Schönheit und Sinnlichkeit

Am 9. Februar 2020 feierte Richard Strauss‘ DER ROSENKAVALIER in der Inszenierung des österreichischen Multimediakünstlers, Autors, Poeten, Chansonniers und Filmemachers André Heller auf der Bühne der Staatsoper Unter den Linden Premiere. Während der Proben traf Dramaturg Benjamin Wäntig den Regisseuren der Neuproduktion zum Gespräch.

Herr Heller, wie kommt ein Künstler wie Sie, der auf so vielen Feldern aktiv ist, zur Oper?

Oper war schon in meiner Kindheit so etwas wie eine unirdische Geheimnissphäre, in der andere Gesetze und eine höhere Energie herrschten als in der eher bleiernen Alltäglichkeit. Wenn Anfang der 50er-Jahre im österreichischen Rundfunk abends Übertragungen von den Salzburger Festspielen gesendet wurden, zog sich die ganze Familie Heller festlich an und meine Mutter lieh auch der Köchin ein nobles Kleid. Dann saßen wir andächtig in der Bibliothek und Vater sagte den schönen Satz: »Lassen wir uns also ergreifen.« Es waren die Stimmen der Schwarzkopf, der Jurinac, der Hilde Güden, die mich als erste die Macht der Musik lehrten. Meine extravagante Großmutter Karoline Scholdan war überhaupt der Ansicht, dass begnadete Meisterinnen und Meister des Singens und Dichtens heilen konnten. So lauerten wir eines Tages Maria Jeritza bei einem ihrer Nachkriegs-Wienbesuche – zur Kontrolle des von ihr finanziell großzügig unterstützten Wiederaufbaus der Wiener Staatsoper – auf und konnten ihr tatsächlich die Hand reichen. »Diese Berührung kommt einer vollkommenen Entgiftung und einem weitgehenden Sündenablass gleich!«, beschied Großmama.

Was hat Sie dann dazu gebracht, selbst zum Opernregisseur zu werden?

Ich habe – außer einmal Schönbergs »Erwartung« und Poulencs/Cocteaus »La voix humaine« mit Jessye Norman in Paris und Tokyo – nie Opern inszeniert. Mir war bewusst, dass es für fast alle Werke Geeignetere gibt. Aber das Genre habe ich stets geliebt. Es gab freundlicherweise immer wieder Lockversuche, aber mein Ideal war die Haltung Diaghilews: Dass es nur mit großartigen, unerschrockenen, wahrhaft begabten Verbündeten aus den Künsten der Malerei, des Kostüms, des Gesangs, des Musizierens und des Dirigierens seriöse Chancen auf ein Bühnenergebnis gibt, dass imstande ist, ein Publikum positiv zu erschüttern. Die Voraussetzung für eine derartige Ausnahmekonstellation bot mir eines Tages im Jahr 2018 Matthias Schulz, Intendant der Berliner Staatsoper, für den »Rosenkavalier« an.
Dieses Wundergebilde von Strauss und Hofmannsthal hat eine Schwingung, die mich, seit ich bei Verstand bin, im Innersten berührt. Zum Dichter bin ich schon als Gymnasiast, wann immer mich im Jesuiteninternat Kalksburg die Melancholien und das Heimweh zu verschlingen drohten, gepilgert. Hofmannsthals einstiger Schlössl-Wohnsitz in der Wiener Ketzergasse lag in unmittelbarer Nachbarschaft des alle Freuden vernichtenden Kollegiums. »Rette mich, heiliger Hugo!«, habe ich zu ihm gebetet, so wie ich auch zu anderen selbsterwählten Schutzpatronen wie Picasso, Buster Keaton und Schubert flehte. Später bin ich über Jahrzehnte unterschiedlichen »Rosenkavalier«-Produktionen nachgereist, und dabei stiegen naturgemäß Bilder und Ideen zu diesem Stoff in mir auf. Langsam reifte die Vermutung, dass ich mir das Abenteuer einer eigenen Deutung zutrauen dürfte. Die Einladung aus dem Haus Unter den Linden kam da – sicherlich unzufällig – im richtigen Augenblick und ich sagte ja.

Das Inszenieren einer Oper ist ja immer Teamarbeit. Wen haben Sie zu Ihren Mitstreitern für dieses Projekt erkoren?

