»Und darunter kommen dann die Abgründe zum Vorschein«
Am vergangenen Samstag feierte Nikolaus Brass‘ Kammermusiktheater »Sommertag« nach dem gleichnamigen Stück von Jon Fosse Premiere in der Neuen Werkstatt. Wir trafen die junge Regisseurin Eva-Maria Weiss wenige Tage davor zu einem Gespräch über den Probenprozess, über die komplexe Figurenkonstellation und über die Verarbeitung von Schicksalsschlägen.
Was hat Sie an der Handlung oder der Geschichte von »Sommertag« besonders interessiert oder fasziniert?
In »Sommertag« geht es um eine Frau, die sich damit auseinandersetzen muss, dass sie nicht weiß, was mit ihrem Mann passiert ist. Er ist plötzlich verschwunden und niemand weiß, ob er verunglückt ist, ob er sich umgebracht hat oder ob er sie vielleicht verlassen hat. Seit dem Tag, an dem er verschwand, ist die Frau über diese traumatische Erfahrung nicht hinweggekommen. Das fand ich bei der Beschäftigung mit dem Stück sehr spannend, dieses Gefühl, dass sich die Ereignisse in ihrer Erinnerung immer wieder wiederholen und sie versucht, eine Antwort zu finden. Sie wird in gewisser Weise richtig obsessiv, wenn sie sich fragt »Hab ich etwas übersehen? Lag das an mir? Hätte ich etwas tun können?« Das nimmt fast albtraumhafte Züge an. Die Art, wie sich die Frau noch mal in ihre Erinnerungen herein arbeitet, fand ich formal und inhaltlich wahnsinnig interessant. Selbst wenn man selber nicht so eine traumatische Erfahrung gemacht hat, kann man sich damit identifizieren, denn im Grunde genommen geht es darum, dass eine Beziehung zwischen zwei Menschen ganz plötzlich endet und man nie eine Antwort bekommt auf die Frage, warum.
Wie sind Sie mit der Literaturvorlage von Jon Fosse umgegangen? Kannten Sie das Stück, bevor Sie sich mit dem Musiktheater beschäftigt haben?
Nein, ich habe das Theaterstück erst im Zuge der Arbeit mit dem Musiktheater gelesen und mich dann auch ein bisschen mit Jon Fosse beschäftigt – mit seiner Art zu schreiben, seiner speziellen Sprache. Das passt wirklich perfekt für Musiktheater, weil es die ganze Zeit um das geht, was zwischen Menschen ungesagt bleibt. Was auch interessant ist, ist die Art und Weise, wie die Figuren miteinander kommunizieren. Das ist ganz typisch für Fosse, dass die Gespräche auf einer Oberfläche ablaufen und man denkt, da wird die ganze Zeit eigentlich über gar nichts Inhaltliches geredet. Aber darunter liegen ganz große unausgesprochene Lasten, die die Figuren mit sich herumtragen und die sie teilweise nicht artikulieren wollen, aber teilweise auch nicht artikulieren können, weil sie selber gar nicht wissen, was ihr Problem ist. Das Stück heißt »Sommertag«, das steht für diese schöne Oberfläche und darunter kommen dann die Abgründe zum Vorschein. Draußen ist ein schöner Sommertag, aber für die Frau ist das gar nicht richtig real, weil sie seit dem Verschwinden ihres Mannes eigentlich gar nicht mehr an dem normalen Leben teilhat, sondern nur noch in der Erinnerung lebt und über die ungelösten Fragen nachdenkt. Die Figuren sind sehr uneindeutig und können deshalb auch ihre Konflikte miteinander nicht lösen. Es ist sehr spannend, was an Zwischentönen in diesen Beziehungen und diesen Konversationen steckt. Da kommt man unweigerlich zu der Einsicht, dass man, egal wie nah einem ein anderer Mensch ist, den anderen nie zu 100 Prozent begreifen wird und man ihn nie endgültig besitzen kann. Anhand der Beziehung der Frau zu ihrem Mann wird das ganz deutlich. Einerseits fühlt sie sich ihm sehr nahe, aber es gibt auch eine »dunkle Seite« an ihm, die ihn von ihr wegzieht. Es gibt Zeiten, die er nicht mit ihr verbringen will und das versteht sie nicht. Das ist bei ihr fast wie eine ganz irrationale Form von Eifersucht. Und dann verschwindet er plötzlich und sie hat keine Handhabe, ihn wieder zu sich zurückzubringen – außer eben in ihrer Erinnerung und indem sie seine ganzen Sachen aufbewahrt.
