Kammermusik aus der Mitte Europas

Wolfgang Amadeus Mozart - Divertimento

Detlef Giese über die kammermusikalischen Werke von Wolfgang Amadeus Mozart, Franz Schubert und Antonín Dvořák.

Die Mitte Europas war in der klassisch-romantischen Zeit eine gute Region für die Kammermusik. Von hier aus kamen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts große kompositorische Errungenschaften in die Welt, die wesentlichen Genres wie das Streichquartett und die Kammermusik mit Klavier wurden hier entwickelt. Wien war dabei das Zentrum, aber auch an anderen Orten wie Berlin, München, Dresden, Warschau oder Prag wurde Enormes geleistet. Was sich in verhältnismäßig kurzer Zeit tat, sollte nicht nur von lang andauernder Wirkung sein, es spielte sich auch auf einem geradezu atemberaubenden hohen künstlerischen Niveau ab.

Betrachtet man allein die Kammermusik, die Wolfgang Amadeus Mozart während seines Wiener Jahrzehnts von 1781 bis 1791 schrieb, so wird man ein solch euphorisch anmutendes Urteil gewiss bestätigt finden. Die sechs seinem Vorbild Joseph Haydn gewidmeten Streichquartette und -quintette sind hier ebenso zu nennen wie die fünf Klaviertrios, das Quintett für Bläser und Klavier sowie das ingeniöse Klarinettenquintett. In diese Reihe herausragender Kompositionen gehört auch das Divertimento Es-Dur KV 563, das im August und September 1788 Gestalt annahm, im direkten Anschluss an die drei späten Sinfonien in Es-Dur KV 543, g-Moll KV 550 und C-Dur KV 551, die sogenannte Jupiter-Sinfonie. Der 32-jährige Mozart zeigt sich hier auf der vollen Höhe seines Könnens und seiner kreativen Kraft.

Die Bezeichnung »Divertimento«, die auf einen eher leichtgewichtig-unterhaltsamen Charakter des Werkes verweisen könnte (und die in der Wiener Zeit nur dieses eine Mal überhaupt auftaucht), führt jedoch auf eine falsche Fährte: Bei KV 563 handelt es sich um ein groß dimensioniertes Stück Kammermusik in sechs Sätzen – bzw. »sei pezzi«, wie es Mozart in sein eigenhändig geführtes Werkverzeichnis eintrug –, das zu seinen künstlerisch anspruchsvollsten Kompositionen auf diesem Gebiet zählt. Besetzungstechnisch hatte sich Mozart für ein aus Violine, Viola und Violoncello bestehendes Streichtrio entschieden, eine seinerzeit bislang noch wenig erprobte, geschweige denn etablierte Instrumentenkombination, die nicht unerhebliche satztechnische Probleme aufwarf, da der Komponist mit lediglich drei Stimmen ein möglichst klangvolles und harmonisch logisch erscheinendes Gewebe herzustellen hatte. Wie im Falle des Streichquartetts, das nicht umsonst als zentrale Gattung des klassischen Stils begriffen wurde, da mit vier selbstständig geführten Klanggebern kompositorisch einfacher umzugehen war, hatte auch beim Streichtrio Joseph Haydn die Maßstäbe gesetzt. An ihm konnte sich Mozart orientieren, wenngleich er auch von vornherein darauf bedacht war, seine eigenen gestalterischen Akzente einzubringen. Die Erfahrungen, die er in den Jahren zuvor im kammermusikalischen Komponieren gewonnen hatte – und die gegenüber denen der Oper oder der Sinfonik von merklich anderer Art sind –, schlugen sich ausnehmend positiv auf dieses neue Werk nieder.

Der 32-jährige Mozart zeigt sich hierauf der vollen Höhe seines Könnens und seiner kreativen Kraft.

Auffallend ist zunächst, dass alle drei Instrumente prinzipiell gleichberechtigt behandelt sind. Die Violine dominiert nicht etwa das Geschehen, sondern hat im Verbund mit den vollkommen ebenbürtig erscheinenden tieferen Streichern, deren Parts ohne Unterschied an vielen Passagen ins Konzertant-Virtuose hineingehen, ein musikalisches Gebilde von bemerkenswerter Ausgewogenheit und inneren Balance zu Klang werden zu lassen. Mozart, der bekanntlich die Viola besonders schätzte, scheint auch bei den nachweisbaren Aufführungen in Dresden und Wien 1789 bzw. 1790 als Bratschist beteiligt gewesen zu sein. Nicht unbedingt für das große, breite Publikum, wohl aber für einen Kreis von Kennern war diese Musik ursprünglich bestimmt – durchaus als Alternative zu den groß besetzten Orchesterwerken, die Mozart schon aus praktischen Gründen nicht zu jeder Gelegenheit darbieten konnte. Die sechssätzige Anlage, die in erstaunlicher Kontinuität zu einigen seiner Divertimenti aus der Salzburger Zeit, vor allem aus den späten 1770er Jahren, steht, zeigt eine paarige Struktur. Die Außensätze sind in schnellem Tempo, jedoch in unterschiedlicher Form gehalten: Während das Streichtrio mit einem ausgedehnten Sonaten-Allegro eröffnet wird, schließt es mit einem lebendigen Rondo mit außerordentlichen kantablen Qualitäten. Reich an verschiedenen Ausdrucksgestalten sind diese beiden Sätze, die zudem durch ihren hohen kompositionstechnischen Anspruch bestechen. Dazwischen sind je zwei langsame Sätze sowie zwei Menuette platziert, die jeweils für sich, aber auch im Zusammenhang, eine Vielzahl von expressiven Schattierungen enthalten.

