Puccini und der Japonismus – Hintergründe zu »Madama Butterfly«

»Madama Butterfly« zählt zu den zentralen Opern Giacomos Puccinis. Dabei ist dieser mitnichten der Erfinder der Geschichte, wie ein Blick in die Werkhistorie zeigt.

Durch die Ausdifferenzierung verschiedenster Kunstströmungen erfuhren in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht nur bildende Kunst und Literatur, sondern auch die Musik eine Tendenz zum immer stärkeren Wandel der Stilmittel und Sujets. Durch die Beschäftigung mit außereuropäischer Kultur und Kunst gewannen auch Einflüsse des afrikanischen und asiatischen Kulturlebens als Impulspunkte an Bedeutung. Europäische Künstler:innen setzten sich auf vielfältige Art und Weise mit Erfahrungswelten und Künsten »fremder Kulturen« auseinander: Durch die Verarbeitung persönlicher Erlebnisse im nicht-europäischen Ausland wie etwa Camille Saint-Saëns in seinem Klavierkonzert Nr. 5 oder durch Lektüre wie zum Beispiel Gustav Mahlers »Das Lied von der Erde«, das von chinesischer Lyrik inspiriert wurde. Auch der Versuch der Infragestellung des eigenen Verhältnisses zum »Exotischen« wurde eklatant – zumal das Ende des 19. Jahrhunderts auch als Zeitalter des europäischen Imperialismus gilt.

Auch Giacomo Puccini, einer der wohl wichtigsten italienischen Opernkomponisten des ausgehenden 19. Jahrhunderts, setzte sich in seiner 1904 uraufgeführten Oper »Madama Butterfly« mit dem Verhältnis zwischen den kapitalistischen westlichen Staaten – hier vertreten durch die Vereinigten Staaten – und einem exotisch-verklärten »Traditionsland«, Japan, auseinander. Die seit dem Ende der Edo-Zeit Mitte des 19. Jahrhunderts beinahe erzwungenen, aber immer intensiver gepflegten Beziehungen zwischen Japan und den westlichen Staaten, allen voran den USA, sorgte in der Kaiserzeit der Meji-Periode zu einem starken Wachsen der ökonomischen und gesellschaftlichen Triebkräfte auf den japanischen Inseln, die ihre erste Bewährungsprobe beim japanischen Sieg im Russisch-Japanischen-Krieg von 1905 hatte. Die mit Fortschritt und Aufschwung verbundenen imperialen Bestrebungen des japanischen Kaiserreichs ließen da ein erstes Kräftemessen mit einer anderen globalen Großmacht folgen. Dennoch standen traditionell-konservative, noch aus der Edo-Zeit stammende, Normen und Gesetze quasi diametral zu bürgerlichen Fortschrittsgedanken und dem Hochkapitalismus des Fin de Siècle.

Giacomo Puccini setzte sich in »Madama Butterfly« mit dem Verhältnis zwischen den kapitalistischen westlichen Staaten – hier vertreten durch die Vereinigten Staaten – und einem exotisch-verklärten »Traditionsland«, Japan, auseinander.