Als erstes benötigte ich einen radikal kritischen, musikalischen Weisen an meiner Seite, jemanden, der meine Pläne den kompositorischen Gegebenheiten anpassen und mich vor Falltüren und Unsinnsforderungen an die Sänger warnen konnte. Da gibt es gottlob den enzyklopädischen Opernkenner und in schwierigsten Premierensituationen erfahrenen Praktiker Wolfgang Schilly. Als er sich zur Mitarbeit bereit erklärte, wusste ich: Ich steige gut gerüstet in die Arena.
Als nächstes habe ich die faszinierende Xenia Hausner, die zu Recht weltweit als Malerin reüssiert, gebeten, noch einmal – nach 28 Jahren Pause – Bühnenbilder zu erarbeiten. Wir fanden bald als Ausgangsthese den Konsens, unseren Gedankenspielen eine fiktive, nur einmal am 9. Februar 1917 stattgefunden habende Benefizvorstellung zugunsten des k. k. Kriegs-Witwen und -Waisenfonds zugrunde zu legen. Eine Vertraute und Mäzenin Rilkes und Hofmannsthals, die Fürstin Marie von Thurn und Taxis (ihr gehörte unter anderem Schloss Duino bei Triest, in dem Rilke die erste Vision für die »Duineser Elegien« widerfuhr), eignet sich speziell als Organisatorin eines solchen Ereignisses, weil sie derlei im Ersten Weltkrieg tatsächlich nimmermüde tat. Sie besaß Einfluss und Beziehungen genug, um problemlos die wesentlichsten Sängerinnen und Sänger der Monarchie in einer Ausnahmeaufführung zu versammeln und noch Stefan Zweig, Egon Friedell und Hofmannsthal zu stummen Statistenrollen zu überreden. Dem bedeutenden Secessionisten Kolo Moser hätte sie wahrscheinlich mit Unterstützung Alfred Rollers das Bühnenbild, der revolutionären Kleiderschöpferin und Klimts wichtigster Lebensfreundin Emilie Flöge die Kostümentwürfe anvertraut. Eines ihrer heutigen Pendants ist der Mode-Wunderknabe Arthur Arbesser. Er, Xenia und ich haben uns bei vielen Gesprächen in das Team der Benefizvorstellung hineingeträumt. Das Ergebnis lautete unter anderem:
1. Akt: Die Marschallin richtet sich ihre Räume im Stil des Japonismus ein. Die Anregung hierzu fanden die Kunstsinnigen Wiens der Jahrhundertwende in den europaweit aufsehenerregenden Japan-Beschreibungen, die Lafcadio Hearn publizierte – eine davon mit einem Vorwort von Hofmannsthal. Der Malerkreis um Klimt war ebenfalls von dieser im Westen damals kaum bekannten Ornamentik und Bildsprache stark beeinflusst.
2. Akt: Der frisch geadelte, ungebildete, mit Armeewaffen handelnde Parvenü Faninal versucht, von kostspieligen Beratern getrieben, seine gesellschaftlichen Minderwertigkeitskomplexe durch Einrichtung seines Palais mit Möbeln und Bildern aus der höchsten Ebene der herrschenden Avantgarde zu kompensieren. Er kauft sich etwa aus Angeberei Klimts »Beethovenfries« und seine Tochter lädt die wesentlichen Exponentinnen der Jeunesse dorée und des Geldadels zu der in diesen Kreisen noch nie leibhaftig gesehenen Überreichung der silbernen Rose durch den Bräutigamsaufführer ein. Die Mädchen und Frauen wetteifern untereinander mit ihren extravaganten Kleidern der bedeutendsten Hauptstadt-Couturiers und selbst Klimt und Flöge lassen sich die Sensation nicht entgehen.
3. Akt: Ich habe nie verstanden, wieso Baron Ochs einer Kammerjungfer durch Einladung in ein Vorstadtbeisl imponieren möchte, einen Ort, den Mariandl ja jederzeit mit ihren normalen Verehrern und Bekannten aufsuchen könnte. Viel logischer und erfolgsversprechender wäre ein Tête-à-tête in einem der damals bei Adel und Großbürgertum populären privaten Palmenhäuser, in denen opulente orientalische Kostümfeste gefeiert wurden.

Die Rolle der Marschallin ist vom reinen Umfang her betrachtet viel kleiner als etwa die des Ochs oder Octavian. Trotzdem handelt es sich um die Figur der Oper, von der die größte Wirkung ausgeht. Wie ist Ihr Blick auf diese Figur?

