»Das Zusammenwirken von Bild und Klang bildet den Kern dieser Arbeit« – Im Gespräch mit David Marton, Guillaume Métayer und Chris Kondek

Melancholie des Widerstands

Als Auftragswerk der Staatsoper Unter den Linden feiert MELANCHOLIE DES WIDERSTANDS am 30. Juni 2024 seine Uraufführung. David Marton inszeniert das Werk als filmische Oper mit Live-Aufnahmen und Projektionen und arbeitet dafür eng mit dem Videokünstler Chris Kondek zusammen. Das Libretto erarbeitete der Lyriker Guillaume Métayer gemeinsam mit dem Regisseur David Marton nach dem gleichnamigen, aus den späten 1980er Jahren stammenden Roman des ungarischen Schriftstellers László Krasznahorkai. Im Gespräch mit der Dramaturgin Franziska Baur erzählen David Marton, Chris Kondek und Guillaume Métayer von den Hintergründen und Entstehungsprozessen der Produktion.

Franziska Baur Wir stecken inmitten der Proben, aber vielleicht beginnen wir ganz am Anfang, mit der Entstehungsgeschichte dieser Uraufführung …

David Marton Zunächst war da ein Gespräch mit Matthias Schulz über eine Operninszenierung, in der ich gerne mit filmischen Mitteln experimentieren wollte – im Rahmen einer Uraufführung von Marc-André Dalbavie. Das Gespräch mit Marc-André war sehr schön und wir machten uns gemeinsam auf die Suche nach einem Stoff. Wir waren uns einig, dass wir nach einer Geschichte suchen, die Musik selbst zu tun hat. In meinen früheren Musiktheater-Projekten war das immer ein wichtiger Aspekt, dass Musik als Thema im Stoff selbst verankert ist. Und dann ist mir der Roman von Krasznahorkai eingefallen, aus dem ich für eine Theaterarbeit schon einmal Texte verwendet habe. Marc-André hat ihn gelesen und war sofort sehr angetan, es gab kein Zurück mehr. Die Begegnung mit dem Librettisten Guillaume Métayer war dann eine Fügung, da er nicht nur Übersetzer aus dem Ungarischen, sondern selbst Lyriker ist. Er konnte den Roman in einer poetischen Form neu verdichten.

FB Guillaume, David, ihr habt über ein Jahr lang an dem Libretto gearbeitet. Wie seid ihr vorgegangen, wie fand der »Aussiebungsprozess« dieser dichten Prosa statt?

Guillaume Métayer Die Arbeit hat in mehreren Etappen, in unterschiedlichen Städten und verschiedenen Konstellationen stattgefunden. Zunächst haben wir an der Struktur des Romans gearbeitet. Wir haben über Passagen gesprochen, die uns wichtig erschienen. Sehr früh fiel die Entscheidung, dass das Libretto auf einer Idee von Polyphonie fußen und die Fuge als Form Eingang in die Architektur des Texts finden sollte. Als Lyriker habe ich mich vor langer Zeit mit der Form der Fuge und der Polysemie des Wortes beschäftigt, da »fugue« im Französischen auch »Ausreißen«, »Weglaufen« bedeutet. »Fugues« war der Titel meines ersten Gedichtbands – das hatte David besonderes interessiert. Uns war wichtig, dass sich das Polyphone auf mehreren Ebenen ereignet: eine Polyphonie der Figuren, der Bedeutungsebenen. Eine Polyphonie der politischen, ästhetischen, poetischen, musikalischen und stilistischen Ebenen, die diesem Buch innewohnen. Und dann lag uns die kinematographische Dimension des Romans sehr am Herzen. Wie in einem Film wird von einem Zustand zum nächsten mäandert, der erzählerische Blick zieht wie eine Kamera unmerklich von einer Figur zur nächsten.

DM Es ist verrückt, an diesem Punkt der Arbeit über die Anfangsphase zu sprechen, weil es uns auf etwas Träumerisches zurückwirft. Zu Beginn hat man Phantasien, ohne die Konsequenzen einer Realisierbarkeit gleich mitbedenken zu müssen. Das ist ein besonderer Moment, denn die Realität holt einen so schnell ein. Wie geht man beispielsweise mit einem Marktplatz auf einer Opernbühne um? Die Entstehungsphase des Librettos war unendlich frei.