So führt der zweite Satz, ein stimmungsvolles Adagio in der bei Mozart sehr seltenen Tonart As-Dur, zuweilen in Bereiche hinein, die das Romantische in der Musik schon mehr als ahnen lassen. Das an Nr. 4 der Satzfolge stehende Andante bietet hingegen eine Serie von Variationen auf ein volksliedhaft anmutendes Thema, in deren Verlauf auf immer wieder überraschende Art und Weise neue melodische Figuren entwickelt und harmonische Felder erschlossen werden. Die beiden Menuette, der dritte bzw. der fünfte Satz, sind naturgemäß ein wenig »einfacher« gestaltet, wenngleich die zugrunde liegenden Tanzcharaktere – die eingeschobenen Trios erweisen sich zum einen als ein Ländler, zum anderen als ein sogenannten »Deutscher Tanz« an – mehr als nur einmal verlassen wird, so dass diese Sätze als nachgerade »emanzipiert« erscheinen. Mozart hat mit seinem Divertimento KV 563, seinem ersten und einzigen Streichtrio, Wege für Kommendes bereitet – insbesondere für Ludwig van Beethoven, dessen Streichtrio-Kompositionen spürbar den Geist Mozarts atmen. Beethoven wiederum war einer der wesentlichen Bezugspunkte für den um eine Generation jüngeren Franz Schubert. Auch er hat der Kammermusik wichtige Impulse verliehen, auf dem Gebiet des Streichquartetts ebenso wie auf dem des Klaviertrios.

Autograph des Streichquartettsatzes c-Moll von Franz Schubert
Autograph des Streichquartettsatzes c-Moll von Franz Schubert

Oft genug entfalteten seine Kompositionen eine verspätete Wirkung, da sie zu Lebzeiten bei weitem nicht immer gedruckt und aufgeführt worden sind. So auch im Falle des Streichquartettsatzes c-Moll D 703, der erst 1870, mehr als vier Jahrzehnte nach Schuberts Tod, veröffentlicht wurde. Im Gegensatz zu seinen drei späten Streichquartetten in a-Moll D 804, in d-Moll D 810 (Der Tod und das Mädchen) und in G-Dur D 887, mit denen sich Schubert ab 1824 bewusst den »Weg zur großen Symphonie« bahnen wollte und die gemeinsam mit dem Streichquintett C-Dur D 956 aus dem letzten Lebensjahr kaum zu übertreffende Gipfelwerke der Kammermusik darstellen, ist der Streichquartettsatz D 703 offenbar nur ein Teil eines ursprünglich größer konzipierten, wahrscheinlich viersätzigen Stückes. Geschrieben gegen Ende des Jahres 1820, inmitten einer Zeit, in der sich Fragmente aus Schuberts Feder auffallend häufen (nur wenig später wird die Sinfonie h-Moll, die sogenannte Unvollendete entstehen), gehört dieser Satz zum Kühnsten und zugleich Rätselhaftesten seines gesamten OEuvres. Beinahe wirkt er wie eine freie Fantasie mit vorwärtsdrängender Motorik, aber auch mit Partien, in denen die angeschlagene Bewegung innehält und wiederholt auch lyrischen Tönen Raum lässt. Dramatisch akzentuierte Tremoli und einkomponierte Kontraste gehören ebenso zu den Grundelementen wie eine merkliche Unruhe und ein In-Sich-Kreisen, die den gesamten ca. zehnminütigen Satz durchziehen. Formal experimentiert Schubert mit dem traditionellen, von den Wiener Klassikern kultivierten Sonatenschema, verleiht dem Ganzen aber eine Ausdruckstiefe, die er nicht immer erreichte. Ein langsamer Satz, ein Andante in As-Dur, geriet nicht über 41 Takte hinaus, von einem kompletten Quartett war Schubert ohnehin weit entfernt. Der Quartettsatz blieb allein für sich bestehen, in sich geschlossen und vollendet, im Eigentlichen jedoch inkomplett. Das Fragmentarische, dem in der romantischen Ästhetik eine bedeutsame Rolle zukam, da sie das Prinzip der Offenheit gegenüber dem Angeschlossenen, Abgerundeten zu verteidigen suchte, hatte hier exemplarisch Gestalt gefunden.

