200 Jahre »Freischütz«
Der 200. Jahrestag der legendären Weltpremiere von Carl Maria von Webers »Der Freischütz« ist Anlass für eine konzertante Aufführung am 20. und 26. Juni 2021, in der Webers Musik mit all ihren Qualitäten zur Geltung kommen soll. Detlef Giese, leitender Dramaturg der Staatsoper Unter den Linden, hat die Geschichte des Ausnahmewerks zu diesem Anlass beleuchtet.
Berlin, 18. Juni 1821:
Ein Jahrhundertwerk kommt in die Welt
Es war ein Triumph, wie sich ihn Komponisten wohl erhoffen, aber nicht erwarten können. Die Menschen, die am Abend des 18. Juni 1821 im neuen, von Karl Friedrich Schinkel entworfenen und erbauten Königlichen Schauspielhaus am Gendarmenmarkt die Premiere der romantischen Oper »Der Freischütz« bejubelten, mochten wohl geahnt haben, Zeugen eines außergewöhnlichen Ereignisses geworden zu sein. Zwar gab es im Publikum durchaus auch Anhänger des Italieners Gaspare Spontini – der nur wenige hundert Meter entfernt, in der Hofoper Unter den Linden, Mitte Mai sein Monumentalwerk »Olimpia« zur erfolgreichen Uraufführung gebracht hatte und als »General-Music-Director« ein besonders prestigereiches Amt ausübte –, die Sympathien aber lagen eindeutig bei Carl Maria von Weber, dem Dresdner Hofkapellmeister. Mehrfach schon hatte der Berliner Generalintendant Karl Graf von Brühl versucht, Weber nach Berlin zu verpflichten, was jedoch an andersgearteten Plänen seines Dienstherrn, König Friedrich Wilhelm III. von Preußen, scheiterte. Für das Schinkelsche Schauspielhaus, das anstelle des 1817 durch Brand zerstörten Königlichen Nationaltheaters zu einer zentralen Stätte des deutschen Sprech- und Musiktheaters werden sollte, trug Brühl Weber, den er bereits seit 1812 kannte und schätzte, die Uraufführung einer neuen Oper an. Ursprünglich sollte sie »Die Jägersbraut« heißen, auf ein Libretto von Friedrich Kind, das ihre wesentlichen Figuren und Motive einer Geschichte aus dem 1810 erschienenen »Gespensterbuch« von August Apel und Friedrich Laun verdankt. Weber selbst hatte Anteil an der Ausgestaltung des Sujets genommen, das nach seinen eigenen Worten »trefflich, schauerlich und interessant« war.
In der Tat animierte es ihn zu einer Musik, die mit Recht als Sinnbild einer neuen romantischen Ästhetik empfunden worden ist. Mit großer Sensibilität bezüglich der Ausdrucksnuancen, die durch den Einsatz und die Wirkung einer breiten Palette von Farben und Timbres, die das Orchester mit allen seinen Instrumenten bot, ist Weber vorgegangen, um Klänge zu entwickeln, die mit ihren charakteristischen Wechseln zwischen Hell und Dunkel, Licht und Schatten, Dur und Moll gleichsam zwei Welten erschließen – die Welt des Wirklichen versus jener des Dämonischen, von Zuversicht und Vertrauen wie von Furcht und Schrecken erfüllt. Dass es neben dem sinnlich erfahrbaren Realen noch etwas »Anderes« gibt, das seltsam geheimnisvoll bleibt und allenfalls schemenhaft zu erkennen ist, gehört zu den Grundsätzen romantischen Denkens. Und dass es der Kunst, insbesondere der Musik, obliegt, dieses so merkwürdige »Andere« zu offenbaren, ist ebenso ausgemacht.