Die Geschichte von Puccinis »Madama Butterfly« greift genau dieses ambivalente Verhältnis auf, während allerdings das »Exotisch-Fremde« zur Projektionsfläche und damit zum nicht unproblematischen Reibungspunkt wird: Die in den japanischen Traditionen verankerte Geisha Ciò-Ciò-San, nach »japanischem Recht« bei einem Hauskauf auf 999 Jahre als zusätzliches Gut für 999 Jahre »gepachtet«, soll den Käufer, einen US-amerikanischen Marineoffizier namens F. B. Pinkerton, heiraten. Während dieser, ein Kind des auf Expansion und »Abenteuer« getrimmten amerikanischen Außenhandels, seine Chance für ein kurzweiliges Liebesglück während seines Aufenthalts in Japan sieht, ist für Ciò-Ciò-San, »Madame Butterfly«, die Sache klar: Nicht nur verliebt sie sich in »treuer Pflichterfüllung« in den Amerikaner, sie setzt sich auch schuldbewusst über die japanischen Normen und Gesetze hinweg – sie will seine bürgerliche Ehefrau nach amerikanischem Recht werden. Die Katastrophe ist vorprogrammiert: Während der Amerikaner Pinkerton von seinem vermeintlichen »Recht« Gebrauch macht, bevor er wieder gen USA in See sticht, lässt er Madame Butterfly mit dem gemeinsamen Kind in Nagasaki zurück. Zwischen Sehnsucht und Liebe wartet diese auf ihren »Ehemann«, bevor sie mit der Wahrheit – nämlich seiner amerikanischen Eheschließung mit Kate Pinkerton – konfrontiert wird. Vor den verbundenen Augen des gemeinsamen Kindes nimmt sich Ciò-Ciò-San das Leben.

Puccini war nicht der erste, der die »Tragödie einer Japanerin« verarbeitete.

In Kontakt mit der hochdramatischen Geschichte kam der Komponist erstmals am 21. Juni 1900, als er – im Rahmen der englischen Erstaufführung seiner »Tosca« – in London das Duke of York’s Theatre besuchte und dort David Belascos »Madame Butterfly« sah. Ohne der englischen Sprache mächtig zu sein, spürte er das dramatische Potenzial und die starken Emotionen des Stoffes. Eine zentrale Szene in Belascos Drama ist das Warten der Geisha auf den amerikanischen Marineoffizier: Mit beinahe 15 Minuten Dauer und einer klugen Bühnen-, Licht- und Musikregie kondensierte Belasco die Spannung auf jenen prä-katastrophalen Punkt. Puccini ließ der Stoff nicht mehr los und so setzte er einige Zeit später seinen Verleger Giulio Ricordi auf Verhandlungen mit dem Amerikaner Belasco an.

Zusammen mit den Rechten zur Verarbeitung des Stoffes im April des Jahres 1901 kam bei Puccini auch eine Übersetzung von John Luther Longs Novelle »Madame Butterfly« an. Die Erzählung, erschienen 1898 im Century Illustrated Monthly Magazine, war David Belascos Inspirationsquelle für dessen dramatische Verarbeitung. Während in Longs Text der Freitod der Geisha noch durch das hochemotionale Eingreifen des eigenen Kindes verhindert wurde, steigert Belasco das tragische Moment durch eben jenen Verzweiflungsakt, der auch im Œuvre Puccinis zu den herzzerreißendsten und dramatischsten Momenten überhaupt gehört. Für das Libretto der Oper waren Puccinis »Leiblibrettisten« Luigi Illica und Giuseppe Giacosa verantwortlich: Trotz schwieriger Zusammenarbeit und schwelenden Konflikten zwischen den drei Künstlern war die Kooperation letztendlich sehr fruchtbar. Dennoch zeugt die Entstehung des Librettos vom schwierigen Verhältnis zwischen Dichtung und Musik innerhalb des Musiktheaters, das schon Wagner circa 50 Jahre früher in seinen Schriften zur Oper beschäftigte – der Text, die dramatische Szenenführung sowie die Musik mussten kompromisshaft miteinander vermittelt werden.

Die Librettisten orientierten sich eher an Long und Loti, Puccini hielt an Belascos Drama fest.