FB Das Filmische war also auf struktureller und ästhetischer Ebene Ausgangspunkt für die Genese dieses Projekts …

Chris Kondek Ja. Wichtig ist es zu betonen, dass wir keine »verfilmte Oper« machen, wo die Kamera die Perspektive von Operngläsern einnimmt und das Publikum in Form von Nahaufnahmen näher ans Geschehen rückt. Wir machen auch keinen Opern-Film. Hier entsteht eine »filmische Oper«, das heißt, wir nutzen das, was Film kann: die Stimmung einer Welt entstehen zu lassen.

Was mich zunächst am meisten an dem Projekt interessiert hat, war die Suche, unterschiedliche Bildebenen und filmische Dimensionen entstehen zu lassen. Da war immer die Frage, wie wir die Stadt, die »auseinanderfällt«, filmisch darstellen können. Wie übersetzt man die Gefühle der Figuren dieser Welt? Filmische Einstellungen können den Blick auf Details des Auseinanderfallens richten. Und sie können ein anderes Gefühl der apokalyptischen Atmosphäre erzeugen. Film kann in Form von Nahaufnahmen die Aufmerksamkeit auf das Innenleben von Figuren richten, Film kann die komplexe Sinnlichkeit einer Welt darstellen, in der die Figuren leben, indem man Straßenecken zeigt, den Blick auf ein Bücherregal gleiten lässt und die Objekte dadurch selbst zu Figuren werden.

FB Welche anderen Perspektiven öffnet der filmische Blick?

DM Das Grundverhältnis zwischen Musik und Zuhörerschaft ist ein sehr intimes, und Oper arbeitet meist mit einer bombastischen Größendimension. Was passiert aber, wenn wir beispielsweise Verdis Requiem hören und dabei einen einzigen Menschen beobachten? Wenn ich Musik höre, denke ich oft an diesen intimen, fragilen, zärtlichen, näherkommenden Ausdruck eines einzelnen Menschen. Mich interessiert es, ihn zu beobachten. Und dann stellt sich die Frage, wie das Beobachten das Zuhören an sich beeinflusst und inwiefern Musik die Beobachtung beeinflusst. Im Grunde genommen geht es doch um die Frage, wie Musik Bilder auflädt, und umgekehrt.

FB Inwiefern verändert sich Deine Arbeit als Regisseur in dieser Form der »filmischen Oper«?

DM Die Arbeit ist eine ganz andere. Bei jeder Probe spüre ich, was uns das Filmische beispielsweise an menschlicher Wärme, jenseits der technischen Dimension des Apparats, geben kann. Nämlich den Blick auf die feinen Nuancen des Ausdrucks, auf sprechende Details eines Lebensraumes, eine emotionale Nähe zu den Darstellern selber. Im Kontrast zwischen diesen Details und der raumfüllenden Größe des musikalischen Ausdrucks liegt eine besondere Kraft. Sie laden sich gegenseitig auf. Aber auch die Möglichkeit des Schnittes unterscheidet sich von der Arbeit einer reinen Bühneninszenierung, weil man so visuell viel musikalischer und motivischer arbeiten kann. Filmische Bilder können durch den Schnitt mit dem Rhythmus der Musik gehen, und wir können – wie die Musik auch – von einer Atmosphäre in die nächste wechseln, springen, ohne alles auf der Bühne umstellen zu müssen. Das Zusammenwirken von Bild und Klang bildet den Kern dieser Arbeit: die Verkettung der Ebenen und die daraus entstehende Synthese.

FB Und das Besondere hier ist ja, dass beides – Klang und Bild – gleichzeitig entstehen …

DM Genau. Für mich sind die Schnitte – von Hand zu Hand, von Fenster zu Fenster – eine musikalische Form der Verbindung, so, als würde man als Lyriker nach einem Reim suchen. In der Musik ist das ja auch so: Ein Klang erzeugt den nächsten. Die motivische Arbeit von Dichtung und von Musik kann im Film bildlich gemacht werden.

FB Welche Bildebenen sind es, die polyphon aufeinandertreffen und sich überlappen?

