» … und innen ist die Bewegung der Welt …«

Staatskapelle Berlin. Foto: Jonas Unger

Arnold Schönbergs Weg von »Verklärte Nacht« über die »Fünf Stücke für Orchester« zu den Variationen op. 31 – ein Essay von Autor und Musikkritiker Martin Wilkening 

I.

Zu den Grundlagen der klassischen Ästhetik gehörte die strikte Trennung der einzelnen Künste. Das 19. Jahrhundert jedoch öffnete die Grenzen. Vor allem die Musik strebte nach einer Synthese mit anderen Kunstformen, und Wagners Vorstellungen eines Gesamtkunstwerks gaben lang nachwirkende Anstöße bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. In der Zeit um 1900 entfaltet vor allem die Affinität von Musik und Literatur einen ganz neuen Einfluss. Die Musik erfährt eine zunehmende Literarisierung, für die der enorme Erfolg der „Tondichtungen“ von Richard Strauss stehen kann. Die Literatur sucht umgekehrt eine Entgrenzung im Musikalischen. Nicht zufällig fühlten sich so unterschiedliche Komponisten wie Debussy und Fauré, Schönberg und Sibelius angezogen von den Theaterstücken Maurice Maeterlincks, deren Sprache sich musikalisch auflöst, ins Angedeutete, Offene hinein, mehr bestimmt durch Suggestion als durch präzise Benennung. Die dahinter stehende Sprachskepsis brachte der mit Schönberg gleichaltrige Hugo von Hofmannsthal in seinem berühmten Chandos-Brief als Verlust-Gefühl gegenüber einer sich atomisierenden Welt zum Ausdruck: „Es zerfiel mir alles in Teile, die Teile wieder in Teile, und nichts mehr ließ sich mit einem Begriff umspannen. Die einzelnen Worte schwammen um mich; sie gerannen zu Augen, die mich anstarrten und in die ich wieder hineinstarren muss: Wirbel sind sie, in die hinabzusehen mich schwindelt, die sich unaufhaltsam drehen und durch die hindurch man ins Leere kommt.“ Was die Sprache an Deutungskraft vermissen lässt, auch da, wo sie noch volltönend auftritt, das scheint die Musik in sich aufzunehmen. Nicht zuletzt daher rührt die Überzeugungskraft der Symphonischen Dichtung kurz vor der Jahrhundertwende.

Edvard Munch, „Zwei Menschen. Die Einsamen”, 1899

Für den jungen Schönberg, der außer informellen Konsultationen bei Alexander Zemlinsky keine akademische Musikausbildung durchlief, vermittelte in den Jahren seiner Selbstfindung als Komponist die Auseinandersetzung mit Literatur und Sprache wesentliche Impulse. Seine sechs ersten, mit Opus-Zahlen versehenen Werke sind entweder Gruppen von Liedern oder Tondichtungen (so der von Richard Strauss benutzte Begriff). Die 1899 komponierte und 1902 uraufgeführte „Verklärte Nacht“ auf ein Gedicht von Richard Dehmel ist Schönbergs erstes vollendetes Werk dieser Art, und sie stellt mit ihrer Übertragung der Idee der Symphonischen Dichtung in den Bereich erweiterter Kammermusik gleichzeitig etwas Neues dar. Schönberg schrieb sein Stück für Streichsextett mit dem dunkel getönten Grundklang von jeweils doppelt besetzten Violinen, Violen und Celli. Die Streichorchester-Fassung von 1917 verlangt zusätzlich Kontrabässe und macht ausgiebig Gebrauch vom Wechsel zwischen orchestraler und solistischer Besetzung. Dem Stück waren andere Versuche literarisch inspirierter Musik unmittelbar vorausgegangen. Für Orchester konzipierte Schönberg den „Frühlingstod“ nach Nikolaus Lenau und, wiederum für Streichsextett, „Toter Winkel“ nach Gustav Falke. Beide blieben Fragment. Diese Stücke beziehen sich wie die „Verklärte Nacht“ nicht bloß auf Stoffliches einer Textvorlage, das episodisch in die Musik einfließt, sondern auf ein Gedicht als Ganzes, seinen Ton, seine Form, den Gestus seiner Mitteilung. 1912, nachdem Richard Dehmel zum ersten Mal Gelegenheit gehabt hatte, Schönbergs Stück zu hören und ihm in einem Brief für die Eindrücke dankte, schrieb Schönberg zurück: „Ihre Gedichte haben auf meine musikalische Entwicklung entscheidenden Einfluss ausgeübt. Durch sie war ich zum ersten Mal genötigt, einen neuen Ton in der Lyrik zu suchen. Das heißt, ich fand ihn ungesucht, indem ich musikalisch widerspiegelte, was Ihre Verse in mir aufwühlten.“

