Vielfalt muss nicht beliebig sein – »Die letzten Tage der Oper«

Ist Oper vom Aussterben bedroht? Ist sie heute der Dinosaurier, gegen den sie selbst in ihrem ursprünglich so innovativen, revolutionären Anspruch, angekämpft hat? Das Ende Januar im Skira-Verlag erschienene Buch „Die letzten Tage der Oper“ sucht Antworten auf die Frage, wo das Genre Musiktheater heute im 21. Jahrhundert steht und in Zukunft stehen könnte. Matthias Schulz hat einen der rund 100 Essays dafür verfasst, den Sie hier lesen können.

 

Jede Stadt ist anders und unterscheidet sich in ihren Strukturen und Dynamiken von jeder anderen.

Ein Opernhaus, ein Stadt- bzw. Staatstheater sollte immer ein relevanter Teil der Stadt, der Region, und Bestandteil des gesellschaftlichen Miteinanders sein. Allein das »Stattfinden« und Existieren in den Köpfen der Menschen ist für vieles davon Ausgehende der erste wichtige Grundstein.

Viele Fragen sind damit verknüpft: Wie wird das Haus in der Stadt wahrgenommen? Welche Erwartungen existieren? Welchen Vorurteilen begegnet man, welche Hemmschwellen und Hürden bestehen für einen Besuch? Wie schaffen wir es, in der Gesellschaft verankert zu sein und zu bleiben – und welche Gesellschaft ist das überhaupt? Die Antworten auf diese Fragen sind immer subjektiv geprägt, abhängig von Blickwinkel und Interesse. In den meisten Fällen gibt es deshalb zahlreiche, sich auch widersprechende, kontroverse Antworten. In einer Stadt wie Berlin, mit einer komplexen Stadtgesellschaft, die von Menschen mit unterschiedlichen Hintergründen geprägt wird, ist dies sicherlich der Fall.

Die Positionierung eines Opernhauses – in Gestalt seines Erscheinungsbilds, der inhaltlichen Planung und des Spielplans – ist im Zusammenhang mit der Geschichte des Hauses, der Struktur, der Ressourcen und vor dem Hintergrund der heutigen gesellschaftlichen Situation zu suchen. Ein unverzichtbarer Teil der Gesellschaft zu sein, ist ein grundlegender Baustein zur langfristigen kollektiven Befürwortung der heutigen Theater-, Orchester- und Opernstruktur. Hierin liegt auch die hohe Subventionierung durch öffentliche Gelder begründet.

Das soll jedoch nicht zur Konsequenz haben, das Programm nur anhand der Nachfrage und entlang des gesellschaftlich vorherrschenden Geschmacks zu entwickeln. Solche Beschränkungen sollten bei der Programmplanung zunächst ausgeblendet werden. Das ständige Eingehen von Kompromissen, um Konsens zu erzeugen, hat mit Kunst wenig zu tun. Auch für ein staatlich subventioniertes und traditionsreiches Opernhaus – oder gerade für dieses – gilt, dass die künstlerische Freiheit an erster Stelle stehen muss.

Wenn man eine weit gefasste volkswirtschaftliche bzw. ökonomische Betrachtungsweise verfolgt, sind Kulturinstitutionen wie Opernhäuser sehr wohl gewinnbringend und gesellschaftlich lohnend.

Die Arbeit eines Opernhauses befindet sich stets im Spannungsfeld zwischen Qualität und Quantität, die Parameter Zeit und Geld im Nacken. Wenn wir allerdings versuchen, Kunst und Kultur rein unter dem Gesichtspunkt der betriebswirtschaftlichen Rentabilität zu messen und zu beurteilen, befinden wir uns in einer Schieflage. Durch Umwegrentabilität und Multiplikatoreffekte fließen Gelder, die der Institution in Form von Subventionen zugehen, in viel größerem Maße wieder zurück als oft angenommen. Der kulturelle Reichtum und die Vielfalt sind einer der wichtigsten Standortfaktoren. Wenn man eine weit gefasste volkswirtschaftliche bzw. ökonomische Betrachtungsweise verfolgt, sind Kulturinstitutionen wie Opernhäuser sehr wohl gewinnbringend und gesellschaftlich lohnend. Blickt man auf die identitätsstiftende Wirkung, die von Kulturinstitutionen ausgehen kann, und den Wunsch vieler Bürger*innen, in einer kulturell reichen Umgebung zu leben, so ist die Förderung von Kultur mehr als gut angelegt. Niemand möchte, dass nachfolgende Generationen in einer kulturell ärmeren Umgebung leben als man selbst. Grundlage hierfür ist die Kunst. Theater kann – beraubt man es nicht seiner künstlerischen Freiheiten – überregional wie international Strahlkraft entfalten.

