Dem Geheimnis auf der Spur – Begegnungen in der Orchesterakademie

Die Orchesterakademie bei der Staatskapelle Berlin feiert am 21. Mai ihr 25-jähriges Bestehen mit einem Jubiläumskonzert im Großen Saal der Staatsoper Unter den Linden. Unter der musikalischen Leitung von Daniel Barenboim spielen aktuelle Akademist:innen, Alumni und Mentor:innen zusammen. Kulturjournalistin Maria Ossowski hat einige von ihnen getroffen.

 

Der besondere, der berühmte Klang. Er erwächst aus einem scheinbaren Widerspruch: Strahlend ist er und gleichsam dunkel. Romantisch und doch modern. Zartwebend und dennoch kraftvoll. Der spezifische Ton der Staatskapelle Berlin ist ein Geheimnis des Orchesters, und ein musikalisches Geheimnis offenbart sich den neuen Mitgliedern des so einzigartigen Klangkörpers nicht plötzlich und unvermittelt. Dieses Mysterium der Musikfarbe ist entstanden dank großer Disziplin der Musiker:innen, über Jahrzehnte inspiriert von der Phantasie, der Geduld, der Genialität und der pädagogischen Empathie des Chefdirigenten. Deshalb braucht es vor allem Zeit, um das Geheimnis zu enträtseln und es zu begreifen. Viel Zeit, die keine noch so exzellente Hochschule ermöglichen kann. Diese Zeit bietet die Orchesterakademie der Staatskapelle. Zwei Jahre können Akademist:innen im Anschluss an ihre Hochschulausbildung hineinwachsen in den Klangraum des Orchesters, unterstützt von ihren Mentoren, den Kolleg:innen der Stimmgruppen, dem Orchestermanagement, einer Psychologin, Gesundheitsexperten und weiteren guten Geistern, die junge Künstler:innen auf dem Weg zum Orchestermusiker brauchen. 330 Musiker:innen haben die Akademie im letzten Vierteljahrhundert absolviert, und niemand von ihnen würde je den Mann vergessen, der sie alle begleitet hat, der jedes Detail über jede Aufführung im Kopf hatte und über den unzählige liebevolle Anekdoten kursieren.

Leitstelle und Ehrenmitglied

Thomas Küchler einen guten Geist zu nennen, wäre ein Klischee. Er war und ist viel mehr. Offiziell Rentner, offiziell ehemaliger Orchestermanager, offiziell Mitbegründer der Orchesterakademie, war er all dies und vor allem: Gedächtnis und Leitstelle des Orchesters und sicherer Beistand für junge Akademisten, die sich zurechtfinden mussten in den Besonderheiten ihrer neuen Umgebung.

Seit 1975 in der Staatsoper angestellt, hat Küchler zunächst als leitender Orchesterwart, seit 1978 als Orchestersekretär und später als Orchestermanager 42 Jahre lang für alles gesorgt, was den Akademisten, den Orchestermitgliedern und dem Dirigenten wichtig war. Dies tat er, als sein besonderes Markenzeichen, BEVOR eine mögliche Störung des Ablaufs irgendjemandem aufgefallen wäre. Spätabends kam ein Anruf aus Schönefeld: Die Instrumente für eine Reise nach Tokio passen nicht ins Flugzeug. Thomas Küchler fuhr nachts zum Flughafen und packte selbst mit an, stapelte und baute um, und als das Orchester morgens eincheckte, hatte er zwar kaum geschlafen, aber der Flug startete pünktlich, mit sämtlichen Instrumenten und Meister Küchler an Bord, der in Vertretung der Orchesterdirektion auch auf allen Reisen jede Kleinigkeit kontrollierte und besonders die jungen, die neuen Orchestermitglieder aus der Akademie stützte und umsorgte.

Küchler hatte mit Generalmusikdirektor Daniel Barenboim, dem damaligen Intendanten Georg Quander, den Kollegen des Orchestervorstandes, Matthias Glander und Egbert Schimmelpfennig sowie dem Solo-Oboisten Gregor Witt die Akademie mitbegründet, wohl ahnend, dass damit die ewigen Fragen nach passenden Aushilfen, aber auch nach einer Verjüngung und der musikalischen Zukunft des Orchesters weitgehend beantwortet wären.

