Über Stephen Oliver
10. März 2016 – an diesem Tage wäre der Komponist Stephen Oliver 66 Jahre alt geworden. Leider verstarb er viel zu früh im Alter von 42 Jahren an den Folgen einer HIV-Infektion. Die Junge Staatsoper bringt die Berliner Erstaufführung seines Werkes »Mario und der Zauberer« nach der Novelle von Thomas Mann am 9. April 2016 auf die Bühne der Werkstatt im Schiller Theater.
Die komplexe Partitur, die Sänger und Instrumentalisten vor große Herausforderungen stellt, schildert in grellen Farben und Klängen die Zwanziger Jahre im Italien Mussolinis zwischen »dolce vita« und den Verführungskräften eines gefährlichen Magiers.
Sucht man im Internet nach Stephen Oliver, stößt man relativ schnell auf ein Video von Stephen Hawking, der von John Oliver im Rahmen von dessen Late Night-Show interviewt wird. Dass Johns Onkel, der mit über 40 Opern und Bühnenwerken, etlichen Film-Scores und geistlicher Musik zu den wichtigsten britischen Komponisten des letzten Jahrhunderts gehört, auch in Deutschland mehr Aufmerksamkeit verdient hat, zeigt nicht nur seine besondere Musik, sondern ebenso die bewegte Lebensgeschichte des zu früh verstorbenen Mannes.
Stephen Oliver wurde als jüngstes von drei Kindern 1950 in Chester/UK geboren. Seine Mutter war Absolventin des Royal College of Music, der Vater gehörte einer Amateurtheatergruppe in Liverpool an. Bis zum achten Lebensjahr lebte er auf der Halbinsel Wirral an der Mündung des Mersey in einer musikalischen Familie, wo man Gesang und Instrumentalspiel (auch mit vielen selbstgebauten Instrumenten) regelmäßig praktizierte. Noch bevor Stephen zur Schule ging, brachte er sich selbst das Lesen bei, wenig später schrieb er eigene Gedichte und Musikstücke. In Liverpool, auf der anderen Seite des Mersey formierte sich in dieser Zeit eine ebenso kreative Band, die Beatles.
Mit 12 Jahren begann Stephen Oliver, seine erste Oper zu schreiben
Ein Stipendium brachte ihn dann auf die St. Paul’s Cathedral Choir School in London, die bereits sein Großvater besucht hatte. Tägliche Proben im Schulchor, dazu Literatur- und Schauspielkurse, brachten seine Qualitäten immer mehr zum Vorschein. Als die Beatles 1962 die erste Schallplatte produzierten und kurz vor ihrem Durchbruch standen, begann Stephen Oliver mit 12 Jahren, seine erste Oper zu schreiben. Als Thema wählte er, nahe liegend für einen Sänger der St. Paul’s Cathedral, einen Auszug der Apostelgeschichte über die Blendung des Elymas durch Paulus. Fertig gestellt wurde das Werk allerdings nie, wohl aber die nächste Oper über zwei kopflose Geister im Tower of London. Hinzu kamen bald eine beträchtliche Anzahl an Ensemble- und Chorwerken, einige Kantaten und Opern, vieles inspiriert durch die musikalische Umgebung, die von geistlichen Werken dominiert war. Nach einem Wechsel ans Ardingly College in Sussex und herausragenden Erfolgen bei mehreren Wettbewerben, wie dem Chester Music Festival, bekam er ein Stipendium, das ihm ein Studium an der University of Oxford ermöglichte.