Ein Spannungspunkt der Verarbeitung des Stoffes war sicherlich die Länge: Belascos Stück war ein Einakter gewesen, womit eine Streckung des Stoffes auf die traditionellen drei Akte scheinbar zwingend notwendig wurde. Giacosas Idee bestand darin, den dritten Akt – als Kontrapunkt zu den im japanischen Kontext angesiedelten ersten zwei Akten – im amerikanischen Konsulat spielen zu lassen. Dadurch sollte die Katastrophe auf US-amerikanischen Boden verlegt werden. Puccini hingegen forderte, unter Berücksichtigung der Spannungskurve des Stoffes und der dramatischen Substanz, das Werk in zwei Akten zu gestalten. Illica und Ricordi hielten dagegen, um die Überlänge eines der Akte zu verhindern: So war auch in Illicas Entwürfen ein szenischer Standortwechsel in drei Akten vorgesehen, um nicht nur unterschiedliche kulturelle Ambiente zu zeigen, sondern auch die Monotonie der Standortgebundenheit in Form eines Kammerspiels zu umgehen. Er bezog sich auch weniger auf Belasco als vielmehr auf Long und vor allem auf Pierre Lotis populäre und autobiografisch gefärbte Erzählung »Madame Chrysanthème«, erschienen 1887, welche das spezifisch japanische Lokalkolorit am glaubwürdigsten transportierte. Der Gegensatz von japanischer und amerikanischer Kultur sollte bei ihm im zweiten Akt,

ähnlich wie bei Giacosa, im amerikanischen Konsulat am greifbarsten werden. Beide Librettisten orientierten sich somit eher an Long und Loti, während für Puccini Belascos Drama weiter als Inspirationsbezugspunkt bestehen blieb.

»Echte« japanische Einflüsse bezog Puccini, einer realistischen Erzählung verpflichtet, von der international tourenden Geisha, Tänzerin und Schauspielerin Kawakami Sadayakko, welche mit einem publikumstauglichen Programm 1902 auch in Italien auftrat. Außerdem versorgte die Frau des japanischen Botschafters in Rom, Hisako Oyama, Puccini mit Informationen zu Namen, Traditionen, japanischen Volksliedern und Musik. Im Rahmen seiner Recherche zu japanischer Volksmusik kontaktierte Puccini zudem den belgischen Musikwissenschaftler und Asien-Experten Gaston Knosp, verschiedene Notensammlungen und Schallplattenfirmen zwecks Material und Quellen für die Bearbeitung seines Opernsujets. Allerdings nutzte er auch die chinesischen Melodien einer Schweizer Spieluhr, was das Problem des »Exotismus« in »Madama Butterfly« verstärkt.

Eine Oper zwischen Westen und »Fernem Osten«, zwischen expansiven Imperialismus und konservativem Traditionalismus, zwischen dem »American Way of Life« und der Kaiserlich-Japanischen Kultur der Meji-Restauration

Neben einem konstruierten fernöstlich »Anderem« schuf Puccini in den Rollen Pinkertons und der anderen Amerikaner allerdings ebenso eine Projektionsfläche des Westens als Kontrapunkt. Ebenso wie die japanische Hymne in der Musik der japanischen Charaktere zum Einsatz kommt, wird auch die Nationalhymne des USA – »The Star-Spangled Banner« – zum wichtigen Motiv in der Musik Pinkertons und des amerikanischen Konsuls Sharpless. Somit inszeniert Puccini den Konflikt zwischen Westen und »Fernem Osten«, zwischen expansiven Imperialismus und konservativem Traditionalismus, zwischen dem »American Way of Life« und der Kaiserlich-Japanischen Kultur der Meji-Restauration nicht nur im Sujet, sondern auch in der Musik. Obwohl »Japonismus« und »Exotismus« um 1900 Hochkonjunktur hatten, glückte die Uraufführung des Werks nicht: Die erste Fassung in zwei Akten wurde vom Publikum abgelehnt, es entstanden mehrere weitere Fassungen, die allerdings mit drei Akten angelegt waren, u. a. für Aufführungen in Brescia oder Paris – Puccini ließ das Werk bis zum Ende seines Lebens nicht mehr los.

 

Hans Rädler

Neuer Kommentar

Verfasse jetzt einen Kommentar. Neue Kommentare werden von uns moderiert.