Als »Chefdiensteinteiler« sorgte er gemeinsam mit den Mentoren dafür, dass in Proben, Vorstellungen und Konzerten eine angemessene Anzahl an Akademisten (pro Streichergruppe ein Akademist) eingeteilt wurde und die Akademisten entsprechend vorbereitet waren. Küchler organisierte spezielle Akademistenkonzerte, aber auch die Probespieltermine für Akademiebewerber:innen. 30 bis 40 junge Musiker:innen bewarben sich damals im Schnitt um eine Stelle, heute sind es weit mehr, bis zu 150.

So ein Probespiel ist anstrengend, es dauert fünf Stunden und muss akribisch disponiert und vorbereitet sein.

Durfte dann ein Akademist zum ersten Mal im Orchester spielen, achtete Thomas Küchler darauf, dass die jungen Musiker:innen nur mit entsprechenden Proben und vielleicht nicht sofort im »Tristan« oder bei Schönberg eingesetzt wurden. Er schaute, dass die Mentoren mit ihren Akademisten in Ruhe die Partituren erarbeiten konnten. »Sie kommen frisch von der Hochschule und sind technisch hervorragend ausgebildet, aber im Orchester zu spielen, das ist etwas ganz anderes.«

Küchler hatte für jede und jeden ein offenes Ohr und mit seinem Team für alles den ordnenden Blick. Der Klavierstimmer war bestellt, bevor der Flügel verstimmt klang. Die Tür im 3. Rang hatte er meist schließen können, bevor Maestro Barenboim rief: »Herr Küchler, es zieht!« Noch ein Blick in den Orchestergraben: Alle sind da, alle können gut sitzen. Die Probe oder Vorstellung konnte beginnen.

Thomas Küchler, geboren bei Zwickau, aufgewachsen in Crimmitschau, konnte sich einfühlen in jede Musikerseele. Er selbst hatte »Rosinen im Kopf und Mandeln im Hals und eine schöne Stimme«, wie es ein berühmter Sänger formulierte, dem er vorgesungen hatte, um Gesang zu studieren. Wegen gesundheitlicher Probleme musste er die Engagements nach einigen Jahren aufgeben, es führte ihn sein beruflicher Weg schließlich nach Berlin. Dort, so beschreibt er es selbst, hatte er einen wunderbaren Beruf, einen dienenden, dem er alles unterordnete, auch die seltene Freizeit in einer kleinen Datscha in Eichwalde.

Heute ist Thomas Küchler Ehrenmitglied der Staatskapelle und in den Gängen des Hauses so gern gesehen wie eh und je. Und gehört. Seine Pausen-Aufrufe haben Kultstatus, die Musiker haben sie aufgezeichnet. Diese freundliche Ermahnung im immer gleichen Duktus hat die Staatskapelle und die Akademisten über Jahrzehnte begleitet, in Tokio oder in New York, im Schiller Theater und in der Philharmonie und im Stammhaus an der Lindenstraße sowieso: »Darf ich die Damen und Herren der Staatskapelle wieder zur Bühne bitten: Die Pause ist beendet! Für die Damen und Herren der Staatskapelle: Die Pause ist beendet!« Für Thomas Küchler, Leitstelle und Ehrenmitglied seines Orchesters, ist seine Liebe zur Staatsoper ein Lebenskontinuum, das nicht endet und ihn hoffentlich noch lange begleitet.

Gründer und Gipfelstürmer

Die Jahre nach der Wiedervereinigung waren keine leichten für Kulturinstitutionen aus der ehemaligen DDR. Die Staatskapelle, das Orchester mit der großen Tradition, musste sich von 156 auf 125 Musikerstellen verkleinern. Die Arbeitsbelastung wuchs, die Dienste wurden mehr. Unabhängigkeit und Flexibilität schienen in Gefahr. Daniel Barenboim hatte Gregor Witt, bislang in Schwerin und an der Komischen Oper als Solo-Oboist tätig, in eben dieser Funktion in sein Orchester geholt – Witt kam in den Orchestervorstand und somit auch in den Gründungsvorstand der neuen Orchesterakademie. Deren Aufgabe: klangliche Ideale und Musikerstile im Sinne der Staatskapelle bei den Akademisten auszubilden und zu pflegen und die jungen Musiker:innen Schritt für Schritt ins Orchester zu integrieren.

