volle, Anna Larsson und Wolfgang Schöne als den Protagonisten) umfasst. Man konnte und kann es erleben, wie bereichernd und innovativ Debussy auf die Musik seiner Zeit gewirkt hat, in beinahe jedem Takt und jeder Passage, die er komponiert hat. Subtil sind Schatten und Licht in den von ihm erfundenen und in immer neu kombinierten Klängen verteilt – im Sinne einer Kunst, die ob ihrer Eindringlichkeit und Ausdruckskraft unmittelbar anzusprechen versteht und auch dem bereits »Eingeweihten« unerschöpflich scheint. Der Pfeil, den Debussy an der Schwelle zur Neuen Musik hat emporschnellen lassen, wird so bald nicht zu Boden fallen.

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