»DER ROSENKAVALIER« UND DIE MODERNE

Richard Strauss suchte für seine Oper DER ROSENKAVALIER nach einem leichteren, heiteren Stoff im Stil von Mozarts Opernkomödien – ein Ansinnen, auf das sich auch Hugo von Hofmannsthal gern einließ. Er schuf mit seinem Libretto ein künstliches Rokoko-Wien mit ebenso überzeugenden wie erfundenen Bräuchen und Dialekten, das Strauss auf musikalischer Seite noch mit anachronistischen Walzern veredelte. Im diesem Fantasie-Wien voller Lebenslust, Schwänke und althergebrachter Standesgrenzen, aber auch voll Depression und Morbidität spiegelt sich nicht nur das 18. Jahrhundert, sondern erst recht die dem Ende zusteuernde Belle Époque. Angesichts der anstehenden Premiere am 9. Februar 2020 beleuchtet Dramaturg Benjamin Wäntig die im ROSENKAVALIER liegende Modernität.

Der ungeteilte Jubel bei der Dresdner Uraufführung des ROSENKAVALIERS 1911 markierte für Richard Strauss einen vorzeitigen Gipfelpunkt des Erfolgs wie gleichzeitig auch einen Neuanfang. Den Traditionalisten im Publikum kam es wohl so vor, dass der durch seine vorherigen modernistischen Skandalopern »Salome« und »Elektra« als Bürgerschreck verschriene Komponist nun endlich zu einem gefälligeren Stil gefunden hatte. Die Progressiveren dürften sich im Gegenteil über Strauss’ Abkehr vom früheren Dissonanzreichtum und den harmonischen Kühnheiten gewundert haben. Beide Parteien haben wahrscheinlich – unter anderen ästhetischen Vorzeichen – den ROSENKAVALIER als Bruch in Strauss’ Schaffen empfunden. Freilich gab es trotz des überwältigenden Erfolgs auch völlig Unbeirrbare: zum Beispiel der Kaiser, wie der Komponist selbst schilderte: »DER ROSENKAVALIER ist die einzige Oper von mir, die sich Kaiser Wilhelm auf Zureden des Kronprinzen einmal anhörte, aber mit den Worten verließ: ›Det is keene Musik für mich!‹« Nach den Skandälchen um die in Berlin nur widerwillig angesetzte »Salome« (deren brutales Ende man durch das Aufgehen des Sterns von Bethlehem meinte mildern zu müssen) und »Elektra« fand also nicht einmal der zahmere ROSENKAVALIER, dessen textliche Obszönitäten der Generalintendant höchstpersönlich auszubügeln versucht hatte, das Plaisir des Kaisers – immerhin der oberste Dienstherr von Strauss, dem damaligen Generalmusikdirektor der Hofoper Unter den Linden. Nur wenige Jahre und eine Revolution später galt dem entgegengesetzten politischen Lager der ROSENKAVALIER, quasi eine Beschwörung der heilen aristokratischen Welt der Donaumonarchie, exemplarisch als das reaktionäre Produkt eines ohnehin reaktionären wie schuldbehafteten Genres, wie der Anfang des 1919 entstandenen und »dem Andenken an Karl Liebknecht« gewidmeten Gedichts »Die Mörder sitzen in der Oper« des expressionistischen Schriftstellers Walter Hasenclever demonstriert: »Der Zug entgleist. Zwanzig Kinder krepieren. / Die Fliegerbomben töten Mensch und Tier. / Darüber ist kein Wort zu verlieren. / Die Mörder sitzen im Rosenkavalier.«

Vom Modernisten zur musikalischen Verkörperung der alten Gesellschaftsordnung, und dies in nur wenigen Jahren: Die massiven gesellschaftlichen Umbrüche nach Ende des Ersten Weltkriegs (inklusive dem Untergang des Systems, in dem der ROSENKAVALIER spielt) überkreuzen sich mit Strauss’ scheinbar rückwärts gerichteter kompositorischer Neuorientierung. Rückblickend gab Strauss in seinen späten »Erinnerungen und Betrachtungen« dafür folgende Erklärung: »Ich bin in ihnen [in ›Salome‹ und ›Elektra‹] bis an die äußersten Grenzen der Harmonik, psychischer Polyphonie und der Aufnahmefähigkeit heutiger Ohren gegangen.« So erscheinen seine ersten beiden Erfolgsopern eher als einmalige Experimente denn als dauerhafte musikalische Revolutionsbestrebungen. Trotzdem ist etwas überraschend, wie bruchlos der Übergang zwischen »Elektra« und dem ROSENKAVALIER Thema für Strauss als auch für Hofmannsthal vonstatten ging, die den Plan, als erste »richtige« gemeinsame Arbeit ein Lustspiel zu schaffen, schon während Strauss’ Arbeiten an »Elektra« gefasst hatten.

