Ein historischer Moment – Die Berliner Erstaufführung von Beethovens 9. Sinfonie

2020 ist ein besonderes Jahr in der Historie der Staatskapelle Berlin. Legt man das Datum der Ersterwähnung des Klangkörpers als Kurbrandenburgische Hofkapelle zugrunde, so kann das heutige große Opern- und Sinfonieorchester nun seinen 450. Geburtstag feiern. Gegenwart und Zukunft sind der Maßstab, aber auch Rückblicke in die an bedeutenden Ereignissen reiche Vergangenheit kann das Bewusstsein schärfen, an der Geschichte eines traditionsreichen Ensembles teilzuhaben.
Die Berliner Erstaufführung von Beethovens 9. Sinfonie am 27. November 1826 von der damaligen Königlich Preußischen Hofkapelle unter der Leitung ihres Konzertmeisters Carl Moeser ist ein solch historischer Moment. In der Hofoper Unter den Linden war ein Vokalquartett mit Fräulein Carl und Frau Türrschmidt sowie den beiden Kammersängern Adam Bader und Eduard Devrient beteiligt, desgleichen der Königliche Opernchor. Im Publikum dieser Erstaufführung saß der zu jener Zeit wohl bekannteste Berliner Journalist und Musikrezensent Ludwig Rellstab (1799-1860). Zwei Tage später erschien dessen Kritik in der »Vossischen Zeitung«, einem renommierten bildungsbürgerlichen Blatt:

»[..] das Scherzo sey für den trefflichsten Satz des Werkes zu halten; im ersten Allegro eine Fülle großer Gedanken zu bewundern, dagegen aber zu beklagen, daß sich so manche unmotivierte Seltsamkeiten darunter mischen, die der Wirkung des Ganzen schaden; das Thema, oder besser der Eingang des Adagios, überaus schön, die Ausführung jedoch wohl etwas zu lang; und endlich, vom letzten Satz müsse man sagen, daß er an barocker Seltsamkeit alles überbietet, woran uns unser, an solchen Leistungen nicht arme Zeit, bisher zu gewöhnen gesucht hat. Es mischt sich aus dem Styl der ernsteren Kirchenmusik und der Opera buffa, und die Instrumentation trägt noch stets dazu bei, das Auffallende noch auffallender, das Unbegreifliche noch unbegreiflicher zu machen. Einige Stellen waren von einer ganz seltsamen, unwillkürlich komischen Wirkung; namentlich die, wo das Fagott in abgestoßenen Noten allein eintritt, schien zu bewirken, daß die Damen betroffen wurden, und die Gesichter der Herren sich zum Lachen verzogen.«

Sonderlich positiv klingt das kaum – dabei galt Rellstab als ein Bewunderer der Werke Beethovens, u. a. hatte er dessen 3. und 5. Sinfonie geradezu überschwänglich gelobt. Auch die Bezeichnung »Mondschein-Sonate« für die von ihm sehr geschätzte Klaviersonate op. 27/2 geht auf ihn zurück. Warum aber konnte er sich mit den Werken des älteren Beethoven offenkundig nicht anfreunden? Rellstab vertrat ein Musikverständnis, das die Konfrontation mit neuartigen Konzeptionen und außergewöhnlichen Effekten, wie sie in Beethovens 9. Sinfonie zutage treten, scheute. Während sich Beethovens frühere und mittlere Werke noch ganz seinen ästhetischen Idealen entsprach, sperrte sich die 9. Sinfonie gegenüber Kategorien der reinen Schönheit, der Grazie, des Ebenmaßes, der Ausgewogenheit und Majestät.
Über die Darbietung (bzw. Interpretation) des Werkes durch Carl Moeser und die Königliche Hofkapelle fällt in Rellstabs Rezension kein einziges Wort, allein die Komposition ist Gegenstand der Kritik. Dabei gehörte Beethovens Musik bereits seit einigen Jahren zum Repertoire des Orchesters, dessen »General-Musikdirector« ab 1820 der international prominente Dirigent und Komponist Gaspare Spontini war. Auch er setzte mehrfach Beethoven-Sinfonien auf die Programme seiner Konzerte, vor allem aber war es Moeser, der ab 1813 mit seinem Streichquartett, ab 1816 dann mit der Hofkapelle eine intensive wie nachhaltige Beethoven-Pflege initiierte.
Im Zusammenhang mit einer weiteren von Moeser geleiteten Aufführung der 9. Sinfonie am 19. Dezember 1829 erwähnt Rellstab, dass im Schlusssatz Schillers »Ode an die Freude« vertont wurde. Abermals einige Jahre später schreibt er in der »Vossischen Zeitung«, dass das Berliner Publikum in glühender Verehrung der 9. Sinfonie lauscht und die Berliner »gerade danach lechzen«, das Finale mit den Vokalsolisten, dem Chor und dem vollen Orchester zu hören. Beethovens hoch originelles, die Grenzen des Bekannten und allgemein Akzeptierten kühn überschreitendes Ausnahmewerk hatte sich offenbar durchgesetzt.

Text von Detlef Giese

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