Das Vorbild: die Orchesterakademie der Berliner Philharmoniker, die berühmte Karajan-Akademie. Auch die Staatskapelle Dresden hatte ganze Generationen von Streichern ausgebildet, die perfekt in den Klang des altehrwürdigen Orchesters passten.

Die Akademisten der Staatskapelle Berlin sollten sich an das Musizieren im Graben gewöhnen, das Opernrepertoire studieren, sie sollten eintauchen in den Spielbetrieb, und all dies mit einem Stipendium, das ihnen wirtschaftliche Sorgen erspart. Es war schon vor 25 Jahren großzügig, heute liegt die monatliche Unterstützung der momentan 28 Akademisten bei 1.176 Euro, hinzu kommen Hilfen für die Instrumentenpflege und den Gehörschutz. Gregor Witt erinnert sich an seine Jugendjahre als sogenannter Substitut im Orchester: Zu DDR-Zeiten gab es 12 Mark für eine Vorstellung, 8 Mark für die Probe. »Das war wenig, selbst bei 25 Mark Miete«, erzählt er.

Gregor Witt hat Generationen von Oboisten ausgebildet, er war Mentor für spätere Solo-Oboisten der Staatskapelle wie Cristina Gómez Godoy und Fabian Schäfer. Alle Oboisten der Akademie sind später zu Probespielen eingeladen und nahezu alle in Orchestern angestellt worden. Witt lehrte sie, wie ein Klang sich im Orchester bildet, wie der Klang im Körper erlebbar wird, wie man die Spezifika der Dirigenten erkennt und wie sich beim Chef Daniel Barenboim der Klang in Magie verwandelt: »weich im Schlag« sei er, und »hart im Blick«. »Er sieht alles, er hört alles, er spürt alles.«

Witt lebt seit seiner Kindheit in der Musik, die Mutter war Sängerin, der Vater Pianist. Als Schüler sah und hörte er in der Staatsoper einen »Tannhäuser« und wusste: »Da möchte ich auch spielen.«

Dreißig Jahre ist Witt jetzt dabei, er sorgt für den guten Oboen-Ton in der Staatskapelle, er lehrt als Professor in Rostock Oboe und Kammermusik, er sorgt für einen »fluiden Übergang der Akademisten von ihrer Ausbildung ins Berufsleben« und er organisiert gemeinsam mit seiner Kollegin Tatjana Winkler alljährlich die Oboenweihnachtsfeier mit den Akademisten, erzgebirgischer Folklore und Räucherkerzen. Seine Töchter spielen Cello und Geige, er selbst entspannt sich sportlich, paddelt, war mit dem Rennrad so ziemlich überall, und: »Ich habe die Gebirge der Welt durchwandert zwischen Alaska und Peru.« Bei schlechtem Wetter zieht es ihn zur Abwechslung in den Keller, zu seiner Modelleisenbahn, im Moment baut er den Bahnhof Wolkenstein. Die Eisenbahn, lacht er, habe eins mit der Musik gemeinsam: Sie sei eine Lebensaufgabe.

Hart am Wind und sanft auf der Welle

Der junge Oboen-Student Fabian Schäfer stammt aus Weimar, er hat in Hannover studiert, den »Rosenkavalier« an der Staatsoper Berlin besucht und Gregor Witt gehört. Schäfer schrieb Witt ein Mail: »So will ich auch Oboe spielen.« Ob er ihm vorspielen dürfe? Witt erkannte die große Begabung, seit fünf Jahren war eine Oboen-Stelle im Orchester vakant, Schäfer trat ein in die Akademie. »Ein runder, weitschwingender Oboenton war das Ziel«, so erinnert sich Schäfers Mentor Witt. Und Schäfer spielte auf der Plaza Mayor in Madrid unter Daniel Barenboim die »Eroica«. So gut, dass die Party danach bei Tapas und Wein bis früh um vier dauerte. Schäfer selbst erinnert, wie aufgeregt er bei der ersten »Figaro«-Wiederaufnahme unter Barenboim gewesen sei, denn der Chefdirigent achte besonders auf die neuen Mitglieder des Orchesters. In der dritten Aufführung durfte er die erste Oboe spielen, Barenboim saß in der Loge.