Dehmels Gedicht postuliert das hohe Ethos einer Liebe, die Untreue mit Verzeihen beantwortet und in einer Art kosmisch geistigem Erlösungs-Akt das nicht gemeinsame Kind nun als gemeinsames verklärt. Drei kurze beschreibende Strophen umrahmen und trennen in der Mitte die beiden längeren Wechselstrophen, in denen die Frau und der Mann mit eigener Stimme auftreten. Schönberg folgt dieser Anlage einerseits recht genau: Das Thema des gemeinsamen Gangs durch die Nacht mit seiner in Sekunden absteigenden Tonfolge erscheint im gliedernden Sinn dreimal, schleppend zu Beginn, verzweifelt in der Mitte des Stückes (bevor der Mann das Wort ergreift) und schließlich im flimmernden Mondlicht verklärt am Ende. Die weibliche und die männliche Stimme sind musikalisch deutlich unterschieden, die eine zerrissen von Spannungen, bekenntnishaft, die andere dagegen bei ihrem ersten Einsatz in weihevoller Ruhe. Die Musik verlässt damit auch die Moll-Sphäre und wendet sich entschieden nach Dur. Der gesanglich breite Ton der Männerstimme bleibt aber episodisch, denn in der Folge werden durchführungsartig viele Motive wieder aufgegriffen, die aus der weiblichen Rede abgeleitet sind, jetzt aber hymnisch gesteigert und in einen Ton der Zuversicht übertragen.

Mit keinem anderen Werk war Schönberg beim Publikum so erfolgreich wie mit der „Verklärten Nacht“, die, auch wenn sie mit der leitmotivischen Fülle und der satztechnischen Komplexität gar nicht leicht aufzunehmen ist, in ihrer Passioniertheit doch an bekannte Ausdruckstypen des 19. Jahrhunderts anschließt. Sie verbindet die Welten von Wagners „Tristan“ mit Brahms’scher Kammermusik, und das vor dem Hintergrund der von Richard Strauss propagierten Symphonischen Dichtung. Schönberg aber drängte es weiter, zu einem neuen, eigenen Ton, der ihn schon bald in einen geradezu identitätsstiftenden Dauerkonflikt mit dem breiten Publikum führte, ohne dass er diesen je gesucht hätte. 1948, in einem Rückblick kommentierte er seinen Lebensweg so: „Es war mir nicht bestimmt, in der Art von ‚Verklärte Nacht‘ oder der ‚Gurrelieder‘ oder sogar von ‚Pelleas und Melisande‘ weiterzumachen. Der Oberkommandierende hat mir eine härtere Strafe anbefohlen.“

II.

Von dem französischen Komponisten Darius Milhaud existiert eine eindringliche Erinnerung an einen Besuch in Schönbergs Wohnung im Wiener Vorort Mödling: „Wir tranken Kaffee im Esszimmer, dessen Wände mit Schönbergs Bildern vollgehängt waren: Gesichter und Augen, Augen – Augen überall.“ Das war um 1919. Zehn Jahre zuvor hatte Schönberg begonnen, intensiv zu malen, Porträts, aber vor allem Selbstporträts, und zahlreiche Gesichter mit weit aufgerissenen Augen, die nicht die äußerlichen Züge Schönbergs tragen, wohl aber als eine Art Selbstdarstellung gelten können – „Blicke“ nannte sie Wassily Kandinsky, mit dem Schönberg zeitweise engen Kontakt pflegte. Ein 1910 entstandener und in der „Fackel“ von Karl Kraus veröffentlichter Aphorismus Schönbergs liest sich wie ein komprimiertes Manifest des Expressionismus. Der Komponist entwickelt darin eine Metapher vom doppelten Blick des Künstlers, bei dem das Schauen nach innen das wesentliche Korrelat zur sinnlichen Begegnung mit der Welt bildet: „Kunst ist der Notschrei jener, die an sich das Schicksal der Menschheit erleben. Die nicht mit ihm sich abfinden, sondern sich mit ihm auseinandersetzen. Die nicht stumpf den Motor ‚dunkle Mächte‘ bedienen, sondern sich ins laufende Rad stürzen, um die Konstruktion zu begreifen. Die nicht die Augen abwenden, um sich vor Emotionen zu behüten, sondern sie aufreißen, um anzugehen, was angegangen werden muss. Die aber oft die Augen schließen, um wahrzunehmen, was die Sinne nicht vermitteln, um innen zu schauen, was nur scheinbar außen vorgeht. Und innen, in ihnen, ist die Bewegung der Welt; nach außen dringt nur der Widerhall: das Kunstwerk.“