Für die Ausstattung ist Lisa Fütterer verantwortlich. Wie verlief die Zusammenarbeit?
Lisa Fütterer und ich haben schon mehrere zeitgenössische Musiktheaterprojekte zusammen erarbeitet, das ist eine sehr enge und eine sehr produktive Zusammenarbeit. Wir tauschen uns viel aus. Szene und Ausstattung gehen bei unseren Projekten Hand in Hand. Man findet nach ein paar Produktionen eine gemeinsame Sprache, da muss man nicht mehr lange nachfragen, was der andere nun genau meint. Und ich glaube, wir vertrauen der Meinung der anderen sehr stark und das ist etwas, das muss natürlich erst wachsen. Man lernt mit der Zeit, wie die andere denkt und ich habe das Gefühl, das wurde bei den letzten Produktionen gestärkt und das war bei unserer jetzigen Arbeit wahnsinnig wertvoll.
»Man muss gemeinsam mit den Darstellern die Interpretation und den Rhythmus des Stücks finden.«
Inwiefern hat sich die Inszenierung im Laufe der Proben verändert oder entwickelt?
Ich würde sagen, die Inszenierung hat sich fast komplett während der Proben entwickelt. Viele Szenen sind kammermusikalisch organisiert, da gibt es keinen Dirigenten, kein fixes Metrum und kein fixes Tempo. Der Komponist Nikolaus Brass hat das ganz absichtlich so angelegt, dass die Instrumentalisten und die Sänger zusammen das Tempo und den Ausdruck finden müssen. Es gibt viele Pausen und viele Fermaten, daher lässt es vieles offen. Man muss gemeinsam mit den Darstellern die Interpretation und den ganzen Rhythmus des Stücks finden. Deshalb empfand ich die Arbeit an diesem Stück oft näher am Schauspiel als an einer klassischen Oper, denn da hat man ja immer einen Klangteppich – der fehlt hier komplett. Natürlich gibt es ein Konzept und es gibt die Partitur von Nikolaus Brass und das Schauspiel von Jon Fosse, aber letztendlich muss die Oper komplett mit den Darstellern erarbeitet werden.
Das Thema Zeit zieht sich durch das ganze Stück. Inwiefern spielt es eine Rolle bei Ihrer Inszenierung?
Es gibt immer wieder Momente von Sprachlosigkeit zwischen den Figuren. Diese Momente nutzt Nikolaus Brass, um mithilfe der Musik das auszudrücken, was zwischen den Figuren ungesagt bleibt. Es ist häufig so, dass die Figuren das, was sie bedrückt, nicht richtig artikulieren können und stattdessen irgendwelche belanglosen Dinge tun. Szenisch zeigt sich das in Momenten des Stillstands und Momenten der Wiederholung, die wie ein Steckenbleiben in bestimmten Situationen wirken. In zwei Szenen gibt es in dem Stück eine digitale Uhr, die den Dirigenten ersetzt. Die Musiker spielen in diesen Szenen in sogenannten »time brackets« – das bedeutet, sie müssen innerhalb von bestimmten Zeitabschnitten bestimmte Phrasen gespielt haben. Und natürlich ist das Thema Zeit auch in der Figurenkonstellation präsent, da es von der Frau und auch von dem Mann Doppelgänger gibt. Die Frau beobachtet sich quasi selber dabei, wie sie diesen Tag, an dem ihr Mann verschwand, verbrachte.
»Es geht darum, einen Lebensabschnitt hinter sich zu lassen. «
Sie haben beschlossen, die Partie der älteren Frau noch mal auf zwei Sängerinnen aufzuteilen. Was steckt dahinter?