Schubert Quartettsatz gehört zum Kühnsten und zugleich Rätselhaftesten seines gesamten OEuvres.

Als Schuberts so eigentümlicher Streichquartettsatz der Öffentlichkeit bekannt wurde, hatte ein junger böhmischer Komponist bereits seine ersten Meriten sammeln können. In den Folgejahren sollte sich Antonín Dvořák zu einem der originellsten und prominentesten Künstler seines Landes entwickeln, dem schließlich auch internationale Anerkennung in der Alten wie der Neuen Welt zuteil wurde. Mit seiner 1872 entstandenen patriotischen Kantate Die Erben des Weißen Berges für Chor und Orchester war ihm der Durchbruch geglückt, einige Jahre später, 1876, hatte er mit den Klängen aus Mähren, die keinen Geringeren als Johannes Brahms – der sich im Übrigen auch mit großem Engagement für die Publikation und Verbreitung von Schuberts Musik eingesetzt hat – stark beeindruckten, seinen Status als führender Vertreter einer »nationalen« Musik befestigt, die rhythmisch wie klanglich spektakulären Slawischen Tänze von 1878 unterstützten diese Tendenz.

Kammermusik gehörte – neben dem Schreiben von Sinfonien und Opern – zu Dvořáks bevorzugten Betätigungsfeldern. Mehr als 40 Werke verschiedener Genres hat er über einen Zeitraum von mehr als zwei Jahrzehnten komponiert, darunter mit 14 Streichquartetten einen gewichtigen Korpus künstlerisch hochwertiger Stücke. Mit Ausnahme seiner letzten Lebensjahre, die vornehmlich dem Schaffen für das Musiktheater gewidmet waren, hat Dvořák sich immer mit Kammermusik beschäftigt, zwei Mal auch mit dem Klavierquintett. Ein erstes Werk in A-Dur, sein op. 5, entstand 1872, das zweite, in derselben Tonart, 15 Jahre darauf. Im Sommer und Herbst 1887 in seinem malerischen Landhaus in Vysoká geschrieben, steht Dvořáks Klavierquintett op. 81 in unmittelbarer zeitlicher Nachbarschaft zu seiner populären Messe D-Dur sowie zu seiner großen Oper »Die Jakobiner«.

Autograph des Klavierquintetts Nr. 2 A-Dur op. 81 von Antonín Dvořák, Beginn des ersten Satzes
Autograph des Klavierquintetts Nr. 2 A-Dur op. 81 von Antonín Dvořák, Beginn des ersten Satzes

Das Werk gehört zweifellos zu den Höhepunkten nicht allein innerhalb von Dvořáks OEuvre, sondern auch der Kammermusik des späten 19. Jahrhundertsinsgesamt. Hohe handwerkliche Souveränität hat sich hier ebenso niedergeschlagen wie ein kreativer Umgang mit den Elementen des Musikalischen. Eine anspruchsvolle motivisch-thematische Arbeit, wie sie seit den Zeiten der Wiener Klassiker für Kammermusik hohen Ranges unabdingbarwar, findet sich in diesem Werk zur Genüge, desgleichen Gedanken von bemerkenswerter Tiefe und Eindringlichkeit und eine klare Architektur. Folkloristische Anklänge, die er in den zuvor komponierten Werken weitgehend vermieden hatte, nehmen wieder größeren Raum ein – was sicher auch ein Grund für den Uraufführungserfolg vom Januar 1888 war, als das Stück von einigen der besten tschechischen Musiker in Prag erstmals der interessierten Öffentlichkeit präsentiert wurde und sofort auf Resonanz stieß. Ungewöhnlich kontrastreich stellt sich der Eingangssatz dar, der in entspannter Stimmung und mit eingängigem Melos anhebt. Nicht eigentlich schnell ist er gehalten, obwohl einige sehr präsente Partien von energischem Vorwärtsdrang einkomponiert sind. Abschnitte in ruhigem und raschem Tempo wechseln sich auch im zweiten, »Dumka« genannten Satz ab, in dem Dvořák seine hinreichend bekannten Qualitäten als Melodiker in besonderer Weise ausspielt und einen überaus eindrucksvollen Dialog zwischen dem Klavier und den Streichern erstehen lässt. Auf ein brillantes, rhythmisch geschärftes, gegenüber den durchaus umfangreichen ersten beiden Sätzen recht knapp gehaltenes Scherzo folgt ein Finale von großer Bewegungsintensität und tänzerischem Schwung. Hier begegnet man einer Musik, die durchaus an den »slawischen« Dvořák der 1870er Jahre gemahnt, die bei aller Lebendigkeit und allem Überschwang aber doch stets geerdet bleibt.

Diesen Beitrag findet ihr auch im Programmbuch zum Barenboim-Zyklus III.

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