Gelernt hat Schäfer in dieser Zeit, die Aufregung zu kontrollieren und mit Ausnahmesituationen souverän umzugehen. Eine Offenbarung sei es, wenn das Gefüge des Orchesters wunderbar funktioniert und er ein Teil des Ganzen sei. Zu spüren, wann das Rubato zu viel ist und wann zu wenig, ob die Intonation perfekt ist und ob der eigene Impetus übereinstimmt mit dem, was passt. Das war ihm wichtig als Akademist, und das hat er später als Mentor an die ihm anbefohlenen jungen Künstler:innen weiter gegeben. »Ich habe mich sehr mit der Aufgabe identifiziert, die hohe Intensität war und ist gepaart mit dem starken Willen, diese zu kontrollieren. An einzelnen Punkten muss man die Intensität loslassen. Der Kontrast zwischen Zurückhaltung und Ekstase überwältigt. Nichts ist egal in der Musik, und nichts ist neutral.«

Das lebt er, das hat er weitergegeben an die jüngeren Oboisten in der Akademie. Fabian Schäfers Eltern waren Architekten. Sie haben Anfang der Siebziger Jahre ein Blockflötenoktett gegründet, das sich noch heute jeden Montag in Weimar trifft. Seine Töchter spielen Klavier und Geige. Seine Familie steht mit der Musik im Mittelpunkt seines Lebens, und Schäfer konstruiert in den musikfreien Zeiten Segelboote, »bislang ist noch keines gebaut worden, das wäre zu teuer«, oder er segelt auf der Ostsee seine kleine Jolle »Optimist«. Das Segeln sei eine andere Form des Musizierens, denn beides verbinde die Fragen: was ist machbar? Woher weht der Wind? Und wie tariere ich die Intensität der Welle richtig aus?

Schöne Musik – und die Seele?

Wer auch immer sich an die Akademie-Zeit erinnert oder noch in der Ausbildung ist: das Probespiel vergisst niemand, genauso wenig wie die ersten Dienste im Orchester. Die Aufregung, das Herzklopfen, die Angst, die Hoffnung. Seit 2016 steht die Psychologin Magdalena Zabanoff an der Seite der Akademisten, sie begleitet sie durch Höhen und Tiefen und übt mit ihnen, den möglichen Stress zu ertragen. Zabanoff weiß, welchen Hochleistungssport Musiker:innen absolvieren. Morgens Probe, abends Konzert. Alles, was sie ein Leben lang geübt haben, müssen sie verlässlich abrufen können, egal, ob die Wohnung gekündigt wurde, es Ärger in der Partnerschaft gibt oder das Selbstvertrauen, warum auch immer, gerade leidet.

Zabanoffs Voraussetzungen, sich einzufühlen in die Seele der Akademisten, könnten besser kaum sein: Zabanoffs Vater war Philharmoniker, die Mutter Ärztin. Sie selbst hat Medizin, Gesang und Psychologie studiert, in der Hanns-Eisler-Hochschule für Musik hat sie mentale Unterstützung selbst vermisst und deshalb alles kombiniert, um Musiker:innen psychologisch zu begleiten. Sie übt mit ihnen, sich zu entspannen, sich zu motivieren und die Gefühle zu regulieren. Sie fragt, wie bedrohlich ängstigende Situationen wirklich sind.

Sie bietet Konzentrationsübungen an und ein Abschirmungstraining gegen Störereignisse. Sie fragt: warum sind Sie aufgeregt? Und geht die Szenen im Einzelnen durch. Sie bietet Entspannungsbilder an und maßgeschneiderte Tools, um die Anspannungen zu lösen.

Neun Stunden im Jahr können Akademisten bei Zabanoff buchen, manche gern auch mehr, wenn es nötig ist, denn nicht alle suchen ihre Hilfe.

Es gibt Themen, die würden, so Zabanoff, in Orchestern ungern besprochen oder verdrängt. Ein älterer Bläser z. B. spürt, dass die jüngeren aktiver und lustvoller und auch technisch besser spielen. Die Stimmung in der Gruppe verschlechtert sich.

Im Leistungssport werden ältere Ehemalige als Helden verehrt, in der Musik, so Zabanoff, sei das überhaupt nicht der Fall.