CK Es gibt auf der Vorderbühne einen abstrakten, analogen Raum mit dem Flügel von Monsieur Esther. Dahinter ist eine Leinwand, die das zeigt, was im Filmstudio auf der Drehbühne live gefilmt wird. Und dann gibt es diese Projektionsfläche auf der Hinterbühne … Um die Stadt darstellen zu können, arbeiten wir mit Modellen von Häusern, Straßen, dem Lastwagen, der den Wal transportiert – die Stadt existiert in einer Miniatur-Version, die ungefähr 20 Zentimeter hoch ist. Diese Modelle können wir abfilmen und auf die zweite Leinwand hinten projizieren. Wenn man dann jemanden vor diesen Bildern entlang spazieren lässt, entsteht der Eindruck, er würde durch die Stadt gehen.

FB Wie nähert man sich einer Inszenierung an, ohne die Musik des Werkes zu kennen?

CK Im Vorfeld haben wir oft über Szenen gesprochen und sie uns in einer Länge vorgestellt, die sich später nicht eingelöst hat. Während der Proben, denkt man sich dann: Gut, lass es uns anders denken und etwas anderes probieren. Das war oft sehr amüsant. Und jetzt sehen wir die Szenen in ihrer Form und Länge auf der Bühne und denken uns, umso besser.

DM Es ist sehr besonders, weil Marc-André während der gesamten Probenzeit präsent ist. Ich finde es unglaublich schön, dass ein Komponist so interessiert an dem Prozess der Verkettung von Bild und Klang ist. Dass er kein Werk abliefert und sagt, das ist so und nicht anders. Sein Interesse gilt dieser Verbindung von Bild und Klang, vielleicht ist das auch der Grund, warum er Opern schreibt. Während der Proben, haben wir zwar einige Änderungen vorgenommen, doch seine Musik bleibt dabei immer unversehrt. So, als hätte er eine Art zu komponieren, der kleine Veränderungen nichts anhaben können, wie eine barocke Art, Flächen zu schaffen. Und dennoch ist seine Musik und das instrumentierte Gewebe darin unendlich komplex.

FB Du sprichst von einer »Unversehrtheit« … Es gibt in Krasznahorkais Werken oft engelhafte Wesen, ungreifbare Boten, denen man verzeiht. Und es gibt die Denker-Figuren, die zurückgezogen und abgeschottet von der Welt ihren Theorien nachgehen. Das ist auch hier der Fall. Was ist das Besondere an der Beziehung zwischen Valouchka und Monsieur Esther?

GM Während der Arbeit am Libretto war die Struktur der Fuge omnipräsent. Die Fuge als Skelett hat uns ermöglicht, die Figuren zu paaren, sie parallel zu denken und zu gestalten. Wir sind ihnen nachgegangen und haben versucht zu verstehen, wie sie funktionieren – parallel zueinander oder sich begegnend. Zwischen Monsieur Esther und Valouchka besteht eine enge Verbindung, eine Freundschaft. Die beiden verbindet etwas, was mit ihrem Verhältnis zur Welt zu tun hat, mit einer Kraft jenseits der Übereinstimmung, mit einem Bezug zur Realität. Der eine – Monsieur Esther – lebt zurückgezogen in einer intellektuellen und musikalischen Ordnung. Der andere lebt im Draußen, in der Stadt, in den Sternen. Die beiden stehen für zwei Visionen, die vollkommen naiv und zugleich überaus konstruiert und präzise sind. Das Polyphone daran hat uns interessiert.

FB Der Versuch, Ordnung in die Welt zu bringen, ist allen vier Hauptfiguren gemein. Monsieur Esther sucht diese im Stimmen des Klaviers, Madame Esther möchte durch politische Einflussnahme Ordnung in die Stadt bringen, Madame Pflaum sucht die innere Sicherheit im Schutz des eigenen Heims und Valouchka glaubt an die Harmonie des Kosmos. Das Stimmen der Töne wird zum Sinnbild, die Spannung zwischen Ordnung und Chaos zu bewältigen. Was hat der Stoff mit dem Heute zu tun?