Allerdings war es kein konventionelles Lustspiel für die Opernbühne, das die beiden im Sinn hatten, dafür garantierte schon allein der feinsinnige Dichter. Bereits Arthur Schnitzler bemerkte nach einer privaten Lesung des Librettos im November 1910 »in der Figur der Marschallin etwas vom Dichter Hofmannsthal; im Detail etwas von dem gebildeten ja gelehrten Culturmenschen.« Neben der ausgefeilten Sprache zeugen auch Hofmannsthals zahlreiche intertextuelle und intermediale Bezüge von der für ein Opernlibretto unerhörten literarischen Qualität des ROSENKAVALIER-Textes. Ein Beispiel dafür ist das vierte Bild aus William Hogarths Gemäldeserie »Marriage A-la-Mode« (1743), das Hofmannsthals zur Szene des Lever im ersten Akt inspirierte. Das Bild zeigt neben der üblichen Geschäftigkeit bei der Morgentoilette ein weiteres Gemälde in der Mitte im Hintergrund an der Wand: Es ist Antonio da Correggios »Jupiter und Io« (1532), das Hofmannsthal aus dem Kunsthistorischen Museum in Wien kannte. So taucht dieses Gemälde in einer letzten Endes gestrichenen Regieanweisung auf: Eine Kopie davon soll im Schlafzimmer der Marschallin an der Wand hängen. Das Motiv des Gemäldes, nämlich Jupiter, der in Gestalt einer Wolke die Priesterin Io verführt, erscheint jedoch später im ersten Akt in anderer Form, nämlich in den erotischen Phantasien des Ochs.

Von solchen Querbezügen wimmelt es geradezu im Text, woran sich Hofmannsthals große Sorgfalt bei der Erfindung »seines« Wiens zur Zeit Maria Theresias zeigt. So sind alle erwähnten Adelsnamen – seien sie für die Handlung noch so unwichtig –, ja sogar Octavians Kosename Quinquin von real existierenden Namen abgeleitet, die Hofmannsthal, selbst aus einer neugeadelten Familie stammend, österreichischen Geschichtswerken entnahm. Das Netz all dieser Bezüge macht aus dem ROSENKAVALIER weit mehr als nur eine umfassend recherchierte, lokale Geschichte im Gewand des Wiener Rokoko: Die Verweise auf verschiedene Zeiten und Länder bedingen eine große assoziative Offenheit über die engere Verortung hinaus. Während der »Zeitmonolog« der Marschallin im ersten Akt ein überzeitliches Memento mori darstellt (wofür Hofmannsthal eine alttestamentarische Quelle, nämlich Verse aus dem Buch Kohelet verarbeitete), können die Worte der drei adlige Waisen aus der Lever-Szene beinahe als Anspielung auf die Propagandarhetorik der Vorkriegsjahre verstanden werden: »Der Vater ist jung auf dem Felde der Ehre gefallen, ihm dieses nachzutun, ist unser Herzensziel.«

Eine entsprechende Offenheit gelang Strauss auch auf der musikalischen Ebene, man könnte fast davon sprechen, sie sei ihm von Hofmannsthal auferlegt worden. So steckt die Partitur wie schon das Textbuch voller Stilzitate und -anspielungen wie etwa die Arie des italienischen Sängers, der in der Lever-Szene auftritt. Ihr Text ist Molières »Le Bourgeois gentilhomme« (1670, mit Musik von Jean-Baptiste Lully) entnommen, ein Stück, auf das Hofmannsthal für die Erstfassung der »Ariadne auf Naxos« noch einmal zurückkommen sollte. Strauss’ Musik dazu klingt weniger nach französischem Barock als nach einem italienischen Opern-Schmachtfetzen, eine – allerdings liebevoll ausgestaltete – Persiflage auf die von Strauss eher argwöhnisch betrachteten italienischen Tenöre mit endlos gehaltenen Spitzentönen. Dass die überschwängliche Liebesarie von Ochs’ ebenso leidenschaftlicher Diskussion mit dem Notar über finanzielle Forderungen im Ehevertrag überlagert und schließlich abgewürgt wird, birgt so schließlich doppelt komisches Potenzial.

Ohrenfälligstes Beispiel für Stilzitate sind die Walzer, die als musikalische Verweise auf Wien die gesamte ROSENKAVALIER-Partitur durchziehen. Der wichtigste Walzer, Ochs’ Lied am Ende des zweiten Akts (»Ohne mich«) mit seinen süßlich schmachtenden Auftakten, fußt auf dem »Dynamiden«-Walzer von Josef Strauß (dem Bruder des »Walzerkönigs«), dessen Untertitel »Geheime Anziehungskräfte« ebenso das Credo des Ochs sein könnte. Die wohl kalkulierte anachronistische Verwendung des Walzers – er entstand Ende des 18. Jahrhunderts (im Übrigen als ursprünglich bürgerlicher Gesellschaftstanz) und erreichte seine Blüte erst im folgenden Jahrhundert – trägt zur Doppelbödigkeit der Musik bei, ihrer ironischen Gebrochenheit, ihrer Uneigentlichkeit.

