EIN AUSSERGEWÖHNLICHER SINN FÜRS DRAMA

Die französische Cembalistin und Dirigentin Emmanuelle Haïm hat eine besondere Vorliebe für Barockmusik. So gründete sie im Jahr 2000 das Barockensemble Le Concert d’Astrée, welches unter ihrer musikalischen Leitung die Neuproduktion »Idoménée« zu den BAROCKTAGEN 2021 an der Staatsoper Unter den Linden sowie ein Galakonzert zusammen mit Sir Simon Rattle spielt. Unser Dramaturg Benjamin Wäntig hat Emmanuelle Haïm vorm Beginn der BAROCKTAGE zum Gespräch getroffen.

BENJAMIN WÄNTIG In Deutschland ist der Komponist André Campra weitgehend unbekannt. Wie sieht es in Frankreich aus, kennt man dort seinen Namen?

EMMANUELLE HAÏM Ja, seinen Namen kennt man, und in letzter Zeit wurde immerhin ein kleiner Teil seines Œuvres auf die Bühne gebracht, wie etwa »Les Fêtes venétiennes«. Hinzu kommen die Stücke, die man eingespielt hat. Schließlich führen einige Ensembles seine kleinen Motetten auf, manchmal auch die »Grands motets«, so trifft man eher auf Campras Kirchenmusik als auf seine großen Tragödien oder seine Opéra-ballets. Aber trotz allem: Es handelt sich um einen Komponisten, der wesentlich weniger bekannt ist als die berühmten Komponisten des französischen Barock, Lully und Rameau.
Ich finde es sehr interessant, dass ein Werk wie dieses nun an ein Haus wie die Staatsoper kommt, und ich danke Matthias Schulz sehr für diese Idee und die Kühnheit, diese Raritäten des französischen Barock aufzuführen, nicht nur »Idoménée«, sondern auch »Hippolyte et Aricie«.

B W Als Campra in den 1690er Jahren nach Paris kam, war das Publikum nicht mehr so an der Tragédie en musique interessiert wie einst. Campra hat daher ein neues, leichteres Genre erschaffen, die Opéra-ballet, aber daneben auch weiterhin Tragédies geschrieben. Was hat er getan, um trotzdem erfolgreich zu bleiben, was sind seine Errungenschaften im Vergleich mit Lully?

E H Natürlich liegt der Fall bei Lully etwas anders, denn er hat die Form der Tragédie en musique für den Hof Ludwigs XIV. überhaupt erst geschaffen. Er hat dieses Modell weiterhin erforscht, auf außergewöhnliche Weise, aber immer innerhalb dieses Rahmens. Campra geht manchmal über diesen Rahmen hinaus, behält ihn jedoch im Großen und Ganzen bei. Allerdings füllt er ihn mit einem neuen Stil, einem etwas hybriden Stil, in dem Italien präsent ist mittels »airs à l’italienne«, also Arien nach italienischer Art. Er schafft so eine Mischung. Der französische Stil ist sehr delikat, raffiniert, sehr fein, transparent; die italienische Oper hat dagegen eine Lebendigkeit, Fleischlichkeit und er hat es geschafft, eine Synthese aus Frankreich und Italien herzustellen. Das ist seine größte Neuerung. Seine Divertissements sind sehr überschwänglich, was man in »Idoménée« etwa im großen Divertissement der Eifersucht hört: Es ist sehr vielfältig, sehr amüsant. In einigen Fällen hat er auch in die Tragédie etwas den Esprit der Opéra-ballet einziehen lassen.

B W Was zeichnet Campras musikalischen Stil sonst noch aus?

E H Es gibt viele Rezitativszenen, in denen ich mich immer wie in einem Stück von Racine fühle. Hinzu kommen die für Campra typischen »récitatifs accompagnés«, in denen zusätzlich auch das Orchester das Wort ergreift. Dabei gibt es auch kurze Arien, die sich manchmal kaum merklich unter die Rezitative mischen. Campras Orchesterbehandlung ist auch sehr interessant, ich finde Eigenheiten in der Orchestrierung, die den Figuren besondere Facetten geben. Vor allem die beiden Frauenfiguren Ilione und Électre, die im Vergleich zu Mozarts Version etwas anders getönt sind. Ilione liegt etwas tiefer, Électre höher, und die Orchestrierung ihrer Arien ist manchmal ganz schwebend, ganz leicht, wie in der Arie »Que mes plaisirs sont doux« mit den Hauchen der Flöten. Électre ist zeitweise zerbrechlich, anrührend.

B W Ist die Partitur von »Idoménée« vollständig? Oder mussten Sie vieles ergänzen?