Wir setzen mit unserem Konzept an dem Tag an, an dem sich die Frau entscheidet, aus dem Haus, in dem sie mit ihrem Mann gelebt hat, auszuziehen und wir begleiten sie vom Beginn des Stücks, wo sie noch ein paar Sachen zusammenpackt, bis zum Ende, wo sie zur Tür geht und den Raum verlassen will. Der Auszug aus dem Haus ist gleichzeitig das Bestreben, sich von der Vergangenheit zu lösen. Und die Frage ist dabei natürlich immer »Schafft sie es zu gehen? Oder schafft sie es nicht?« Über diesem Einpacken der ganzen Erinnerungen steigt sie gedanklich noch mal in die Geschichte ein. Ich kenne das von mir selbst vom Auszug, dass man dann alles noch mal ausbreitet, anstatt alles einzupacken und anfängt, sich an Dinge zu erinnern. Es geht darum, einen Lebensabschnitt hinter sich zu lassen. Das ist eine Art Transitsituation, in der sich die Frau befindet. Sie hat dabei sowohl diese vergangene Version von sich selbst vor Augen als auch eine mögliche zukünftige, die es eben nicht schafft zu gehen. Diese zukünftige Version ist ein Produkt der Vorstellungskraft der Frau, denn sie steht an einem Scheideweg zwischen Gehen und Bleiben und weiß noch nicht, wie sie sich entscheiden wird.
»Da entsteht in ihr ein Raum für Akzeptanz, für eine Form von Einsicht.«
Inwiefern macht die Frau im Laufe des Stücks eine Entwicklung durch?
Das Interessante ist, dass die Frau bis zum Ende keine Antwort auf ihre Fragen bekommt. Da stellt sich natürlich die Frage, inwiefern sich die Situation für sie lösen oder klären kann. In meiner Inszenierung läuft es darauf hinaus, dass sie ein letztes Zusammentreffen mit ihrem Mann imaginiert, dem sie dann noch mal nahe kommt und dem sie dann auch noch ein paar Dinge an den Kopf wirft. Das ganze Stück über hat sie versucht, diese letzte Auseinandersetzung herbeizuführen, einen letzten Moment mit ihrem Mann, aber sie merkt am Ende natürlich, dass sich das nur in ihrem Kopf abspielt. Das wird nie wieder passieren, er wird nicht kommen, sie wird diese letzte Aussprache mit ihm nie in Wirklichkeit haben. Da entsteht in ihr ein Raum für Akzeptanz, für eine Form von Einsicht. Diesen Prozess durchläuft sie.
Nikolaus Brass hat zwischendurch die Proben besucht. Wie verlief der Austausch mit ihm?
Wir hatten uns bereits im Vorfeld kennen gelernt. Bei diesem Treffen konnte ich schon ganz viele Fragen zu dem Stück stellen. Mich hat das natürlich sehr interessiert, wie er die Schauspielvorlage bearbeitet hat und nach welchen Kriterien, wie er die Figuren sieht und so weiter. Er hat das Stück so angelegt, dass die Instrumente bestimmte Seelenanteile der Figuren verkörpern. Er stellt bestimmte Verknüpfungen her, zum Beispiel zwischen dem Kontrabass und der älteren Frau oder auch zwischen dem Akkordeon und dem Mann. Die Instrumente werden fast ausschließlich solistisch eingesetzt. Es gibt ganz wenig Stellen, wo sie eine klassische Begleitfunktion haben. In dem Stück gibt es wirklich sechs Instrumentalsolisten und fünf Gesangssolisten. Und die treten in einen Dialog miteinander. Der Kontrabass ist beispielsweise der älteren Frau zugeordnet, der spiegelt ihre Gedanken oder bestimmte emotionale Seiten von ihr. Es ist wie ein Gedankenaustausch. Die Viola und die Violine könnte man quasi als jüngere Version des Kontrabasses betrachten und die sind der jungen Frau zugeschrieben. Das Akkordeon wiederum, das etwas Sentimentales-Melancholisches transportiert, ein bisschen wie Seemannsklänge, gehört zu dem Mann und steht in meiner Interpretation für die Fjorde, auf die es ihn immer hinauszieht.
Das Treffen mit Nikolaus Brass war für mich jedenfalls eine große Quelle der Inspiration. Und als er jetzt bei den Proben war, hat er auch einen Eindruck davon bekommen, was wir machen und er war ganz angetan. Zum Glück ist er ein Komponist, der wahnsinnig neugierig darauf ist, was man mit dem Werk macht und eine ganz große Offenheit mitbringt. Das merkt man auch schon dem Stück an, dadurch, dass es so viel Raum für eigene Interpretationen lässt.
Das Interview führte Leonie Stumpfögger
Ein Kommentar
schrieb am 20.11.2018 um 20:11 Uhr.
Ein wunderschönes Theater!