Das gängige Inszenierungsschicksal der Marschallin als schlussendliche Verliererin in der »Rosenkavalier«-Erzählung wollen wir nicht unterstützen. Sie ist eine kluge, betörend schöne, welterfahrene, in erotischen Dingen sicherlich ausgefuchste, gesellschaftlich und finanziell mit nahezu unbegrenzten Möglichkeiten verwöhnte, durchaus – wenn es darauf ankommt – auch gefährliche wienerische Königskobra. Die aus – vom Hochadel belächelten – neureichem Hause stammende, sehr anmutige 15-jährige Klosterschülerin Sophie kann da mit Sicherheit à la longue nicht mithalten. Octavian, der sprunghafte, oft raunzerische 17-jährige Graf, verschaut sich – wie man sagt – per Blitzeinschlag in sie, wird aber im dritten Akt von der herbeigeholten Marschallin förmlich zu Sophie gedrängt. Marie Theres hat die ganze heraufdräuende Thematik schon im ersten Akt in ihrem wunderbaren Zeitmonolog nuancenreich, weitsichtig und imponierend analysiert. Sie weiß, dass Quinquin, nachdem er seine Erfahrungen im Bitteren und Süßen gemacht hat, wenn sie es will, wieder zu ihr zurückkehren wird. Auch Hofmannsthal hält sowohl in seinen Stückkommentaren als auch in seinen Gedichten und privaten Aufzeichnungen diese Entwicklung für realistisch.

Und ihr Gegenspieler, der Ochs?

Der Ochs ist Grobian, primitiver Weiberer, Casanova, Falstaff und Frauenflüsterer in einer explosiven Mischung. Seine – wegen der gesanglichen Herausforderungen – meist stark gekürzte Mägde-Erzählung aus dem ersten Akt legt in einer Art Offenbarungsraserei die tausend Blickwinkel offen, aus denen er die Mädchen und Frauen jeden Alters und jeder Herkunft betrachtet und behandelt. Diese Passage ist für mich – wie das ganze Libretto – funkelnde Weltliteratur.

Was sind die Grundsätze Ihrer sehr verschiedenen künstlerischen Arbeiten? Und welcher Grundsatz liegt Ihrer »Rosenkavalier«-Inszenierung zugrunde?

Bei all meinen unterschiedlichen Projekten prüfe ich, ob es mir wegen der Lust, etwas Bestimmtes zu verwirklichen, zusteht, von anderen und mir selbst hierfür das Kostbarste einzufordern, was wir außer unserer Gesundheit im Leben besitzen: die Zeit. Gehe ich liebevoll und behutsam genug mit der Zeit des Publikums, der Mitwirkenden und meiner eigenen sowie den für meine weitere Ausbildung – zur Tilgung weißer Flecken auf der Landkarte meines Wissens – dringend benötigen Stunden um? Ich befürchte, viele schöpferische Menschen werden sich beim Jüngsten Gericht für die nonchalante oder zynische Zeitverschwendung, die sie sich und anderen in Theatern und Opernhäusern gelegentlich zumuten, rechtfertigen müssen. Ich hoffe jedenfalls für unseren Fall auf den Segen und die hilfreiche Sympathie der Genien und Geister der Schnürböden und Orchestergräben.
Ich fühle mich natürlich Strauss und Hofmannsthal verpflichtet, mit größstmöglicher Genauigkeit ihre Intentionen zu achten und diesen zu dienen. Das hat nichts mit Scheu, Ideenlosigkeit oder Konservativismus zu tun, sondern ausschließlich mit Vertrauen in ihre einzigartige, millionenfach bewahrheitete Könnerschaft. Ich will mit all meinen Verbündeten für Sinnlichkeit, Schönheit und Genauigkeit sorgen, um den exzellenten instrumentalen und menschlichen Stimmen einen möglichst idealen Gesamtrahmen zu schaffen, in dem sich alle Qualitäten vertrauensvoll entfalten können. Das ist allerdings kein zaghafter Anspruch. Beckett sagte so richtig: »Wieder versuchen. Wieder scheitern. Besser scheitern.« Also muss man wissen, dass auch ein Scheitern auf hohem oder zumindest gutem Niveau durchaus schon ein veritables Glück wäre.

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