VOM GLÜCK GEGENSEITIGER INSPIRATION

Im Vorfeld der Neuproduktion sprach Dramaturg Christoph Lang mit Sänger Florian Boesch, Regisseur und Puppenspieler Nikolaus Habjan sowie dem Komponisten und Musikalischen Leiter Andreas Schett

 

Wie kam es zur Idee einer szenischen Umsetzung von Schuberts »Schöner Müllerin«?

ANDREAS SCHETT Natürlich kann man so etwas nicht aus dem Ärmel schütteln. Wir kennen uns gut und haben als Musicbanda Franui jeweils schon mit Nikolaus und Florian gearbeitet. Mit Florian haben wir schon oft über »Die schöne Müllerin« gesprochen und beschlossen: Wenn wir uns einmal einem ganzen Liederzyklus widmen wollen, dann der »Müllerin«. Wir wollten das in dieser Besetzung tun, haben die beiden Herren zusammengebracht und während der Corona-Zeit ein Abendessen und die halbe Nacht lang unsere Sichtweisen auf diesen Stoff diskutiert. Seitdem sind wir sicher, dass es so genau richtig ist.

 

Ein wichtiger Ausgangspunkt des Abends ist auch deine unkonventionelle Lesart des Zyklus, Florian. Welche Bedeutung hat sie für die musikalische Gestaltung?

FLORIAN BOESCH Grundsätzlich gehe ich immer vom Inhalt aus und nicht etwa von einer Klangvorstellung. Ich beginne – wie Schubert auch – bei den Gedichten von Wilhelm Müller und versuche, jedes Wort zu verstehen. Ich kann so einen Zyklus nicht singen, ohne ihn wirklich zu durchdringen, und dazu habe ich bei der »Müllerin« in der Tat einige Zeit gebraucht. Man muss die Hörgewohnheiten und Mauern im Kopf erstmal einreißen. Indem man sich dafür Zeit nimmt, erarbeitet man sich die Grundlage einer Interpretation. Die konventionelle Erzählweise ergab für mich keinen Sinn. Ich musste mir also klarmachen, worum es wirklich geht.

AS Der springende Punkt unserer neuen Lesart, bei dem wir uns sofort getroffen haben, ist das Lied »Der Müller und der Bach«, bei dem uns Florian völlig überzeugt hat, dass der Bach kein Todesbote für den Müller ist, wenn er singt »Und wenn sich die Liebe / Dem Schmerz entringt, / Ein Sternlein, ein neues / Am Himmel erblinkt.« Wir hatten das Lied bereits früher vertont und die gesamte Replik des Bachs als Chor besonders herausgestellt. Das ist es, was er dem Müller am Ende zu sagen hat.

NIKOLAUS HABJAN Im folgenden Lied heißt es dann: »Der Vollmond steigt, / Der Nebel weicht, / Und der Himmel da droben, wie ist er so weit!«. Die Botschaft ist offenbar: Wenn man den Liebesschmerz überwunden hat, erscheint ein neuer Stern am Himmel und die Weite des Himmels zeigt, wie vielen und wie oft das schon passiert ist.

FB Die Kernidee ist, dass es keinen Suizid gibt. Wenn man den Epilog von Müller liest, den Schubert nicht vertont hat, wird die »Grabrede« des Bachs bereits infrage gestellt. Wir kennen Wilhelm Müller auch aus der »Winterreise« und wissen, dass er mit klaren Worten in die menschliche Psyche blickt und Dinge beschreibt, die erst weit später als psychologische Phänomene beschrieben wurden. Müller als einen oberflächlichen romantischen Dichter abzutun, scheint mir wirklich ungeheuerlich. »Die schöne Müllerin« steht der »Winterreise« jedenfalls in nichts nach. Ein häufig missverstandenes Lied ist etwa »Pause«. Hier erlebt jemand einen psychotischen Schub, wie ihn besonders jugendliche Menschen haben. Die entscheidende Stelle lautet »Ei, wie groß ist wohl meines Glückes Last, / Dass kein Klang auf Erden es in sich fasst?« Wann immer es dem Müller schlecht ging, konnte er seinen Schmerz in Lieder fassen, aber nun geht es ihm so dreckig, dass ihm diese  Ausdrucksmöglichkeit genommen ist. Auslöser hierfür ist das Missverständnis zwischen Müllerin und Müller am Ende von »Tränenregen«, wenn sie seine Tränen für Regen hält. Ich wurde in einem Gesprächskonzert einmal gefragt, warum ich das anschließende »Mein!« so böse singe. Es ist ganz klar: Der Müller redet sich ein, dass die Müllerin »sein« sei und verpflichtet die Elemente der Natur, nur noch das zu sagen. Wenn er dann in »Pause« von seinem Glück spricht, dreht er die gesamte Realität der Welt um und passt sie seiner Psychodynamik an.