E H Es kommen immer viele Fragen auf, wenn man über den Partituren brütet. Aus dem Jahr der Uraufführung, 1712, ist eine sogar gedruckte Partitur erhalten, die man jedoch heute eher als Klavierauszug bezeichnen würde. D. h., es ist eine Reduzierung: Sie enthält die wichtigsten Orchesterstimmen – die Oberstimme und den Bass – sowie die Gesangspartien, aber keine Orchesterdetails. Von der Reprise 1731 haben wir hingegen einen vollständigen Orchestersatz. 1749 wurde »Idoménée« in Lyon gespielt. Jedes Mal erklang das Stück aber in anderer Form. Man weiß beispielsweise, dass 1712 ein Orchester »à la français« spielte, d. h. wie bei Lully mit einem fünfstimmigen Streichersatz: dessus de violon, dann haute-contre de violon, taille de violon, quinte de violon und schließlich basse de violon. Um 1720 hingegen, also vor den Wiederaufführungen in Toulouse, Paris und Lyon, erfuhr das Orchester eine Veränderung, und so sind die späteren Partituren vierstimmig. D. h., das Orchester entwickelte sich Richtung Rameau und weitere Einflüsse aus Italien weiter, von wo aus das Violoncello das Orchester eroberte. Man hatte also sehr wahrscheinlich eine gemischte Bassbesetzung sowohl aus Celli wie aus den älteren Violes de gambe und Basses de violon. Es gibt auch ähnliche Entwicklungen bei den Oboen und Flöten. Die Besetzung dieser Zeit ist also etwas hybrid, man muss etliche Entscheidungen treffen.

B W Welche Unterschiede gibt es sonst noch zwischen den »Idoménée«-Versionen von 1712 und 1731? Warum haben Sie sich für die zweite entschieden?

E H Anfangs haben wir überlegt, die ganze Oper in fünf Stimmen zu rekonstruieren. Aber wenn ich die Feinheit und den Reichtum der Mittelstimmen bedenke: Dafür hätten wir wirklich lange gebraucht, und es wäre sehr schwierig geworden, es genau im Geiste Campras zu erledigen. Also haben wir uns für die Version von 1731 entschieden, die die vollständigste ist. Es gibt nur eine Ausnahme: In der letzten Szene, Idoménées Wahnsinnsszene, beinhaltet diese Fassung nur Violinen und Bässe. Ein Manuskript aus Toulouse aus etwa derselben Zeit überliefert uns die Szene komplett in vier Stimmen ausgeschrieben. Einige Entscheidungen mussten also getroffen werden, um eine Fassung zu erhalten, die dem Geist des Stücks so treu wie möglich ist.
Diese Fragen stellen sich im französischen Repertoire häufig, denn wir haben es mit Opern zu tun, die sich unablässig in Weiterentwicklung befunden haben. Man hat sie ständig verändert und dem gerade aktuellen Geschmack angepasst. Es gab nicht die Beziehung zwischen einem Komponisten und seinem Werk wie heute, wo man einen sehr abgeschlossenen Werkbegriff hat. Man hat ständig Anpassungen vorgenommen, manchmal sogar in der Rollenverteilung. Man befindet sich in einem Labyrinth der Quellen und der Entscheidungen, die man treffen muss.

B W Gibt es etwas, was Danchets und Campras Dramaturgie besonders auszeichnet? Ich denke beispielsweise an die Divertissements, die wesentlich enger in die Haupthandlung eingebunden sind als in vielen anderen Opern der Epoche.

E H Ich finde auch, dass es in diesem Stück nichts Unmotiviertes gibt. Was die Divertissements betrifft: Mir ist klar, dass man manchmal den Eindruck gewinnen kann, dass sie die Handlung aufhalten, aber tatsächlich geben sie uns eine notwendige Wartepause zwischen dramatischen Ereignissen. Beispielsweise bestehen die Tanz- und Freudenszenen vor Idamantes vermeintlicher Abreise mit Électre aus losgelöst scheinenden prunkvollen Chören und ausgelassenen Tänzen – alles sehr volkstümlich und ziemlich italienisch angehaucht, ich würde sogar sagen: ein bisschen provençalisch. Aber das bewirkt, dass die bevorstehende Katastrophe mit dem plötzlichen Erscheinen des Monsters und des Massakers umso heftiger hereinbricht nach dem Moment der Entspannung in diesem Divertissement. Deshalb finde ich dieses Stück außerordentlich gut gebaut.

B W Eine gut gebaute Tragödie, die unaufhaltsam ihrem tragischen Ende entgegenstrebt. Aber dieses Ende stellt sich trotzdem als so schockierend wie einzigartig dar, oder?

E H Es stimmt, dass der finale »Fall der Guillotine« derart plötzlich kommt, dass er uns verblüfft und ohne Worte zurücklässt. Es gibt am Ende nichts Vermittelndes im Orchester, keinen Klagechor, und das macht es umso schlimmer. Als ich dieses Ende zum ersten Mal gelesen habe, musste ich zweimal hinschauen, um mir sicher zu sein, dass da wirklich nichts fehlt.

 

Das komplette Interview findet Ihr im Programmheft der Produktion.

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