In „What’s Wrong with the Arts Is What’s Wrong with Society“ schreibt der Wirtschaftswissenschaftler Tibor Scitovsky, Kunst sei wie ein launischer Gott, den man achten und wertschätzen muss, damit er seine gute Wirkung als Geschenk entfaltet. Versucht man die Gabe mit Gewalt zu erzwingen, wie das Regierende immer wieder tun, so wird der Gott sich abwenden. Dieser Gedanke sollte nicht in Vergessenheit geraten und gelegentlich noch deutlicher gegenüber der Öffentlichkeit und der Politik geäußert werden. Auch das Engagement privater Geldgeber*innen ist auf die übergreifenden positiven Effekte zurückzuführen.

Oper ist im besten Sinne von allem zu viel.

Grundsätzlich gilt es, zur Kunstform Oper zu stehen. Diese Aussage erscheint zunächst selbstverständlich – angesichts verschiedener Diskussionen ist sie dies aber nicht. Oper ist eine große und teure Kunstform, die einen hohen Einsatz von Ressourcen benötigt. Diese Kernaussage darf nicht verwechselt werden mit Rückwärtsgewandtheit und Stillstand. Das „Bekenntnis zur Oper“ widerspricht einer Öffnung nicht, sondern fordert diese geradezu: Oper ist im besten Sinne von allem zu viel. Sie bietet die Möglichkeit des Umgangs mit vielfältigen Ausdrucksformen und Erlebnisweisen gleichzeitig. In dieser Hinsicht ist sie eine einzigartige, produktive Überforderung bzw. Herausforderung und eine hochkomplexe Kunstform, die keine einfachen Antworten produziert und produzieren sollte.

Umso wichtiger scheint mir, dass Oper kein geschlossenes System sein, sondern von Menschen aus möglichst vielen Bereichen der Gesellschaft, mit unterschiedlichen Hintergründen und Erfahrungen, als bedeutsam empfunden werden sollte. Dabei geht es um die Durchlässigkeit für Impulse, die unmittelbar aus der Gesellschaft kommen. Durch die Zusammenarbeit der Künstler*innen und Mitarbeiter*innen und durch die Resonanz des Publikums auf die Oper wirken diese Impulse als Abgleich mit der Realität, sie können Selbstverständlichkeiten hinterfragen und so eine Öffnung – sowohl auf inhaltlicher und struktureller Ebene als auch in der Kommunikation – ermöglichen.

Ästhetisch gesehen befindet sich die Oper in einer Sackgasse. Intendanten wie Gérard Mortier konnten Anfang der 90er Jahre mit Künstler*innen wie Bob Wilson, Fura dels Baus, Ursel und Karl-Ernst Herrmann oder Christoph Marthaler einen neuen Opernbegriff formulieren und ästhetisch neue, insbesondere abstraktere Wege befördern. Es ist zu beobachten, dass sich zunächst Neues stets wiederholt und zu einem neuen Maßstab entwickelt. Wiederkehrende Stile etablieren sich, werden als qualitativ „hochwertig“ und „gut“ beurteilt.

Es muss eher darum gehen, die Ambivalenz des Lebens abzubilden, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, der Komplexität der Welt besser zu begegnen.

Zunehmend sinkt jedoch das Interesse daran wieder, und es gilt, neue Wege zu finden oder alte Formen wiederzuentdecken. Eine Vielfalt muss zugelassen werden, die sich der Kategorisierung verweigert, also z. B. nur Geschichten 1:1 nachzuerzählen oder sich dogmatisch der Dekonstruktion samt Neuzusammensetzung von Stücken zu verschreiben. Auflösungsprozesse zu befürworten, nur damit man etwas Neues macht, ist ein Irrweg. Genauso der Gegenentwurf dazu: die Bewahrung des musealen Anstriches, die Selbstbeweihräucherung eines in sich geschlossenen Systems. Auch Schockelemente hat es im Theater mittlerweile umfassend gegeben. Es gilt vielmehr, eine Kraft unter der Oberfläche, zwischen den Kategorien, zu suchen. Mich berühren die Operninszenierungen am meisten, die scheinbar konventionell daherkommen, bei denen aber unter der Oberfläche etwas Drastisches passiert. Etwas zu Ende zu erklären, tötet das Theater. Es muss eher darum gehen, die Ambivalenz des Lebens abzubilden, um dem Publikum die Möglichkeit zu geben, der Komplexität der Welt besser zu begegnen.