Zu den wenigen ironiefreien, ganz pur empfundenen Momenten, in denen die Figuren ihre Masken der gesellschaftlichen Interaktion fallen zu lassen scheinen, gehört das berühmte Des-Dur-Terzett am Ende des dritten Aktes. Um dessen Wirkung fürchtete Hofmannsthal, als er die Musik noch nicht kannte, wie er in einem Brief an Strauss schreibt: »Ich las gestern die Spieloper in einem Zuge Felix Salten und noch vier bis sechs Freunden vor. Das ganze wirkte sehr, sowohl das Poetische wie das Heitere. Ein merkliches Abflauen der Stimmung zeigte sich im III. Akt nach Abgang des Barons. Hier wurde eine fühlbare ermüdende Länge empfunden. […] Eine Ermüdung hier wäre tödlich für den Gesamterfolg.« Strauss’ Antwort auf diese Befürchtung lautet: »Ihren Brief habe ich natürlich nicht leicht genommen, kann Ihnen aber zur Beruhigung mitteilen, daß ich 1. einmal am Schluß von selbst manches gekürzt habe, daß aber 2. weder Sie noch Herr Salten heute schon beurteilen können, wie musikalisch gerade der Schluß wirken wird. Daß es beim Vorlesen abflaut, ist klar. Daß der Musiker dagegen an dem Schluß, wenn ihm überhaupt was einfällt, gerade seine besten und höchsten Wirkungen erzielen kann – dies zu beurteilen, können Sie beruhigt mir überlassen. […] Für den Schluß vom Abgesang des Barons ab garantiere ich.« Jeder, der das Final-Terzett, den üppig-schwelgerischen und doch bitter-süßen Höhepunkt der Partitur, gehört hat, wird zustimmen, dass Strauss sein Versprechen mehr als eingelöst hat. Und doch weicht das Terzett dem abschließenden Duett von Octavian und Sophie, das in reiner Terzenseligkeit zu schön klingt, um wahrhaftig zu sein (»Ist ein Traum, kann nicht wirklich sein«), und gerade deshalb die Frage offenlässt, ob das Paar auch nach Abflauen des Rauschzustands des ersten Verliebtseins zusammenhalten wird. Kleine Störungen in die Idylle mit ihrer harmonischen Einfachheit bringt die Reminiszenz der komplexen, quasi bitonalen Celesta-Akkordfolge aus der Szene der Rosenübergabe. Lyrische Stellen wie diese sowie die chaotisch-lärmenden Chortableaus aus dem zweiten und dritten Akt mit ihren plötzlich ausbrechenden Dissonanzen zeigen, wie der modernistische »Elektra«-Stil im Hintergrund durchaus noch vorhanden ist und dass die harmonische Welt des ROSENKAVALIER jederzeit aus den Fugen geraten kann.

Angesichts dieser Collage verschiedener Eigen- und Fremdstile resümiert der Musikwissenschaftler Walther Bernhart: »Die historischen Anspielungen markieren nicht etwa ein genuines historisches Interesse an vergangenen Epochen um ihrer selbst willen, sondern dienen lediglich als stilistische Fragmente und Versatzstücke zu völlig unhistorischem Zweck. Das unverbundenen Neben- und Ineinanderbestehen im ROSENKAVALIER der Frühzeit Maria Theresias, der Walzerzeit des 19. Jahrhunderts und der zeitgenössischen Vorkriegszeit um 1910 ist ein offensichtliches, bekanntes Beispiel dieses eigenständigen Verhältnisses zur Historie bei Hofmannsthal/Strauss. Stilzitate und -anspielungen als ironische Vereinnahmungen und Aneignungen im bunten Nebeneinander kennzeichnen diese Ästhetik, die sich die heute bestehende Verfügbarkeit des gesamten kulturellen Inventars in ganzer historischer Tiefe und geographischer Breite nutzbar macht.« Leon Botstein sah als Zweck des Strauss/Hofmannsthal’schen Verfahren »eine ironische Infragestellung der Begriffe von Geschichte und Fortschritt«. Die Modernität des ROSENKAVALIERS liegt also nicht in progressiven Tonfolgen, sondern ist unter der Oberfläche zu finden: in seiner Brüchigkeit, die das Werk fast zu einem Vorläufer der Postmoderne macht. Die vorgeschobene Leichtigkeit, die Walzerseligkeit, der noch einmal heraufbeschworene Glanz des Habsburger Reichs, dessen Untergang 1911 schon längst in der Luft lag – all das wird im ROSENKAVALIER permanent mit Fragezeichen aus der zeitgenössischen Perspektive versehen, wodurch das Stück vielmehr den Charakter eines Kommentars über die Gesellschaft Wiens nach der Jahrhundertwende als zu Zeiten Maria Theresias annimmt.

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