Weber selbst hat davon gesprochen, dass sich in seinem »Freischütz« der Streit zwischen den Kräften des Guten und des Bösen, des Himmlischen und des Teuflischen, spiegelt. Die Musik mit ihren speziellen Färbungen verdeutlicht auf eindringliche Weise: Die beiden »Hauptelemente«, das »Wald- und Jägerleben« auf der einen und das »Walten dämonischer Mächte« treten plastisch zutage, Gestalt gewinnend in einer pointiert ausgeformten Musik, in der einfache wie komplexe harmonische Verläufe ebenso eine Rolle spielen wie das Einbringen klangfarblicher Wirkungen. Für jede Szenerie schuf Weber eine eigene Atmosphäre und einen eigenen Ausdruckshorizont, abwechslungsreich und vielgestaltig, zudem voller Kontraste.
Im Sommer 1817 hatte Weber mit der Komposition begonnen, im Mai 1820, ein gutes Jahr vor der Uraufführung, schloss er die Partitur mit der Ouvertüre ab, als eine Art »Oper en miniature«, in der die Hauptgedanken innerhalb von nur wenigen Minuten musikalisch vergegenwärtigt werden. Zur selben Zeit, auf Anregung von Intendant Brühl, erhielt das Werk auch seinen endgültigen Titel: Aus der »Jägersbraut« wurde der »Freischütz«. Mit den künstlerischen Kräften der Berliner Hofoper – mit der das Schinkelsche Schauspielhaus seit 1811 institutionell verbunden war – wurde die Oper, formal ein deutsches Singspiel mit gesprochenen Dialogen, nach rund vierwöchiger Probenzeit realisiert. Der Komponist selbst hatte das Orchester, die Königliche Hofkapelle, einstudiert und dirigierte an jenem denkwürdigen 18. Juni 1821, mit Caroline Seidler (Agathe), Johanna Eunike (Ännchen), Heinrich Stümer (Max) und Heinrich Blume (Kaspar) waren engagierte, stimmlich wie darstellerisch überzeugende Sängerinnen und Sänger für die Hauptpartien aufgeboten. Die Bühnenbilder und Kostüme von Karl Gropius sind stilbildend geworden und haben die allgemeine Vorstellungswelt des »Freischütz« beinahe ebenso geprägt wie die berühmte Schinkelsche Ausstattung von Mozarts »Zauberflöte«.
Berlin erlebte ein künstlerisch und gesellschaftliches Großereignis. Das Außergewöhnliche wurde auch von Weber artikuliert, als er nach der Uraufführung in sein Tagebuch schrieb: »Abends als erste Oper im neuen Schauspielhause: Der Freischütz. Wurde mit dem unglaublichsten Enthusiasmus aufgenommen. Ouvertüre und Volkslied [das Lied vom Jungfernkranz] da capo verlangt, überhaupt von 17 Musikstücken 14 lärmend applaudiert, alles ging aber auch vortrefflich und sang mit Liebe. Ich wurde herausgerufen und nahm Mad. Seidler und Mlle. Eunike mit heraus, da ich der anderen nicht habhaft werden konnte. Gedichte und Kränze flogen. – Soli Deo Gloria.«
Seither ist dieses Ausnahmewerk der europäischen Musikgeschichte, ein Musterbeispiel einer romantischen Oper, insgesamt zehn Mal von der Staatsoper neu inszeniert worden, letztmals 2015 im Ausweichquartier des Charlottenburger Schiller Theaters. Szenisch kann diese Produktion derzeit nicht verwirklicht werden – der 200. Jahrestag dieser legendären Weltpremiere ist aber Anlass für eine konzertante Aufführung, in der Webers Musik mit all ihren Qualitäten zur Geltung kommen soll. Anstelle der gesprochenen Dialoge treten erzählende Passagen, um die Handlung möglichst prägnant zu vermitteln – immer mit größtem Respekt vor dem Werk und seiner Geschichte. Zweimal hundert Jahre ist der »Freischütz« nunmehr alt. Solange es Künstlerinnen und Künstler gibt, die den Text und die Musik von innen heraus zu beleben wissen und sich von diesem Werk in seiner immensen Ideen- und Klangfülle ansprechen lassen, solange wird er auch seinen festen Platz auf den Opernbühnen und im Bewusstsein des Publikums behalten.