Im Sommer 1909 komponierte Schönberg seine „Fünf Orchesterstücke“ op. 16. Die erst nachträglich entstandenen Titel der einzelnen Stücke haben ihre eigene, seltsame Geschichte: erst wollte Schönberg keine Titel, auf Wunsch des Verlegers schlug er schließlich welche vor, die dieser aber als zu wenig marktgängig ablehnte, worauf Schönberg nun seinerseits auf deren Hinzufügung bestand. Die ungewöhnlichen Titel scheinen zum Teil auf jenes schöpferische Zusammenwirken von Selbstwahrnehmung und Außenwahrnehmung anzuspielen, das Schönberg in seinem Aphorismus beschwört. „Vorgefühle“ und „Vergangenes“ – (Schönberg notierte dazu ironisch: „hat jeder“) gehen als Innenschau dem sinnlichen Wahrnehmen der „Farben“ voraus. Dabei überraschen die „Vorgefühle“ den Zuhörer mit einer hohen, noch gewissermaßen ungefilterten Dichte der Informationen, während „Vergangenes“ seine Motive übersichtlicher und kohärenter entwickelt. In beiden Sätzen treten der Flüchtigkeit der Motivik immer wieder Ostinatobildungen entgegen, die sich im Augenblick festhaken und die Musik zu Höhepunkten treiben. Das 3. Stück, „Farben“, zielt mit den ineinanderfließenden Übergängen der Instrumentierung eines gleichbleibenden Akkordes auf die Aufhebung von Zeit, die dann im vierten Stück, der „Peripetie“, als plötzliches Umschlagen eine dramatische Zuspitzung bewirkt. Auch der rätselhafte Titel des Schlussstückes, „Das obligate Rezitativ“, referiert auf das (Musik-)Theater. Stilistisch gibt es hier keine Anklänge an ein Rezitativ – auffällig ist aber, dass in der Instrumentation die Einheit von Themen und Instrumenten gegenüber den vorausgehenden Stücken viel weiter aufgebrochen wird, die Textur zersplittert und die Abläufe etwas quasi Protokollarisches annehmen. Das sind Ideen, die dann in der unmittelbar folgenden Komposition, dem Monodram „Erwartung“, eine entscheidende Rolle spielen, wo die sozusagen rezitativisch, nämlich im Prozess der Textvertonung, gewonnene Formfreiheit eine Musik des unmittelbaren Ausdrucks des Augenblicks hervorbringt.

III.

