Alessandro Stradella – Leben und Wirken

Am 7. Juli feiert Salvatore Sciarrinos »Ti vedo, ti sento, mi perdo« in der Regie von Jürgen Flimm Premiere an der Staatsoper Unter den Linden. Aufgegriffen wird darin das Schicksal des seinerzeit überaus prominenten italienischen Komponisten Alessandro Stradella, der 1682 unter mysteriösen Umständen einem Gewaltverbrechen zum Opfer fiel. Dramaturg Benjamin Wäntig hat Stradellas Leben und Wirken nachgezeichnet.

1639
Alessandro Stradella wird am 3. April in Nepi, einer Kleinstadt zwischen Rom und Viterbo, geboren. Dies gilt als wahrscheinlichste Hypothese; als andere Geburtsorte werden Rom, Modena und Neapel und die Jahre bis 1645 gehandelt. Die Familie entstammt dem niederen Adel und ist relativ wohlhabend.

1641
Ein Krieg zwischen dem Vatikan unter Papst Urban VIII. (aus der Familie der Barberini) und der Farnese-treuen, heute zerstörten Stadt Castro bricht aus. Da Nepi genau zwischen Rom und Castro liegt, flieht die Familie Stradella ins Territorium des befreundeten Herzogs von Modena. Alessandros Vater Marc’Antonio, Mitglied eines Ritterordens, wird Vize-Gouverneur von Vignola bei Modena.

1643
Der Konflikt zwischen den Barberini und den Farnese eskaliert weiter und verlagert sich in die Emilia. Erneut sieht sich Marc’Antonio zwischen den Fronten: Vignola wird von päpstlichen Truppen belagert und schließlich kampflos eingenommen. Die Familie Stradella kehrt nach Nepi zurück. Dort erhält Alessandro seine erste Ausbildung durch seinen Stiefbruder Padre Fra Francesco, möglicherweise wurde er auch in den Jahren vor 1653 in einen Konvent nach Bologna geschickt.

1648
Marc’Antonio Stradella stirbt.

1653
Die Mutter zieht mit ihren zwei jüngsten Söhnen Stefano und Alessandro nach Rom, wo sie als Hofdame in den Dienst von Herzogin Maria Cristina d’Altemps tritt, der Frau von Herzog Ippolito Lante della Rovere. Bereits Marc’Antonio stand in Diensten dieser hochstehenden Familie. In dieser Zeit muss Alessandros musikalische Ausbildung begonnen haben, möglicherweise bei Ercole Bernabei, Organist an der Kirche S. Giovanni in Laterano.

1667
Der erste verbürgte Kompositionsauftrag Stradellas ist ein (verlorenes) lateinisches Oratorium zur Fastenzeit für die Erzbrüderschaft des Santissimo Crocifisso di San Marcello. Im September wird Stradella der Kuppelei beschuldigt und muss kurzzeitig Rom verlassen (oder in einem Kloster in der Stadt Zuflucht suchen). Der venezianische Adlige Polo Michiel setzt sich für dessen Rehabilitation ein.

1668
Stradella komponiert einen Prolog (Text: Giovan Filippo Apollini) zur komischen Oper »Il Girello« (Libretto: Filippo Acciaiuoli, Musik: Jacopo Melani), die im Römer Palazzo Colonna, dem pompösen Anwesen der Mäzene Lorenzo Onofrio Colonna und seiner Frau Maria Mancini, uraufgeführt wird. Die Oper wird zu einem Erfolg und in Neapel und Mailand nachgespielt. Ebenfalls zusammen mit Apollini verfasst Stradella die Serenata »La Circe« zur Kardinalsweihe von Leopoldo de’ Medici.

1671
Zu Karneval eröffnet das Teatro Tor di Nona, das erste öffentliche Theater in Rom. Christina von Schweden, eine der großen Mäzeninnen Roms, hatte sich dafür beim Papst eingesetzt. Auch die Colonnas unterstützen das Theater. Acciaiuoli wird Impresario. Die ersten Stücke sind die in Venedig erfolgreichen Cavalli-Opern »Lo Scipione Affricano« (Libretto: Nicolò Minato) und »Il novello Giasone« (Libretto: Giacinto Andrea Cicognini). Für beide verfasst Stradella neue Prologe und Intermedien. In den Folgejahren stehen weitere Werke mit Ergänzungen von Stradella auf dem Spielplan.

1674
Stradella komponiert die Christina von Schweden gewidmete Serenata »Vola, vola in altri petti« (Libretto: Sebastiano Baldini), die als erste Komposition in Concerto-grosso-Besetzung gilt.

1675
Im Heiligen Jahr sind keine Opernaufführungen gestattet. Stattdessen widmet sich Stradella dem Oratorium »San Giovanni Battista«, bei dessen Aufführung vermutlich Geiger Carlo Ambrogio Lonati und Arcangelo Corelli mitwirken.

1676
Im Palazzo Colonna wird in mehreren Privataufführungen »La prosperità di Elio Seiano« (Libretto: Nicolò Minato, Musik: Antonio Sartorio) gegeben, vermutlich wiederum mit einem Prolog und einigen neuen Nummern von Stradella.

Papst Clemens X. stirbt, sein Nachfolger Innozenz XI. lehnt das Theater völlig ab. Bis zu seinem Tod 1689 bleiben alle öffentlichen Theater Roms geschlossen.