Als sich 1969 die Beatles auflösten, überall die Studierenden gegen das »Establishment« auf die Straße gingen und in New York der Stonewall-Aufstand die Initialzündung für gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexuellen wurde, begann er das Studium am Worcester College Oxford. Er erledigte sein Pensum als »Überflieger« und widmete sich den Opern »All the Tea in China« (1969), »The Duchess of Malfi« (1971) und »The Dissolute Punished« (1972). Nach dem Studium und einem Jahr als Dozent an der nordenglischen Universität Huddersfield Polytechnic übersiedelte er 1974 nach London, wo er als freiberuflicher Komponist zahlreiche Werke für verschiedene Medien schuf. Aufträge für Film, Tanz, Musical, Radio, Fernsehen und Sprechtheater erledigte er Dank seines unerschöpflichen Ideenreichtums und effektiver Arbeitsweise genauso wie die eigenen Kompositionen, die stark von literarischen Vorlagen beeinflusst waren:
»Past tense« (1974) Samuel Beckett
»Tom Jones« (1976) Henry Fielding
»The Dreaming of the Bones« (1979) William Butler Yeats
»A Man of Feeling« (1980) Arthur Schnitzler
»La Bella e la Bestia« (1984) Jeanne-Marie Leprince de Beaumont
»Sasha« (1984) Nikolai Alexejewitsch Ostrowski
»Mario ed il Mago« (1988) Thomas Mann
»Timon of Athens« (1991) William Shakespeare
Das Interesse am literarischen Gegenstand führte ihn in London zur Royal Shakespeare Company (RSC), zu deren Berühmtheit er durch zahlreiche Schauspielmusiken beitrug. Seine Eloquenz und der prägnante Witz führten ihn zur BBC, wo er die didaktische Serie »Understanding Opera« schrieb und moderierte.
Stephen Oliver sah sich selbst als »Handwerker«
Stephen Oliver sah sich selbst als »Handwerker«, weit entfernt davon, sich die Aura des Künstlergenies zu geben. Er konnte im Stil verschiedener Epochen komponieren, schrieb schnell und mit großer Leichtigkeit und fand zu einem persönlichen zeitgenössischen Stil, den sein Freund Adam Pollock als »sneaky-gate music« bezeichnete. Und in der Tat klingt es manchmal sehr schrill, wenn Sekund-Reibungen in den hohen Holzbläsern als Stilmittel genutzt werden oder spitze Streicher-Flageoletts die Ohren erreichen.
Seine starke, oftmals zerrissene Persönlichkeit verleiht den Figuren seiner Opern besondere Tiefe und Mehrdimensionalität, die besonders im Musikalischen gründet. Die Ambivalenz zwischen Genialität und Selbstzweifel kommt besonders in der Figur des Biests (La Bella e la Bestia, 1984) und im Zauberer Cipolla (Mario und der Zauberer, 1988) zum Vorschein. In der Figur des Cipolla thematisiert Thomas Mann einen körperlich entstellten Menschen, der von seiner Umwelt als abstoßend und gebrechlich wahrgenommen wird, der auf der anderen Seite aber durch seinen charismatischen Auftritt die Menge in den Bann zu schlagen weiß. Cipolla versteht es, jeden im Publikum für sich einzunehmen, sogar gegen den eigenen Willen. Während bei Mann das Wechselverhältnis von Künstler zu Publikum, vom Verführer zur Masse wortreich und sprachgewaltig beschrieben wird, pointiert Oliver die Handlung auf ihre Kernelemente, unterstützt die Show-Effekte und erreicht zwingende Unmittelbarkeit durch hohe musikalische Intensität. Die von der Literaturwissenschaft schon bei Thomas Mann thematisierte homoerotische Komponente der letzten Szene, in der auf den Kuss zwischen zwei Männern sofort die Angst vor Denunziation und Sanktion erfolgt, spielte sicher auch für Oliver eine Rolle, der allerdings nach dem Stonewall-Aufstand 1969 und der danach einsetzenden gesellschaftlichen Liberalisierung in Bezug auf homosexuelle Identität weniger Angst vor Verfolgung und Diskriminierung haben musste.
Das Thema »Homosexualität« thematisierte er auch in anderen Werken, nutzte seine Charaktere, um das Stigma auf die Bühne zu bringen. Als junger Mann infizierte er sich mit dem HI-Virus, das am Ende des 20. Jahrhunderts noch wenig erforscht und nicht behandelbar war. Er pflegte einen Freund, der sich ebenfalls infiziert hatte und begleitete ihn in den letzten Lebensjahren. Schließlich erkrankte er selbst an dem tödlichen Virus und starb am 29. April 1992.
Über seinen Tod hinaus erwies sich Stephen Oliver als Förderer des künstlerischen Nachwuchses. Er hinterließ den Großteil seines Vermögens der nachfolgenden Komponistengeneration (Stephen Oliver Award) und kleineren Opernbühnen, um das Schaffen und Aufführen zeitgenössischer Opern zu fördern und junge Menschen zu ermutigen, sich mit eben diesem Feld auseinanderzusetzen.
—
Ein Essay von Rainer O. Brinkmann und Philipp Eichel