DM Im Roman gibt es eine Figur, die oft in Vergessenheit gerät: Madame Pflaum, die Mutter von Valouchka. Ich finde diese Figur zentral, weil sie für den allgemeinen Geisteszustand der Stadt steht. Aus ihrer Perspektive ist die Welt aus den Fugen geraten – wenn wir bei Fugen bleiben möchten. Sie fragt sich, wie es sein kann, dass ein Mensch, der sein Leben lang ein ordentliches Leben geführt hat, plötzlich solchen Gefahren ausgesetzt ist? Da ist eine Empörung über den Zustand der Welt. Madame Pflaum lebt mit genau diesem Lebensgefühl, hat inmitten eines überfüllten Zugs gleich apokalyptische Visionen, und ausgerechnet sie wird am Ende das Opfer dieser Geschichte. Ich glaube, das erzählt sehr viel über das Auseinanderfallen, das Auseinanderdriften gesellschaftlicher Prozesse, und inwiefern diese vielmehr in einer Art kollektivem Geisteszustand und weniger in konkreten Zuständen wurzeln. Vielleicht ist Madame Pflaum die Figur, die am meisten mit unserer Zeit zu tun hat.

FB Weshalb habt ihr die Erzählung in eine nordfranzösische bzw. belgische Realität verlagert?

DM Die Verlagerung hat die Sprache der Komposition vorgegeben. Die Muttersprache des Werks ist die Französische. Weil wir filmisch arbeiten, war uns schnell klar, dass wir ein anderes Verhältnis zu Sprache suchen, als bei einer reinen Bühnenaufführung. Traditionell haben die Muttersprachen der Menschen, die auf der Bühne stehen, oft wenig mit der Sprache des Werkes und der Sprache des Landes zu tun, wo das Werk aufgeführt wird. Das sagt viel darüber aus, welche Rolle Sprache im klassischen Sinne in der Oper einnimmt – oft ist sie eine Barriere. Für unsere Arbeit war es zentral, an Feinheiten zu arbeiten. Da ist es unmöglich, sprachliche Barrieren heimlich zu übertünchen und zu behaupten, man spräche zum Beispiel in Ungarn Französisch. Eigentlich war es ganz einfach: Marc-Andrés Vokallinien brauchten die französische Sprache und für mich musste die Inszenierung an einem Ort stattfinden, wo Französisch gesprochen wird.

FB Die vielleicht rätselhaftete Figur dieser Oper ist der Herzog. Was macht diese Figur so unendlich rätselhaft?

CK Das Schwierige an dieser Figur ist ihr ungreifbarer Charakter. Zunächst haben wir überlegt, ob wir ihn so darstellen, wie er im Roman beschrieben wird – winzig klein, mit drei Augen und hoher Stimme. Aber das hätte ihn zu konkret werden lassen. Wir wollten seine Rätselhaftigkeit bewahren. So ist er zu einer Energie in Form einer Lichtquelle geworden, zu einer Art Strahl.

DM Im Roman wird der Herzog als großes Mysterium beschrieben. Gerüchte kursieren über sein besonderes Aussehen. Es geht hier um eine Figur, die nicht den Normen entspricht. Und das schafft Schaulust und Angst zugleich. In den vergangenen Jahrhunderten gab es diese »menschlichen Attraktionen« der umherreisenden Schausteller-Truppen: zu kleine, zu große, zu behaarte Menschen. Die Truppe hier zeigt einen riesigen Wal und einen winzigen Menschen. Für mich ist dieser Größenunterschied wichtig. Ich glaube, dass er angsteinflößend ist und die Grundlage für ein Gefühl bildet, dass etwas Geheimnisvolles und Mystisches vor sich geht. Die Tatsache, dass ihn niemand zu sehen bekommt, schafft das Mysterium.

GM Ja, wir hören ihn, doch wir sehen ihn nicht. Er wird einerseits als eine Art »Freak« beschrieben und ist gleichzeitig ein Phantasiewesen. Er existiert an der Schwelle von Wirklichkeit und Phantasie. Manchmal wird im Roman nicht klar, ob sich die Apokalypse wirklich ereignet oder ob sie in Form einer sprachlichen Ungeheuerlichkeit existiert. Der Herzog steht für dieses Zögern und diese Spannung. Wird es einen Aufstand geben oder findet er in den Köpfen der Menschen statt? Subjektivität spielt in diesem Spannungsverhältnis eine wichtige Rolle. Wir haben es mit einer Vielstimmigkeit von Subjektivitäten zu tun, wo wir irgendwann nicht mehr wissen, ob die Apokalypse ein kollektives Delirium ist. Und dann ist da dieser Fluchtpunkt, von wo der Herzog in großer Entfernung und übersetzter Form zu hören ist.

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