 

Eine andere Stelle, die mit Hörerwartungen bricht, ist das bei euch sehr trotzig klingende Ende von »Trockne Blumen«.

FB Auch das ist eine spannende Geschichte, die in der Jugendpsychologie häufig beschrieben wird: Viele Jugendliche stellen sich ihr eigenes Begräbnis vor. Im Gegensatz zu älteren Menschen sind sie in ihrem Umgang mit dem Tod in der Lage, dies zu tun ohne die persönlichen Konsequenzen zu bedenken. Franui hat auch dieses Lied bereits früher vom Kontext des Zyklus losgelöst interpretiert und in einem Tanz enden lassen.

AS »Wenn man einen Trauermarsch viermal so schnell spielt, wird er zu einer Polka«, das ist unser musikalischer Leitgedanke in dieser Komposition gewesen. Freud und Leid liegen nah beieinander und als Florian und wir das erste Mal zusammen musiziert haben, ist bei diesem Stück sofort der Funke übergesprungen. Der inhaltlichen Deutung entsprechend kann man die Rekomposition und die Instrumentierung angehen und bestimmte Stellen hervorheben und viel stärker in die eine oder andere Richtung interpretieren, als es in der reinen Klavierfassung möglich wäre. Manche Passagen klingen dementsprechend nach »Wozzeck«, Weill oder Volksmusik, andere wie ein Popsong – unser Instrumentarium ermöglicht eine Vielzahl von Farben.

 

Wie würdest du eure musikalische Fassung ganz allgemein charakterisieren?

AS In jedem Fall wollen auch wir mit Hörgewohnheiten brechen, um den wörtlichen Inhalt der Texte hervorzuheben. Das passiert häufig auf sehr subtile Weise. In »Die liebe Farbe« etwa ist jeder Ton original von Schubert, aber durch die Instrumentierung erhält die Musik einen völlig neuen Charakter. Ähnlich ist es im ersten Lied, wenn das »Wander-Motiv« im Akkordeon erklingt und dadurch ganz andere Assoziationen auslöst. Wir arbeiten mit solchen Kontextverschiebungen, nehmen uns aber auch das musikalische Fundament vor und denken es völlig neu.

 

An einer Stelle gibt es eine Art »Müllerin«-Medley …

AS Wir nennen es »Erinnerungsschleife«. Im Zuge der psychotischen Schübe erinnert sich der Müller an alles, was er zuvor erlebt hat.

NH Ein bisschen, wie wenn man sich beim Einschlafen an etwas Peinliches erinnert, was man vor drei Jahren getan hat, und dabei zusammenzuckt.

FB Es ist eine Form der Traumabewältigung. Die vielen Motive, die im letzten Drittel der  Fassung immer wieder auftauchen, sind die konsequente musikalische Realisierung des Inhalts.

AS Auch ein Deutscher Tanz von Schubert und der »Kupelwieser-Walzer« haben Eingang in die Fassung gefunden. Am Ende von »Tränenregen«, wo es zur vielleicht einzigen Begegnung von Müller und Müllerin kommt, erklingt wie ein Traumbild diese Tanzmusik.

 

Als Liederzyklus ist »Die schöne Müllerin« zunächst ein konzertantes Werk. Was war dein szenischer Zugriff, Nikolaus?

