Telemann, der Opernkomponist

Georg Philipp Telemann

Detlef Giese ist Dramaturg für Musiktheater und Konzert an der Berliner Staatsoper und betreut dort seit einigen Jahren die Barockproduktionen mit Dirigent René Jacobs. Für die Produktion »Emma und Eginhard« hat er sich mit Georg Philipp Telemann und dessen Opernschaffen beschäftigt.

Bereits mit elf oder zwölf Jahren, wenn er sich recht erinnere, habe er seine erste Oper geschrieben, so Georg Philipp Telemann in einem von Ende 1729 datierten Brief an den Komponisten und Musikgelehrten Johann Gottfried Walther, dem Verfasser eines Musicalischen Lexicons, das 1732 das gegenwärtige Wissen über die Musik einschließlich ihrer Protagonisten zusammenfasste. Dem jungen, musikalisch hochbegabten Pfarrerssohn aus Magdeburg gelang es sogar, eine Aufführung dieses Werkes mit dem Titel Sigismundus, das so wie viele seiner späteren Opern auch verloren gegangen ist, zu initiieren. Offenbar war er bei dieser Darbietung auch als Sänger aktiv, sehr zum Missfallen der es vorgeblich gut meinenden Bekanntschaft und Verwandtschaft, die »mit Schaaren« bei Telemanns Mutter vorstellig wurden und suggerierten, dass der Knabe Gefahr liefe, ein »Gauckler, Seiltäntzer, Spielmann, Murmelthierführer etc. [zu] werden«, wenn ihm »die Musik nicht entzogen würde.«

Der fast 60-jährige, inzwischen zu einem überaus prominenten, europaweit bekannten und gefeierten Musiker aufgestiegene Telemann hat diese Episode in jenen autobiographischen Mitteilungen festgehalten, die er für die 1740 in Hamburg erschienene Grundlage einer Ehren-Pforte seines Komponistenkollegen Johann Mattheson (mit dem er einerseits befreundet war und andererseits konkurrierte) verfasst hatte. In dieser für das Verständnis der Person Telemanns ungemein wichtigen Quelle, zumal von seiner eigenen Hand, lassen sich wertvolle Informationen zu Leben und Werk – und verschiedentlich auch zu seinem Opernschaffen – finden, auch wenn manche Dinge, die dort zur Sprache kommen, kaum mit letzter Sicherheit zu verifizieren sind. Die Erinnerung dürfte den Autor das eine oder andere Mal getäuscht haben.

So berichtet er etwa davon, an seinem nächsten Wirkungsort, der sächsischen Universitätsstadt Leipzig, wohin er sich eigentlich zum Jurastudium begeben hatte, »etliche und zwantzig« Opern komponiert zu haben. Nur Weniges von dieser Musik, von der wir gerne annehmen mögen, dass sie tatsächlich existiert habe, ist der Nachwelt erhalten geblieben. Immerhin konnte ein Werk, die Oper Germanicus, zumindest in ihren Grundzügen rekonstruiert werden; anlässlich des Leipziger Bachfestes 2007 ist sie erstmals wieder zur Aufführung gebracht worden. Und immerhin sind auch einige Textbücher und Arien überliefert, die einen Eindruck von der Opernästhetik und dem Opernleben der Stadt vermitteln, dem der junge, in seinen frühen Zwanzigern stehende Telemann von 1701 bis 1704 spürbare Impulse gab. Ausgehend von der Leitung eines neu gegründeten studentischen Collegium musicum, dessen Mitglieder auch in der seinerzeit bestehenden Leipziger Bürgeroper aktiv waren, wurde Telemann auch mit der Direktion dieser Einrichtung betraut – eine Tätigkeit im Übrigen, die er auch nach seinem Weggang aus der Messestadt nicht aufgab, da er bis um 1710 regelmäßig mit neuen musiktheatralischen Werken auf den Plan trat, nicht selten dabei in Personalunion von Textdichter und Komponist, zuweilen wohl auch als Sänger.