Aktuell beherrschen einige wenige Regienamen die Spielpläne der großen Häuser. Um der Struktur des Gleichen zu entkommen, ist es wichtig, sich der Austauschbarkeit zu widersetzen und immer wieder auch Regisseur*innen die Möglichkeit einer Inszenierung zu eröffnen, die bisher nicht zum „Karussell der Etablierten“ gehören – mit dem Risiko des Scheiterns. Natürlich ist Handwerk wesentlich, aber man muss immer wieder ermöglichen, „auszubrechen“ und mit Künstler*innen anderer Disziplinen zusammenzuarbeiten (auch wenn dies mehr Betreuung und Zeit braucht), da sich der Opernbetrieb ansonsten nur mit einigen wenigen Namen begnügt, die man fast überall in Europa sehen kann.

Um etwas bewegen zu wollen, bedarf es nicht nur einer Vision und langfristiger Zielsetzungen, sondern auch Mut, Haltung und Engagement, um neue Wege zu beschreiten, Dinge zusammenzubringen, die auf den ersten Blick nicht zusammengehören, und neue gesellschaftliche Entwicklungen zu hinterfragen bzw. aufzunehmen. Grundsätzlich ist es wichtig, dass Formen, Formate und Themen auf dem Programm stehen, die auch ein heterogenes Publikum ansprechen, ihm einen Zugang zur Oper ermöglichen und sein Interesse wecken.

Neben etablierten Werken verschiedener Epochen, die auf ihre Aktualität hin befragt werden, ist es wichtig, Räume für neue Stücke und Auftragswerke zu schaffen, um die Gegenwart zu prägen. Gemeinsam mit Regisseur*innen, Librettist*innen, Komponist*innen und Dirigent*innen Wege zu finden und Ideen zu gestalten, bevor das Werk fertiggestellt ist, wirkt als Kraftwerk für ein Haus. Die Aufgabe der Opernhäuser, sich als „Auftraggebende“ zu verstehen, muss kontinuierlich angenommen werden, zugleich müssen Werke des 20. und 21. Jahrhunderts Eingang in das Repertoire finden. An der Staatsoper Unter den Linden geschah dies z. B. mit der Uraufführung von Beat Furrers „Violetter Schnee“ oder der Neuinszenierung einer überarbeiteten Fassung von Jörg Widmanns „Babylon“.

Neue Stücke bedürfen oftmals neuer Formen – auch der Zusammenarbeit.

Wir können uns jedoch nicht nur mit großer Oper auf der großen Bühne befassen, sondern sollten den Auftrag als Opernhaus einer Stadt weiter fassen. Die geschieht an der Staatsoper Berlin zum Beispiel durch die Reihe „LINDEN 21“. Hier werden Stückentwicklungen, Uraufführungen, alternative Formen und Formate, genreübergreifende Zusammenarbeiten als Begegnungen des Musiktheaters mit Künstler*innen aus den Bereichen von Performance, Bildender Kunst und Tanz ermöglicht, die andere Arten des Produzierens und Rezipierens zulassen. Jenseits des großen Opern- und Bühnenapparats ist eine kurzfristigere, flexiblere und schnellere Arbeitsweise möglich, eine andere Art des Musiktheaters, ein freierer Umgang mit Stoff und Werk.

Neue Stücke bedürfen oftmals neuer Formen – auch der Zusammenarbeit. Das bedeutet, etablierte Formen der künstlerischen Arbeit zu überdenken oder neu zu denken und Arbeitsweisen den Bedürfnissen und Probenbedingungen anzupassen. Das erfordert die Bereitschaft und Flexibilität aller Mitarbeiter*innen. Um neuen Formen und komplexen wie ambitionierten Werken gerecht zu werden, braucht es darüber hinaus Offenheit von Seiten des Orchesters und der musikalischen Leitung. Denn die musikalische Qualität ist Voraussetzung für eine gelungene Aufführung, wenn sie mit dem künstlerischen Anspruch und den Herausforderungen der Inszenierung ineinandergreift. Gleichberechtigung der Künste heißt, über das Engagement für die musikalische Bestleistung und Qualität hinaus die notwendige Offenheit und Motivation aufzubringen, um kreativ an Lösungsvorschlägen mitzuarbeiten, und die Bereitschaft zu zeigen, auch die Komfortzone des Gewohnten zu verlassen. Das erfordert Zeit und Raum für Kommunikation und Teilhabe an Prozessen, die unerprobt und nicht immer auf direktem Weg zielführend sind.