Oder: Die jungen Mitglieder fühlen, als würden sie zerrieben zwischen den Fronten rivalisierender Orchestergruppen. Für Magdalena Zabanoff ist es fatal, solche Schwierigkeiten zu verdrängen. »Sie existieren in allen Orchestern, das ist ein schwieriges Biotop.« Schikanen sind möglich, das Pult ist plötzlich auf die falsche Höhe eingestellt, Absicht? Unsicherheiten verhindern ein entspanntes Musizieren. Zabanoff versucht, der Seele Sicherheit zu vermitteln. Eine Sicherheit, die Grundlage ist, um dem Geheimnis des Orchesterklangs zu folgen.

Der bunte Kontrabass und die gestimmte Harfe

Antonia Hadulla spielt seit einem Jahr im Orchester den Kontrabass, kundig begleitet von ihrem Mentor Christoph Anacker, der selbst zwischen 2001 und 2003 Akademist war und weiß, welche Hilfestellungen junge Musiker:innen brauchen. Sie erarbeiten gemeinsam komplizierte Orchesterstellen, Antonia holt sich Rat bei ihrem Mentor. Sie holt sich auch Rat bei Magdalena Zabanoff, einmal, um den Druck aus den eigenen Erwartungen und den ihrer Kolleg:innen zu nehmen, zum anderen, um Konzentration zu üben und sich nicht ablenken zu lassen. Sie schreibt auf, was sie ablenkt, legt den Zettel beiseite und kann dann ungestörter üben. Antonia entstammt einer Musikerfamilie aus Traunstein, ihr kleiner Bruder spielte einen wunderbar bunten Kinderkontrabass, der hat sie derart fasziniert, dass sie mit solch einem Instrument ebenfalls musizieren wollte. Als Akademistin ist sie auch Akademie-Sprecherin, sie hat die Weihnachtsfeier mit Lebkuchen und Glühwein organisiert.

Antonia Hadulla erzählt offen von der Aufregung vor ihrer ersten Probe im Orchester. In der Pause wusste sie nicht: wohin? Unbekannte Gesichter um sie herum, viele ältere Herren darunter, sie kam sich zunächst fremd vor und blieb für sich. Solche Gefühle, so Magdalena Zabanoff, seien völlig normal. Antonia nutzt die Hilfe der Diplom-Psychologin gern und weiß, dass Musiker gute und schlechte Gefühle kennen müssen, um musikalisch etwas erzählen zu können.

Clara Simarro, mit einem spanischen Vater ist sie zweisprachig aufgewachsen, wirkt so freundlich wie geduldig. Und Geduld braucht sie als Harfenistin. Seit Oktober 2022 arbeitet sie in der Akademie mit ihren Mentoren Alexandra Clemenz und Stephen Fitzpatrick. An ihren ersten Einsatz im Ballett »Giselle« erinnert sie sich gut, an die Aufregung vorher, besonders gern aber an das leise Füßescharren des Orchesters am Schluss. So zeigen die Kolleg:innen den »Neuen« ihre Hochachtung.

Im »Rosenkavalier« mit vier Stunden und vierzig Minuten Gesamtlänge ist sie genau 15 Minuten im Einsatz; Harfenistinnen brauchen eben Geduld, nicht nur beim Stimmen, sondern ebenso im Orchestergraben oder auf der Bühne.

Auch Clara Simarro nimmt die Hilfe von Magdalena Zabanoff in Anspruch. Wie alle Musiker:innen möchte sie ihre Aufregung vor Probespielen oder in Wettbewerben positiv besetzen und, wenn nötig, dämpfen. Für sie ist dabei entscheidend, zu wissen, dass sie mit diesen komplizierten Gefühlen nicht allein ist, im Gegenteil. Jede und jeder kennt die Anspannung. Magdalena Zabanoff sei, so Clara Simarro, eine ideale Unterstützerin, weil sie als Musikerin zwar die speziellen Bedürfnisse der Orchesteranfänger:innen kennt, aber nicht deren Kollegin ist. Musiker:innen »müssen in ihrer Kunst einerseits seelisch durchlässig sein, anderseits brauchen sie ein Schutzschild«.