Der schöpferische Impuls der Orchesterstücke mit ihrem Aufbruch in die freie Atonalität trug Schönberg noch einige Jahre weiter. Aber zwischen 1913 und 1923 folgte eine Periode, in der er sich als Komponist weitgehend in seine Werkstatt zurückzog. Er suchte nach einer neuen Legitimation seines Komponierens, auf ethisch-weltanschaulicher Ebene wie auch in einem konkret handwerklichen Sinn. Während der langjährigen Arbeit an seinem unvollendet gebliebenen Oratorium „Die Jakobsleiter“ näherte er sich auf zunächst intuitive Weise der Vorstellung eines Tonsatzes, in dem alle zwölf Töne des chromatischen Totals gleiches Gewicht besitzen sollten. Die Regeln, die er dafür schließlich fand, basieren auf der Aufstellung einer zwölftönigen Reihe. Sie bildet eine Art Tiefenstruktur, aus der kontrapunktische Verfahren wie Umkehrung oder Krebsform, durch Umstellungen, Transpositionen und Verteilung auf den mehrstimmigen Satz in beständigem Variieren eine Oberflächenstruktur entsteht. Rhythmik und Phrasierung bleiben dabei völlig frei, sie werden von diesen neuen Regeln nicht erfasst. Die Anwendung dieser Methode ist eine Sache. Etwas ganz Anderes aber, und darauf hat Schönberg immer wieder bestanden, sind die ästhetischen Qualitäten eines Stückes, seine „Gedanken“ (so Schönbergs zentraler Begriff) und deren Darstellung. „Meine Werke sind Zwölfton-Kompositionen und nicht Zwölfton-Kompositionen“ schreibt er 1927 in einem berühmten Brief an den Geiger Rudolf Kolisch, und er betont, entscheidend für das Verstehen sei nicht die „Erkenntnis, wie es gemacht ist“, sondern „was es ist“.

Schönberg hatte sein Verfahren zunächst Anfang der zwanziger Jahre in Klavierstücken und kleineren Besetzungen erprobt. Mit den Variationen op. 31, die 1926–28 entstanden, überträgt er es zum ersten Mal auf das Orchester. In der Großform, als Variationen, spiegelt dieses Stück auch seine Tiefenstruktur, die beständige variative Entwicklung seiner 12-tönigen Formel. Wohl auch wegen dieser Spiegelung von klassischer Form und neuer Technik hat Schönberg in diesem Stück bei der Vorstellung des Themas eine eher ungewöhnliche Anwendung der 12-Ton-Reihe benutzt: Die Tonhöhen von Melodie und Reihe sind in ihrem Ablauf identisch, das Thema präsentiert direkt die Reihe als musikalische Gestalt. Und dies geschieht ganz klassisch, als eine sprechend phrasierte Melodie der Celli, die von gehaltenen Akkorden grundiert wird.

Dem Thema geht eine Einleitung voraus. Leise pendelnde Tritonusklänge bauen Spannung auf und eine große Steigerung weist auf die Spannweite der folgenden Musik. Am Schluss der Einleitung erklingt in der Posaune, pianissimo aber deutlich vernehmbar, das Motiv B-A-C-H, das später im Finale noch eine beherrschende Rolle spielen wird – eine Hommage an den Geist jenes Komponisten, bei dem Ausdruck und Konstruktivität nie im Widerspruch zueinander stehen. Das Thema übernimmt in einigen Variationen die Rolle eines Cantus firmus. Er ist allerdings nicht auf Hörbarkeit angelegt, sondern erscheint mehr als eine Art innere Stimme. Wesentlich sind die Gegenthemen, die Schönberg erfindet und dem Thema, ähnlich wie das B-A-C-H-Zitat, gewissermaßen aufpfropft. Die einzelnen Variationen bilden deutlich unterschiedliche Charaktere aus. Farben, Tempi und Stimmungen wechseln ebenso wie die Länge. Die 8. Variation als kürzeste dauert 30 Sekunden, die 7. ist mit etwa drei Minuten die längste. Am Ende steht, nach dem Vorbild klassisch-romantischer Variationszyklen, ein Finale. Dieses präsentiert schließlich zwar keine krönende Fuge, die als tonale Form in der 12-Ton-Musik sinnlos wäre, aber eine Fülle komplexer Kanons. Das B-A-C-H-Motiv aus der Einleitung erscheint wieder und wird mit Motiven des Themas zusammengeführt. Das Tempo steigert sich mehrfach, unterbrochen von langsamen Einschüben, die auch noch einmal den Schlussteil des Themas in der Originalgestalt zitieren, bevor das Stück seinem Ende, einem Zwölftonakkord des ganzen Orchesters, zustürmt.

 

Bildnachweise: Jonas Unger (Beitragsbild) // Edvard Munch, „Zwei Menschen. Die Einsamen”, 1899 (1917), Farbholzschnitt, Wallraf-Richartz Museum Köln // Arnold Schönberg, Mai 1926, Foto auf grüner Pappe; es handelt sich vermutlich um die Ausweiskarte für die Akademie der bildenden Künste in Berlin © Arnold Schönberg Center, Wien
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