»… triffst du nur das Zauberwort« – Eine Reportage von Maria Ossowski

Anlässlich des 200-jährigen Jubiläums des Berliner Staatsopernchores, das wir 2021 feiern, hat Maria Ossowski eine Reportage über unseren Chor geschrieben.

Das Zauberwort

»Schläft ein Lied in allen Dingen,
Die da träumen fort und fort,
Und die Welt hebt an zu singen,
Triffst du nur das Zauberwort.«
(Joseph von Eichendorff)

Das berühmte Eichendorffsche Zauberwort. Es befreit die Seele zu ihrem wahren Wesen, zum Singen. Wenn der Gesang die Dinge weckt, öffnet er den Raum für die Unendlichkeit. Welch ein schöner romantischer Gedanke, entstanden nur wenig später nach der Gründung des Staatsopernchores. Wegen eben dieser Gleichzeitigkeit von Gedicht und Gesang begeben wir uns hier auf die Suche nach einem Zauberwort, nämlich jenem magischen Begriff, der den Klang des Chores beschreibt, seine Seele, seine Bedeutung, seine Berufung. Wie könnte dieses Zauberwort lauten für die Sängerinnen und Sänger, die ich auf Proben beobachte, die wir hinter der Bühne begleiten, für jene, die ich zu Hause besuche und für alle, die wir schließlich in den Vorstellungen unter spiegelnden Hüten, hinter Masken oder Sonnenbrillen ganz individuell erkennen? Hieße dieses Zauberwort Einklang? Oder Disziplin? Zuhören? Miteinander? Ordnung? Liebe zum Chorgesang?


Die Probe
An jenem Samstag Morgen, da die »Lohengrin«-Probe für Herren angesetzt ist, passt erstmal ein trockener politischer Begriff: Mobilitätswende. Viele Parkplätze rund ums Opernhaus sind frei, die Fahrradständer jedoch besetzt. »Wenn Du Dein Fahrrad nirgendwo mehr abstellen kannst, weil alles voll ist, dann weißt Du: Chorprobe«, verrät ein Dramaturg. Einige Sänger kommen auch zu Fuß oder mit der U-Bahn. Man grüßt einander und den Pförtner im Haus der Intendanz, plaudert noch in kleinen Gruppen, strebt dann durch die langen Gänge zum Probensaal. Dort entnimmt jeder die eigenen Noten den kleinen Schließfächern an der eichengetäfelten Wand. Die Stühle und Pulte im stufenförmig angeordneten Raum sind aufgebaut, alles ist bereit für »Lohengrin«. Überall räuspert es sich, es summt, der Pianist spielt sich ein, der Chordirektor nimmt vorn Platz, schaut hoch, langsam senkt sich Ruhe in den Saal. Noch schläft das Lied in allen Dingen, aber dann: Zweiter Akt, Dritte Szene. Tagesanbruch.

»In Früh‘n versammelt uns der Ruf,
gar viel verheißet wohl der Tag.
Der hier so hehre Wunder schuf,
manch neue Tat vollbringen mag.«

Welch ein beglückender Moment, wenn alle Stimmen sich gemeinsam erheben und auch erstaunlich, denn Richard Wagners »Edle und die Burgbewohner«, sie klingen gleich beim ersten Mal so wundervoll gemeinsam, so perfekt, so harmonisch, so kraftvoll und dynamisch. Wozu eine Probe? Was gibt es denn hier noch zu verbessern? Genau dieser Zauber schwingt doch mit in Eichendorffs Gedicht. Kann der Dirigent Martin Wright da noch irgendetwas veredeln?
Wenig schult das eigene, laienhafte Gehör so präzise und erstaunlich wie die Proben dieses Profichores. Bitte, klopft Martin Wright, könnten wir den Text mehr absetzen? Wun-der-schuf. »Nicht schleifen, pointierter bitte. Wenn die Tenöre im Piano sich mehr konzentrieren, ist das die bessere Basis fürs Forte. Merken Sie? Hier geht der Akzent gegen die Melodie … und im Crescendo nur eine kurze Phase. Noch einmal bitte!« Es geht weiter, zu den berühmten Zeilen: »Heil ihm, den Gott gesandt, treu sind wir untertan, dem Schützer von Brabant.«
Das frühmittelalterliche Christentum, die Bilder von Städten im 10. Jahrhundert scheinen zu erwachen mit diesen Versen, mit diesem Ruf, dieser Tonfolge. Vollkommen gesungen. Für mein Ohr durchaus, jedoch Martin Wright probiert die Phrasierungen erst in der Sprechprobe, der Rhythmus ist heikel. Und dann darf Brabant auf keinen Fall swingen. »Noch einmal bitte!«