NH Ich habe mich dem Stück zunächst nicht über die verschiedenen Figuren genähert, sondern über die Situationen und psychischen Zustände des Protagonisten. Bereits nach unseren ersten Gesprächen hatte ich eine Vorstellung, in welche Richtung das geht. Florian und ich haben uns dann ein paar Tage zusammengesetzt und alles minutiös durchdacht. Wir haben auch die Puppen zusammen bemalt und jetzt bringen wir alles physisch zusammen.

FB Wir haben damals übrigens noch auf Basis der Klavierfassung gearbeitet, weil die musikalische Fassung noch gar nicht existierte. Im Moment reagieren wir ständig darauf, was musikalisch passiert.

 

 Das klingt nach einem spannenden Arbeitsprozess. Kommt es da manchmal zu Differenzen zwischen musikalischer Deutung, Text und Szene?

NH Tatsächlich nicht, weil wir einander ein großes Vertrauen entgegenbringen. Außerdem haben wir natürlich wichtige Weichen im Vorfeld gestellt.

FB Bei unserem ersten Treffen haben wir genau abgeklopft, ob wir inhaltlich auf einer Linie sind. Wenn die anderen auf den Selbstmord des Müllers bestanden hätten, dann hätte ich das nicht machen können. Die Stoßrichtung war also klar, aber welche Schritte in diese Richtung führen, war Teil eines offenen Arbeitsprozesses.

AS Es ist ein Ping-Pong-Spiel: Durch die gemeinsame inhaltliche Linie bekommt die Musik eine generelle Richtung. An bestimmten Stellen haben wir uns im Arbeitsprozess auch gerieben, aber das hat die Sache viel besser gemacht.

FB Wenn man sich gegenseitig inspiriert, ist das einfach toll.

 

Zentrales Element der szenischen Umsetzung ist das Puppenspiel. Hast du als Sänger vorher schon einmal mit Puppen gearbeitet, Florian?

FB Wir haben zwar mit Familie Flöz Maskentheater gemacht, aber in dieser Weise ist es seit meinen Kindertagen tatsächlich das erste Mal. Es fasziniert mich wirklich zutiefst, was Puppen können. Ich musste aber auch viel üben: Ich singe sehr körperlich und es war für mich gar nicht so einfach, die Intensität des Ausdrucks aus meiner Körperlichkeit herauszunehmen und an die Puppe abzugeben.

NH Du hast aber auch einmal gesagt, dass dir die Puppe etwas ermöglicht, das du bei einem normalen Liederabend nicht tun könntest, etwa das Heraustreten aus der Figur, das Zeigen der Sicht von außen oder überhaupt die körperliche Darstellung bestimmter Aspekte.

FB Die Puppe gibt unserer Interpretation des Liederzyklus ein enormes Erklärungspotential. Beim eingangs erwähnten Einreißen gedanklicher Mauern wäre ich ohne die Puppe an einigen Stellen fast chancenlos. Wie man die Psyche, die Realität, die Zustände, die Wünsche und Sehnsüchte eines Menschen mit einer Puppe darstellen kann, ist fantastisch.

AS Wir haben in einem Projekt mit Nikolaus über Texte von Robert Walser die Erfahrung gemacht, dass manchmal nur mit der Puppe der gewünschte Ausdruck erreicht werden kann.

FB Das Nicht-Persönliche der Puppe sorgt beim Publikum für eine große Identifikation mit der Figur.

NH Puppentheater ist eigentlich verstecktes Mitmach-Theater. Alle Mängel oder  Unfähigkeiten der Puppe substituiert das Publikum mit sich selbst. Jede:r erzeugt seine eigene, vollkommen stimmige Fassung.

Ein Kommentar

  • Elisabeth Sedlmaier
    schrieb am 23.05.2023 um 18:36 Uhr.

    Hallo,
    DIE SCHÖNE MÜLLERIN in dieser spannenden Inszenierung hätten wir gerne gesehen.

    Jedoch ist der Termin für uns zu knapp.
    Wird es nochmal aufgeführt? Wenn ja, wann?

    Eine sehr interessante Idee.

    Lg Elisabeth Sedlmaier, Landshut, Niederbayern

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