Erneut gerät Stradella in Schwierigkeiten: Zusammen mit dem Kastraten Giovanni Battista Vulpio verkuppelt er eine ältere, verarmte Frau mit einem Verwandten des Kardinals Alderano Cibo. Zu diesem Zweck wurde der Bräutigam offenbar musikalisch unterhalten, dabei betrunken gemacht und anschließend verheiratet. Im Zuge dieser Affäre handelt sich Stradella mit Cibo einen mächtigen Feind ein.

1677
Der Konflikt mit Cibo lässt sich nicht lösen; im Februar flieht Stradella aus Rom nach Venedig, wo er weiterhin von Polo Michiel und dessen Bruder Girolamo protegiert wird. Stradella unterrichtet Agnese Van Uffele, die Mätresse des einflussreichen Alvise Contarini. Die beiden verlieben sich und brennen im Juni nach Turin durch. Der verstimmte Contarini reist nur einen Monat später nach. Stradella und Agnese nehmen in verschiedenen Klöstern Zuflucht, so dass Contarini unverrichteter Dinge wieder abfährt. Herzogin Maria Giovanna di Savoia-Nemours und der Erzbischof drängen auf eine Heirat, der Stradella schließlich zustimmt.

Am 10. Oktober wird Stradella von zwei Personen auf offener Straße mit einem Messer attackiert, überlebt aber. Die Täter fliehen in die französische Botschaft und erhalten dort Asyl; über ihre Auslieferung entbrennt ein diplomatischer Streit zwischen der Turiner Herzogin und dem Pariser Hof Ludwigs XIV. Der Vater von Agnese wird als Auftraggeber verdächtigt, aber wieder freigelassen.

1678
Im Januar reist Stradella ohne Agnese nach Genua ab. Hier trifft er etliche Bekannte aus Rom wieder, u. a. Carlo Lonati. Durch seine adligen Kontakte wird Stradella Impresario des dortigen Teatro Falcone, wo schon im November seine Oper »La forza dell’amor paterno« gezeigt wird.

1679
Anfang Januar folgen die Opern »Le gare dell’amor eroico« und »Il trespolo tutore«. Alle drei Opern sind große Erfolge.

1681
Auch Francesco II d’Este aus Modena erteilt Stradella den Auftrag für das Oratorium »La Susanna«. Ein weiteres Werk dieses Jahres ist die Oper »Moro per amore« für das Teatro Falcone. Am 9. Juni geht beim Stadtrat ein Brief ein, der Stradella und Lonati wegen ihres unmoralischen Lebensstils denunziert, was die puritanische Stimmung der Stadt offenbart. So durften beispielsweise Frauen in der Öffentlichkeit nur schwarz tragen und keinen Schmuck zeigen.

1682
In Genua wird Stradella am 25. Februar auf dem Heimweg an der Piazza Banchi erstochen. Verdächtigt werden vier Brüder der Familie Lomellino, von denen zwei kurzzeitig im Gefängnis landen, aber aus Mangel an Beweisen wieder freigelassen werden. Gerüchten zufolge soll Stradella eine Affäre mit einer Schwester der Lomellinos oder einer von ihnen begehrten Sängerin gehabt haben, das Motiv könnte also Eifersucht gewesen sein.

1715
In Pierre Bourdelots »Histoire de la musique et de ses effets« erscheint der erste biographische Text über Stradella. Bereits diese Darstellung erfindet neue Details hinzu, viele Musikschriftsteller des 18. Jahrhunderts reichern sie mit weiteren Legenden an.

1833
Bei einem Konzert im Pariser Conservatoire präsentiert der Musikhistoriker François-Joseph Fétis eine Arie von Stradella. »Pietà, Signore« wird zum bekanntesten vermeintlichen Stradella-Werk des 19. Jahrhunderts, wurde aber vermutlich von Fétis selbst verfasst. Die Frage der Authentizität beschäftigt sogar Rossini und Verdi.

1837
Stradella tritt von Paris aus eine neuerliche Karriere auf Opernbühnen an: Er wird Protagonist in Opern u. a. von Louis Niedermeyer und Friedrich von Flotow. Dessen »Alessandro Stradella«, 1844 am Hamburger Stadttheater uraufgeführt, gelangt im Folgejahr auch an die Berliner Hofoper.

1946
Mit Giacomo Gentilomos Film »Amanti in fuga« (»Die Liebenden auf der Flucht«, in Deutschland unter dem Titel »Verschwörung gegen Tod und Hölle« gelaufen) schafft Stradella sogar den Sprung auf die Leinwand.

2002
Es erscheint der erste Band der immer noch fortzuführenden Stradella-Gesamtausgabe »Opera Omnia«, nachdem mittlerweile Abschriften vieler seiner Werke entdeckt worden sind. Trotzdem ist Stradella im 20. Jahrhundert – ganz im Unterschied zu vorher – gegenüber anderen italienischen Komponisten des Barock wie Vivaldi etwas ins Abseits geraten.

2013
In seiner (wahrscheinlichen) Geburtsstadt Nepi und im nahen Viterbo findet zum ersten Mal das »Festival Barocco Alessandro Stradella« zu Ehren des Komponisten statt.

2017
Am 14. November wird am Teatro alla Scala in Mailand Sciarrinos Stradella-Oper »Ti vedo, ti sento, mi perdo« uraufgeführt, ein gemeinsamer Kompositionsauftrag und eine Koproduktion mit der Staatsoper Unter den Linden.

Neuer Kommentar

Verfasse jetzt einen Kommentar. Neue Kommentare werden von uns moderiert.