Beide, Antonia und Clara, können sich sehr gut eine Zukunft in der Staatskapelle vorstellen, auch wenn Antonia zu Bedenken gibt: »Man sollte nie sagen: nur dieses Orchester.«

Das ganze Orchester als Mentor

Darya Varlamova aus Minsk ist seit dem Ende ihrer Akademiezeit 2020 festes Mitglied Staatskapelle und beeindruckt vom Zusammenhalt in ihrer Stimmgruppe, den ersten Geigen, erfüllt vom Klang, der so fein zu ihrer Kunst und ihrer Gragnani-Geige von 1782 passt. Aus einer belorussischen Musikerfamilie stammend, der Vater spielte Cello, die Mutter Klavier, sei ihr gar nichts anderes übrig geblieben, erzählt sie, als selbst Musikerin zu werden. An ihre allererste Orchesterprobe erinnerte sie sich, Sibelius stand auf dem Programm. Ihr Mentor, der Erste Konzertmeister Lothar Strauß habe sie stützend begleitet.

Die Eltern sind irgendwann einmal aus Minsk angereist und haben eine »Bohème« an der Staatsoper gehört, die Tochter saß im Graben, sie waren begeistert. Darya hatte viele Stipendien in der Studienzeit, sie konnte bedeutende Preise gewinnen, und dennoch vermisst sie eine solistische Karriere nicht. Der Zusammenhalt im Orchester bedeute ihr mehr, sie spüre eine beglückende Einheit und ihr Ziel sei es, im Orchester zu bleiben.

Die Bratschistin Helene Wilke, Akademistin zwischen 2004 und 2006, fand ihren Beginn nicht einfach, eher sehr anspruchsvoll. Verliebt in den Klang des Orchesters, spürte sie doch, wie intensiv sie beobachtet wurde, »jeder schaut auf die Finger«, sie fühlte sich verunsichert. Im ersten »Schwanensee« habe sie rote Wangen gehabt vor Aufregung, aber ihr Mentor Felix Schwartz und die Bratschengruppe haben sie integriert und auch emotional mitgenommen.

Als Akademistin durfte sie an der Japantournee des Orchesters teilnehmen, mit Mahlers 7. Sinfonie. Daniel Barenboims Blick habe sie immer gespürt, das sei herausfordernd gewesen, habe sie aber auch wachsen lassen.

Das erste Jahr in der Akademie »diene der Eingewöhnung«, im zweiten Jahr »steigt man dann richtig ein«. Sie ist dankbar für die Hilfe des gesamten Orchesters, denn als Akademistin fühlte man sich oft überfordert. Beispiel: die Bühnenmusik bei »Tosca«, wo muss ich hin? »Charlottenburger Seite«, also von Westen aus, oder zur »Berliner Seite«, vom Osten her? Wo genau steht die Bratsche beim Pilgerchor im »Tannhäuser«? Ist sie zu laut? Bemerkt Daniel Barenboim irgendwann, dies sei kein Bratschenkonzert? Immer stand ihr irgendeine Kollegin, ein Kollege zur Seite. Sie fühlte sich schließlich aufgehoben und geschützt.

Helene Wilke spielt in der gleichen Gruppe wie Boris Bardenhagen, auch er ist Bratscher, aber er entstammt der ersten Generation der Orchesterakademie. »Wo kommt der denn her?« fragten sich die Altgedienten verwundert. Sein Mentor, Thomas Selditz, heute Professor für Viola in Wien, hat jedes Stück mit ihm vorbereitet. Ohne die Zeit in der Akademie »wäre ich nie zu solch einem Opernfan geworden«. Bardenhagen ist, wie Wilke, gern »Tuttist« und kann wunderbar berichten, was so besonders ist in der Staatskapelle, wie Daniel Barenboim sie geformt hat. Alles muss bei Barenboim aus einem Guss sein: Der Fingersatz, die Bogentechniken sind definiert, die verschiedenen Arten von Tremolo, das spezielle Vibrato und das Spiccato, wenn die Bewegung aus der Saite heraus beginnt. Man sitzt immer, erzählen Wilke und Bardenhagen lachend, beim Chef auf der Stuhlkante. Die Akademiezeit habe sie bestens vorbereitet. Und das Geheimnis der Staatskapelle? Können sie es erklären?

Ja, antwortet Helene Wilke: »Das ganze Orchester ist der Mentor.«

 

Text von Maria Ossowski

 

 

 

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