Naturkräfte und Fenster in die Vergangenheit

Die deutsche Erstaufführung von »Ti vedo, ti sento, mi perdo« wird im Rahmen des Festivals für Neues Musiktheater INFEKTION! ab dem 7. Juli gezeigt. Die musikalische Leitung übernimmt Maxime Pascal, mit dem Dramaturg Benjamin Wäntig über die Komposition Salvatore Sciarrinos, warum auch in der Stille noch Klang ist, und wie modern Kompositionen Alessandro Stradellas klingen, gesprochen hat.

Maxime, was war dein erster Kontakt zur Musik von Salvatore Sciarrino?

Die erste Sciarrino-Oper, die ich gehört habe, war »Luci mie traditrici« in Lyon. Vor 10 Jahren, als ich mit Freunden und Kollegen das Pariser Ensemble »Le Balcon« gegründet habe, haben wir bei unserem ersten Konzert ein Stück von Sciarrino auf das Programm gesetzt: »Introduzione all’oscuro«, ein Stück, das ich bei einem meiner ersten Konzertbesuche in Paris gehört hatte und das mich seitdem begleitet hat. Der Erfolg hat uns bestärkt, unsere Auseinandersetzung mit dem Komponisten fortzusetzen: 2015 haben wir mit »Le Balcon« auch Sciarrinos »Lohengrin« gespielt. Seine Musik begleitet mich also schon recht lange.

Was macht für dich die Faszination von Sciarrinos Musik aus?

Trotz ihres relativen Minimalismus entfaltet sie eine enorme evokative Kraft, sie beschwört zum Beispiel die Natur und Naturkräfte wie Wind und Wasser plastisch herauf. Beim ersten Hören hatte ich immer das Gefühl, mich im Inneren eines Lebewesens zu befinden. In »Introduzione all’oscuro« gibt es ein Fagott-Solo, das nur aus Klappengeräuschen besteht. Es hört sich an wie ein dumpfes Pochen, wie der Herzschlag – das war für mich beim Hören ein wirklich immersives Ereignis.

Bei all dem macht es Sciarrino seinen Interpreten nicht immer leicht. Worin bestehen in »Ti vedo, ti sento, mi perdo« die Hauptschwierigkeiten?

Das Schwierigste an diesem Stück, wie generell bei vielen Werken von Sciarrino, ist der Umgang mit Stille und Raum. Alle Klänge darin kommen aus der Stille und entschwinden wieder in sie, wie steigende und fallende Kurven. Alle Interpreten, Sänger wie Instrumentalisten, müssen also den Punkt des Übergangs finden, an dem aus Stille Klang wird und umgekehrt. Das kann nur im Raum geschehen, und Sciarrino hat diesen Raum um die Stille und die daraus hervortretenden Klänge herum in seinen Stücken mitkomponiert. Man muss lernen, diesen Raum und die Stille zu hören – wie Sciarrino es tut. Daran sind wir häufig nicht gewöhnt, weil wir im Alltag ständig und überall um uns herum Musik haben. Vor allem wir Musiker: Wir spielen häufig mehr, als wir hörend eigentlich aufnehmen könnten. Bei Sciarrino müssen die Orchestermusiker relativ wenig spielen, sondern viel mehr zuhören; und wenn sie spielen, dann müssen sie es eher mit ihren Ohren als mit ihren Instrumenten tun.

Traditionellerweise sind Klang und Stille eher sich ausschließende Gegensatzpaare: Entweder spiele ich einen Ton und er ist da oder eben nicht …

Genau, und Sciarrinos Musik befindet sich konstant auf einer Schwelle dazwischen, die nicht dauerhaft der einen oder der anderen Kategorie angehört. Wichtig ist, diesen Bereich dazwischen erst einmal zu suchen und zu finden. Dabei muss aber auch bemerkt werden, dass es absolute Stille ja ohnehin nicht gibt. Wenn wir jetzt aufhören würden zu reden, würden wir noch immer die Geräusche von draußen hören oder auf einer Opernbühne etwa die Geräusche der Scheinwerfer. Selbst wenn es das alles nicht gäbe, würden wir die Geräusche unseres Körpers wie den Herzschlag hören. Stille und Klang existieren nicht als absolute Größen, deshalb ist es für unsere Wahrnehmung so spannend, in Sciarrinos Musik den Grenzbereich dazwischen auszuloten.

Mehr noch als in den meisten der früheren Sciarrino-Opern ist für »Ti vedo, ti sento, mi perdo« das Aufeinandertreffen von Vergangenheit und Gegenwart, auch in musikalischer Hinsicht, charakteristisch. Durch ›Fenster‹ in die Vergangenheit, wie es Sciarrino genannt hat, scheint immer wieder auch die Musik von Stradella hindurch.

Die Passagen, in denen Sciarrino Musik von Stradella neu instrumentiert hat, sind tatsächlich faszinierend. Dabei stehen sich zwar verschiedene Musikstile gegenüber, aber letztendlich bilden beide, Sciarrinos zeitgenössischer und Stradellas barocker Stil, zusammen eine Musik – im Singular, nicht im Plural. Dahinter steht die Vorstellung, dass Stradella seine künstlerischen Ergebnisse wie einen Ball an die nächste Generation weitergegeben hat, diese wiederum genauso und Sciarrino sich am Ende dieser langen Reihe befindet. Daher klingt in der »Ti vedo«-Partitur längst nicht nur Stradella durch, sondern viele weitere Komponisten mehr. Selbst in Stradellas originaler Musik klingt ältere Musik wie etwa von Monteverdi oder Gabrieli durch. Alle Komponisten haben im Grunde an ein und demselben Gegenstand gearbeitet. Wenn man Sciarrino bei der Arbeit zusieht, wird genau das klar: Kunst wird nicht isoliert nur von einer einzigen Person geschaffen. Die Stradella-Passagen in »Ti vedo, ti sento, mi perdo« sind ›Fenster‹ in eine Vergangenheit, die Teil von Sciarrinos eigenem Kosmos ist. Obwohl ich auch Erfahrungen auf dem Gebiet des venezianischen Repertoires aus Renaissance und Frühbarock gemacht habe, muss man also kein spezieller Barockdirigent sein, um auch diesen Teilen der Oper gerecht zu werden.

Stradella gehört heute nicht mehr zu den bekannteren Barockkomponisten. Was macht seine Musik besonders?

Es gibt zum Beispiel ein interessantes Verfahren bei ihm, für das ich noch keinen genauen Namen habe: Er benutzt Ostinato-Linien, die aber nicht identisch bleiben, sondern des Öfteren nach keinem genau erkennbaren Muster auf verschiedene Stufen transponiert werden und dann wieder in der Ursprungstonart ankommen. Daraus ergibt sich eine große Kreisform in der Musik, oder genauer ein Rad, in dem sich viele kleine Räder drehen. Stradella komponierte zu einer Zeit, als die Harmonik noch nicht scharfen Regeln unterlag und wie eine immer fixe Architektur betrachtet wurde. Das macht sie so interessant zu beobachten, weil viele Wendungen im Nachhinein so modern klingen. Es gibt bei Stradella also vieles zu entdecken!

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