Die Freiheit der Stimme
Der Chor folgt dem Direktor, das Vertrauen ist in jeden mehrmals geprobten Takten zu spüren. Wie gelingt das? Mit welchem Zauberwort, mit welchen Idealen eines geformten Klangs arbeitet Martin Wright? Das Geheimnis, so der Direktor, bestehe darin, die Stärken jeder einzelnen Sängerin und jedes Sängers, ganz individuell, zu schützen und gleichzeitig am gemeinsamen Klang zu bauen. Das Wichtigste sei für ihn immer, die stimmliche Freiheit zu schaffen. »Das ist der Schlüssel, wir wollen alle individuellen Farben vereinen. Von der Freiheit zur Homogenität.« Bei vielen Chören, erzählt Wright, stünde der homogene Klang an erster Stelle. Er hingegen achte die Unterschiede, die besonderen Stärken. Er vertraut, und aus diesem Vertrauen entsteht das Einzigartige, das Besondere dieses Chores. Aus jeder Stimme, jeder Farbe. Goethe fragt in seinem berühmten Gingko-Gedicht »Fühlst Du nicht an meinen Liedern, dass ich eins und doppelt bin?« Hier gilt es, das Eine, den Chor, und das Vielfache, seine Sängerinnen und Sänger, die die Lieder formen, zu erkennen und zu fördern. Aber wer ist der, wer ist die Einzelne? Wie lauten ihre Zauberworte des Gesangs? Was verbindet sie alle? In drei Besuchen und längeren Gesprächen entfalten sich so ungewöhnliche wie unterschiedliche Biografien. Gemeinsam ist allen die Liebe zum Gesang, zur Musik und zur Kultur.


Kraft und Demut
Wolfgang Biebuyck empfängt mich mit seinem 11-jährigen Sohn Levi in einer reizenden Wohnküche. Levi singt im Kinderchor der Staatsoper, manche Vorstellungen mit dem Vater gemeinsam, er übt gerade den Dritten Knaben in der »Zauberflöte«. »Es ist schön, mit Papa auf der Bühne zu stehen, dann schau ich ihn an und weiß, ich kann mich auf ihn verlassen.« Wolfgang Biebuyck gehört seit 2003 zur Bassgruppe im Staatsopernchor. Seine Eltern mochten Musik, aber das Musizieren spielte in Belgien für Familien aus dem Bildungsbürgertum nicht jene Rolle wie in Deutschland. Biebuyck hat in Gent Violine studiert, immer wieder sprachen ihn Kommilitonen auf seine Stimme an. Zudem fiel ihm als Geiger auf: die Sänger in Chören waren lustiger als die Orchestermusiker. Und Humor begleitet sein Leben. Als einem bekannten Kammersänger das tiefe F in der Rolle des Sparafucile (in Verdis »Rigoletto«) während einer Probe nicht gleich gelang, amüsierte das Wolfgang Biebuyck – er selbst traf den Ton. Nach dem Gesangsstudium in Lübeck und Hamburg ließ sich als Solist an verschiedenen Häusern engagieren. Und wie so viele sehr gute Sänger stellte er irgendwann fest: »Meine Stimme war besonders, aber nicht besonders genug, um so weit zu kommen, wie ich es mir gewünscht hätte. Mir lagen die Bufforollen, Rossini und Donizetti. Ich aber strebte zum edleren Fach, wollte Scarpia und den Holländer singen.« Die eigenen Grenzen anzuerkennen, sich ihnen zu fügen, das erfordert eine enorme mentale Stärke und auch Demut. Diese Charaktereigenschaften finden sich bei vielen Chorsängern. Sie alle waren Solisten, sind es zum großen Teil in kleinerem Umfang heute noch. »Im Chor aber muss man sich als Teil des Ganzen verstehen. Dass man sich dem Dirigenten unterordnet, gehört dazu. Jedoch auch Kollegen sagen, was Du anders machen solltest, stimmlich und szenisch. Man ist nicht so wichtig, wie man es gern wäre. Man muss sich zurücknehmen.« Teil eines klingenden Organismus zu sein, das ist das Schönste für Wolfgang Biebuyck. Sein Zauberwort dazu heißt »Mondnacht«, im Singen strebe er nach Eichendorffs berühmte Zeilen:

»Und meine Seele spannte
Weit ihre Flügel aus,
Flog durch die stillen Lande,
Als flöge sie nach Haus.«