Innerhalb der Programmgestaltung werden durch diverse künstlerische Handschriften, Formen und Formate innere Bezüge hergestellt, die unterschiedliche Zugänge und Ansätze im Umgang mit Werken suchen – wobei sich nicht alles aufeinander beziehen muss oder kann. Bezüge zwischen den Premieren im großen Haus zu Konzert-, Jugend- und experimentelleren Programmen aber erzeugen Assoziationen und Querverbindungen und sorgen so für Orientierungspunkte und eine tiefere Auseinandersetzung mit verschiedenen Teilbereichen des Programms.

Die Faszination für das Medium Oper muss in die Stadt getragen werden

Das Weihevolle und Elfenbeinturmartige sollte nicht befördert werden, auch wenn Oper keine Alltagssituation ist. Wenn es um den Zugang zu Oper geht und neue Perspektiven – auch darauf, was hinter der Bühne geschieht und wie etwas in der Oper entsteht – ermöglicht werden sollen, gilt es, dem Prinzip „Ein Koch lässt sich nicht in die Töpfe schauen“ etwas entgegenzusetzen. Für viele gibt es kaum etwas Interessanteres als Kochsendungen.
Die Faszination für das Medium Oper muss in die Stadt getragen werden, um einen Zugang zu Oper zu schaffen. Das für die Opernwelt Selbstverständliche ist für die Außenwelt oft fremder, als man denkt. An der Staatsoper Unter den Linden wird eine Öffnung mit Projekten wie „Out of the Opera“, dem „Opernkinderorchester“ und dem „Kinderopernhaus“ ermöglicht. Während bei „Out of the Opera“ Mitglieder der Staatskapelle nicht nur im Orchestergraben oder im Konzertsaal, sondern in verschiedenen Bars in ganz Berlin spielen, erleben über 80 Kinder als Mitglieder des „Opernkinderorchesters“ in enger Zusammenarbeit mit den Musikschulen des Landes Berlin hautnah das professionelle Orchesterleben bei gemeinsamen Stimmproben mit Musikpädagog*innen und Musiker*innen der Staatskapelle, bei Probenbesuchen und Workshops sowie Konzerten und Aufführungen, die den jährlichen Höhepunkt der Arbeit bilden. Auf diese Weise erweitert sich die „Familie“ der Staatsoper, wobei das Gleiche auch für das „Kinderopernhaus“ gilt, das in sechs Bezirken Berlins verankert ist und zu den „Leuchttürmen“ der Vermittlung an der Staatsoper zählt: Über 100 Kinder arbeiten gemeinsam an bezirksübergreifenden Opernaufführungen, in denen die Kinder selbst als Protagonist*innen auf der Bühne stehen.

Oper trägt weiterführend die Verantwortung, Erlebnisse zu schaffen, die Erinnerungswerte sind. Allerdings wäre es nicht haltbar zu denken, dass Oper als Institution ausgleichen könne, was in den Schulen passieren muss. Damit Kinder frühzeitig und unabhängig von den Förderungsmöglichkeiten des Elternhauses einen Zugang zur Musik bekommen, ist die Schule als erster und vielseitiger Begegnungsort mit Musik nicht zu ersetzen. Eine Unterrichtsstunde Musik pro Woche allein reicht nicht aus! Lehrer*innen im Fach Musik sollten von der Schule Unterstützung dabei bekommen, mit den Kindern breitgefächerte und den Lehrplan ergänzende kontinuierliche Bildungsangebote zu entwickeln bzw. wahrzunehmen und den Weg für Kooperationen, Initiativen und Projekte zu ebnen, die Musik in der Praxis erlebbar machen. Unabdingbar ist auch, dass jedes Kind die Chance erhält, ein Instrument zu lernen. Schule sollte auch eine Schule des Hörens sein.

Oper ist eine große Reise, eine intensive und kollektive Erfahrung

Oper ist eine große Reise, eine intensive und kollektive Erfahrung, die eine Aufmerksamkeit über Stunden fordert und das Eintauchen in eine Welt ermöglicht, die im Kontrast zum Alltag steht. Oper ist per Definition nicht effizient. Doch gerade im Anachronistischen der Oper liegt eine Zukunftschance: Man muss sich einlassen auf große Bögen, in denen die Wahrnehmung der Zeit eine andere ist. Nahezu alle Sinne werden angesprochen. Wenn man eine Aufführung erlebt, begibt man sich gewissermaßen in eine Art Schutzraum, an einen Ort der Entschleunigung. Es ist eine authentische Erfahrung in einer immer digitalisierteren Welt, die in ihrer Komplexität überfordern kann. Oper kann die Welt nicht verändern, aber vielleicht hilft sie uns, die Ambivalenzen des Lebens besser auszuhalten, und trägt dazu bei, ein empathischer Mensch zu sein.

 

Matthias Schulz

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