Die Oper, für Telemann offenbar ein Genre von höchster Attraktivität, blieb somit auch zu jenen Zeiten im Fokus, als er von Amts wegen eigentlich nichts mit ihr zu tun hatte. Sowohl in den Diensten von Graf Erdmann von Promnitz in Sorau in der Lausitz von 1704 bis 1708 als auch während der anschließenden Jahre bis 1712 als Konzert- und Kapellmeister der Hofkapelle in Eisenach waren andere Verpflichtungen bestimmend, vor allem in Richtung Kirchen- und Tafelmusik. Wiederholt hat sich Telemann jedoch über das Operngeschehen seiner Zeit und seines Umfeldes informiert, nicht zuletzt auch durch mehrere Besuche in Berlin, wo unter dem ersten preußischen König Friedrich I. und seiner musikliebenden Gattin Königin Sophie Charlotte die Hofmusik eine erste Blüte erlebte. Sowohl Werke italienischer Komponisten, wie etwa von Giovanni Bononcini, dem späteren Rivalen Händels in London, als auch von deutschen Künstlern wie August Stricker und Gottfried Finger gerieten so in seinen Gesichtskreis. Schon zuvor hatte sich Telemann in Residenzen wie Braunschweig und Hannover begeben, um dort das Opernwesen kennenzulernen, ebenso wie er einige Jahre darauf, 1719, nach Dresden reiste, um dort jene Werke zu hören und zu sehen, die zur Hochzeitsfeier des Kurprinzen und nachmaligen Königs Friedrich August II. gespielt wurden. War es im Niedersächsischen vor allem der Italiener Agostino Steffani, dessen Musik ihn begeisterte, so empfing er im schönen Elbflorenz bleibende Eindrücke von Opern aus der Feder Antonio Lottis und Johann David Heinichens, zudem zeigte er sich von einer Reihe glänzender Sängerinnen und Sänger fasziniert.

Zu dieser Zeit war Telemann in Frankfurt am Main beschäftigt, als Kapellmeister in kirchlichen Diensten. So sehr ihm das offene kulturelle Klima der freien Reichsstadt auch zusagte, ein Mangel ließ sich nicht beheben: Es gab keine Institution, die sich explizit der Aufführung von Opern widmete. Als sich zu Beginn der 1720er Jahre die Chance bot, nach Hamburg zu wechseln, mag ein Grund für diese Entscheidung auch darin gelegen haben, dort die Möglichkeit zu besitzen, wieder regulär – und unter guten Bedingungen – für die Oper arbeiten zu können.

Hamburg verfügte diesbezüglich bekanntlich über eine Tradition. 1678 war das am Gänsemarkt errichtete, rund 2.000 Zuschauer fassende Opernhaus eröffnet worden und hatte durch seinen quantitativ wie qualitativ auf einem hohen Niveau stehenden Spielbetrieb große Ausstrahlungskraft weit über die Grenzen der florierenden Hansestadt hinaus entwickelt. Vornehmlich mit dem Namen Reinhard Keiser ist diese von der Hamburger Bürgerschaft getragene Institution verbunden, die im Laufe von sechs Jahrzehnten mehrere hundert Werke auf die Bühne und unter die Leute brachte – wenngleich nicht immer zum Gefallen der ansässigen Theologen, die der Kunstform Oper generell vorwarfen, zum Verfall der öffentlichen Moral beizutragen. In der Generation danach waren es Komponisten wie Georg Friedrich Händel, Johann Mattheson und eben Georg Philipp Telemann, die hier wirkten und dem Unternehmen Gesicht und Stimme gaben. Während Händel, der schon bald zum erfolgreichsten Opernkomponisten des Hoch- und Spätbarock avancieren sollte, in Hamburg seine ersten Schritte auf diesem Gebiet unternahm, bevor er nach London übersiedelte, waren Mattheson und Telemann über längere Zeit dort aktiv, Ersterer auch – und gerade – in seiner Eigenschaft als wirkungsmächtiger Musikschriftsteller, Letzterer als fähiger Administrator ebenso wie als fruchtbarer Komponist. Wie in der besagten Ehren-Pforte bei der Aufzählung seines schon damals riesenhaften Werkbestandes zu lesen ist, hat Telemann »etwa fünf und dreißig Stücke hiesiger Oper« zu Papier gebracht, eine enorme Zahl, die durch andere Quellen jedoch nicht bestätigt werden kann. Ungefähr gut die Hälfte davon – und auch das ist ja keineswegs wenig – ist bezeugt, wovon wiederum zehn Opern vollständig erhalten sind, zu einer Reihe weiterer Werke sind immerhin einige Arien auf uns gekommen.

Oper am Gänsemarkt
Oper am Gänsemarkt

Noch vor seinem Amtsantritt in Hamburg, wo er, neben anderen Aktivitäten, in erster Linie als Kantor für den Musikunterricht am Johanneum sowie für die Musik an den fünf Hauptkirchen zuständig war und zudem als Angestellter des Senats für die Ausgestaltung von offiziellen, repräsentativen Veranstaltungen zu sorgen hatte, schrieb er 1721 mit Der geduldige Sokrates ein Werk, das sehr genau auf die Erfordernisse des Hauses am Gänsemarkt zugeschnitten war – sie könnte durchaus als eine Art »Visitenkarte« gedacht gewesen sein. Das Interesse an der Oper war bei Telemann ja ausgeprägt genug, allein die Einrichtung selbst befand sich gerade in einer Krise. 1718 hatte die Bürgeroper Bankrott anmelden müssen, finanziell war das Unternehmen bereits in den Jahren zuvor in Schieflage geraten. Mit Telemann, dem tatkräftigen, hoch produktiven und zudem hervorragend vernetzten Musiker, sollte nun ein Neustart gewagt werden. Und in der Tat vermochte er es, das Haus wieder auf ein hohes künstlerisches Niveau zu führen und ihm den von der städtischen Öffentlichkeit – Telemann war von einer Gruppe einflussreicher Adliger wie Bürger eigens mit der Opernleitung betraut worden und erfuhr zunächst auch vielfältige Unterstützung – erwarteten Glanz zu verleihen.