Der Klangstrom
Eichendorffs »Mondnacht« zitiert auch die Altistin Elke Engel. Sie war das sechste von sieben Kindern, alle in ihrer Coburger Familie spielten ein Instrument, der Großvater hat in Oberschlesien ein Stadtorchester geleitet. Auch Elke Engel war Solistin, in ihrem Wohnzimmer hängt ein Foto als temperamentvolle Ulrica aus Verdis »Maskenball«. Auch Elke Engel liebt den Chorgesang, und sie bezeichnet sich selbst als »klangsüchtig«. Die Sängerin besucht überall in der Stadt Konzerte, sie lernt Hebräisch, sie hat länger in Israel gelebt, sie liest Spinoza im lateinischen Original. Und sie genießt ihre Arbeit im Chor der Staatsoper: »Das Wunderbare am Singen ist ja, dass der eigene Körper das Instrument ist, und es braucht auch kein Zauberwort von außen, sondern steigt »aus tiefsten Tiefen«. Wenn ich durch die Einatmung eine Verankerung tief im Körper spüre, und wenn dann der Dirigent den Taktstock hebt und uns ansieht, und ich den gemeinsamen Atem spüre, kann ich mich dann in den Klangstrom mit den anderen vereinen.«
Chorsingen, erzählt Engel, erziehe zur Rücksichtnahme. »Sing nicht lauter als Dein Nachbar.« Sie kennt einige Chöre, dieser sei besonders solidarisch, man achte aufeinander.


Verschmelzen
Die Maxime des Einordnens kennt Günther Giese aus der Kirchenmusik. Der Tenor sollte nach den Plänen seiner brasilianischen Familie eigentlich wie seine Brüder Bauer werden. Pommersches Platt haben die Eltern auf dem Dorf bei Jaraguá do Sul in Südbrasilien gesprochen, der Jüngste jedoch verließ den Hof, studierte Gesang und ist seit 1992 Mitglied im Staatsopernchor. »Im Chor geht’s nicht ums Rechthaben, sondern um das Zusammenwirken.« Giese genießt das Verschmelzen, das Einssein im Klang. Die Arbeit versteht er eher als Lebensbereicherung, wenngleich das Auswendiglernen, zumal in einer fremden Sprache wie Tschechisch oder Russisch, eine Herausforderung sei. Der tiefgläubige Sänger liest viel, auch in den Pausen zwischen den Auftritten, die Bücherregale seiner Moabiter Altbauwohnung ziehen sich bis an die Decke. Es reicht ihm nicht, eine Oper oder ein Chorwerk musikalisch zu durchdringen, er möchte die Zeit verstehen, in der es entstanden ist, die Umstände, die Hintergründe.
Vor jeder Aufführung spricht Giese leise den Prolog des Johannesevangeliums. Sein Zauberwort hat für ihn immer mit dem Herabdimmen der eigenen Geltung zu tun: »Seine eigenen Fähigkeiten für ein übergeordnetes Ergebnis im Dienst zu stellen, aller Empfindsamkeit und Eigenwilligkeit zum Trotz, kann zu einer eigenen Korrektur führen und im utopischsten Sinne sogar heilend sein.«


Berlin oder Charlottenburg
Nach drei Begegnungen mit berührenden Gesprächen und mehreren Zauberwörtern darf ich schließlich vor den Aufführungen Glucks »Orfeo e Eurydice« und Rameaus »Hippolyte et Aricie« die Garderoben und Masken besuchen und später an den beiden Seitenbühnen den Chor beobachten. Die Auftritte erfolgen jeweils von der östlichen Seite der Bühne, »Berlin« genannt, oder von der westlichen Seite, »Charlottenburg«, eine Tradition noch aus den frühen Jahren des Hauses. Elke Engel hat sich die langen Haare hochstecken lassen, damit sie unter den spitzen schwarzen Hut passen, wenn die Choristen dem Orfeo ihr »No« entgegenschleudern. Günther Giese und Wolfgang Biebuyck sind erst wieder zu erkennen, als sie mit Sonnenbrillen im Hades die Urlauber geben. Martin Wright dirigiert die Sängerinnen und Sänger im dunklen Seitenraum, unsichtbar fürs Publikum, mit einer extra für ihn konstruierten in diskretem Orange leuchtenden Taschenlampe. Die eigenartige Mischung aus hoher Konzentration auf der Bühne und heiterer Gelassenheit backstage, das plötzliche Verschmelzen im Gesang und die Rückkehr in die individuelle Welt nach dem Auftritt faszinieren. Wie können die Sänger nach solch einem Abend wieder Teil des Alltags werden und zu Hause abschalten? Wolfgang Biebuyck hat sein Ritual: Er schaut zu später Stunde, ob alle in der Familie schlafen, dann zieht er sich mit einem Buch zurück. Elke Engel liest, meditiert, lässt den Abend noch einmal vorbeigleiten. Günther Giese genießt ein Glas Rotwein und die heimelige Atmosphäre seiner Bücherwände. Und die Beobachterin, die Zuschauerin, die Autorin? Sie sucht noch immer das Zauberwort für diese Begegnungen, diesen Klang, diesen Gesang, diese Einheit in der Vielfalt. Singen, so Yehudi Menuhin, ist die eigentliche Muttersprache des Menschen. Vielleicht reicht unsere Sprache deshalb nicht aus, um den Zauber des Staatsopernchores mit einem Wort zu benennen.

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