Vor allem war dies die Folge einer klugen Spielplangestaltung: Telemann bemühte sich mit Erfolg darum, international renommierte Werke auf die Bühne zu bringen, u. a. einige Londoner Opern seines Freundes Georg Friedrich Händel, die er z. T. durch hinzukomponierte musikalische Nummern bereicherte, auch der »Altmeister« Reinhard Keiser war nach mehreren Jahren der Abstinenz wieder im Programm vertreten. Überdies gab es des Öfteren Stücke, die nicht allein in deutscher Sprache gesungen wurden, sondern auch italienische sowie französische Arien enthielten und somit ein gewisses weltläufiges Flair ausstrahlten. Oft hat dabei Telemann selbst, der über bemerkenswerte poetische Fähigkeiten verfügte, Hand an die Libretti gelegt, sofern er nicht mit einem der kompetenten Hamburger Textdichter zusammenarbeitete.

Bedeutsam wurde diese Phase, die 1738 mit der Schließung des Hauses, dessen ökonomischer Niedergang sich auf Dauer nicht aufhalten ließ, ihr Ende fand, jedoch zuvorderst durch Telemanns eigene Opernwerke. Neben dem Geduldigen Sokrates von 1721 schrieb er mit Genserich oder Der Sieg der Schönheit (1723/25), Der neumodische Liebhaber Damon (1724), mit Orpheus oder Die wunderbare Beständigkeit der Liebe (1726), mit Miriways (1728), Flavius Bartaridus, König der Langobarden (1729) weitere hochoriginelle Werke, oft mit einer Mischung aus tragischen und komischen Elementen. Einen Höhepunkt dieses Schaffenszweiges markiert gewiss Die Last-tragende Liebe oder Emma und Eginhard, die bewusst als Festoper zum 50-jährigen Bestehen 1728 der Oper am Gänsemarkt konzipiert und ausgestaltet wurde.

Während diese zumeist recht umfangreichen dreiaktigen Opern erst nach und nach wieder entdeckt und in modernen Aufführungen präsentiert werden, galt Telemann schon beizeiten als Meister der kleinen, kurzweiligen musikalischen Komödie. Verantwortlich hierfür war das 1725 komponierte Intermezzo Pimpinone oder Die ungleiche Heirat, das in der Tat durch seinen Humor und seine Charakterisierungskunst besticht. Dieses bis heute vergleichsweise oft gespielte »Operchen« besaß schon zu Lebzeiten einen Sonderstatus, war es doch das einzige musiktheatralische Werk, das zum Druck befördert wurde und deshalb eine weit größere Verbreitung erreichte als die lediglich in Manuskripten fixierten Partituren der großen Opern. Sein ausgeprägtes Talent für komische Stoffe bewies Telemann ein letztes Mal 1761, wenige Jahre vor seinem Tod, mit dem zweiaktigen Werk Don Quichotte auf der Hochzeit des Comacho – eine eindrucksvolle Spätblüte seiner Opernkunst.

Gemessen an seinem gewaltigem Schaffen auf anderen Feldern (u. a. seinen geistlichen Kantaten, seinen Oratorien und Passionen sowie seiner Orchester- und Kammermusik) wirkt Telemanns »Output« an Opern keineswegs unüberschaubar. Rund 50 Werke mögen es in der Summe wohl gewesen sein, die er komponiert hat, die meisten von ihnen in Leipzig und Hamburg. Aber auch die Höfe in Weißenfels sowie Bayreuth, mit denen er in Verbindung war, hat er nach eigenen Angaben mit vier bzw. zwei Opern beliefert, so dass nicht nur der numerische, sondern auch der räumliche Radius seiner Opernaktivitäten durchaus beachtlich ist: Telemann wusste somit auch diese Kunstform wesentlich zu bereichern. Immerhin scheint es zuzutreffen, dass die Erkenntnis sich durchzusetzen beginnt, der zu Lebzeiten berühmteste deutsche Komponist ist neben vielem Anderem auch ein großer Opernkünstler gewesen. Die schrittweise Entdeckung seines facettenreichen Œuvres ist jedenfalls im Gange und wird hoffentlich noch weiter andauern.

 Diesen Beitrag findet ihr auch im Programmbuch zu Emma und Eginhard

 

 

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