»Eigentlich hat Berlioz auf die Erfindung des Kinos gewartet«
Ein gerngesehener Gast: Simon Rattle leitete an der Staatsoper u. a. die Neuproduktionen von Chabriers »L’étoile« und Janáčeks »Aus einem Totenhaus« sowie »Katja Kabanowa«. Bei letzterer Oper steht er im Juni an vier Vorstellungen am Pult, zuvor stand am 27. Mai noch die Premiere eines monumentalen Werkes der französischen Romantik an: Berlioz’ dramatische Legende »La damnation de Faust«. Uns berichtete er von den zahlreichen Besonderheiten des Werks und seiner szenischen Realisierung der Monty-Python-Legende Terry Gilliam.
Berlioz sagte einmal, er müsse nur wenige Musiknummern hinzukomponieren, um aus der Légende dramatique »La damnation de Faust«, die zwischen allen Gattungen steht, eine »richtige« Oper zu machen. Wenn dem so ist, warum hat er es nie getan?
Das Wunderbare bei Berlioz ist, dass er nie ausgetretenen Wegen folgte. Er war vom Fauststoff von dem Moment an besessen, als er Goethe gelesen hatte. Schon Goethes »Faust« lässt sich kaum einer Gattung zuordnen, genauso ist es bei »Damnation«. Faszinierend ist, dass bereits die »Huit scènes de Faust«, eine Art Schauspielmusik von Berlioz zu Goethes Tragödie, kaum zwei Jahre nach Beethovens Tod entstanden, so viel von der späteren Musik enthalten. Wenn man »Damnation« probt, heben alle Beteiligten ständig die Brauen und fragen sich ungläubig: Wann wurde das geschrieben? In vielen Punkten teilt es die atemberaubende Modernität von Goethes Stück: die Geschwindigkeit, mit der die Handlung abrollt, die Akkuratesse, mit der die Worte gesetzt werden, die Direktheit der Sprache. Das alles findet sich in der Musik wieder; ich kann absolut nachvollziehen, was Berlioz daran fasziniert hat. Dazu kommt die opernuntypische Kürze des Werks, alles ist auf das Wesentliche reduziert. Den Fluss wollte Berlioz sicher nicht nachträglich durch zusätzliche Nummern aufhalten. Das Stück rauscht in einem fort wie ein Fass auf den Niagarafällen.
Terry Gilliam trägt dem in seiner Inszenierung Rechnung, indem er die disparaten Szenen zu einem stringenten erzählerischen Bogen zusammenführt.
Eigentlich hat Berlioz auf die Erfindung des Kinos gewartet. Das Außerordentliche an Terry Gilliams Inszenierung ist, dass sie so filmisch angelegt ist, allerdings in einem frühen Wortsinn. Wie im frühen Stummfilm gibt es Anleihen bei der Form der Pantomime, alles ist von Hand gemacht, mit komplizierten, schnellen technischen Abläufen auf der Bühne. Es gibt eine Verbindung zu Berlioz, dessen Stücke ähnlich imaginativ, »handmade« sind. Er ist ein genialer Komponist, aber ohne Technik im Sinne der Konventionen – darin Richard Wagner durchaus ähnlich.
»Terry Gilliams Inszenierung erzählt eine Geschichte, die viel weniger surreal ist, als man es von ihm erwarten würde.«
Ich bin Fan seiner Filme, trotzdem habe ich keine Ahnung, wie er auf seine Grundidee gekommen ist. Ich bin überrascht, wie bestechend sie ist. Häufig sorgen Darstellungen des Dritten Reiches auf der Bühne für Aufruhr – hier gibt es dem Handel mit dem Teufel eine riesige Dimension, eine zusätzliche geschichtliche Ebene. Das bildet auch einen Kontrapunkt zur Musik, zu ihren Ecken und Härten, aber auch zur typisch französischen Eleganz, die sich einer Traditionslinie bis zu Rameau zurück verdankt und die man so in deutscher Musik nicht findet.
Was sind die besonderen Herausforderungen der Partitur?
Vor allem das schiere Tempo, mit dem verschiedenste Stimmungen und Perspektiven wechseln. Das Stück ist aber auch technisch schwer, besonders für die Holzbläser. Man will sich kaum vorstellen, wie das in den 1840er Jahren geklungen haben mag. Es war sicher eine Zumutung, und nur ein Grenzen sprengender Geist hat sich solche Klänge und Farben ausdenken können. Dabei spielt eine Rolle, dass Berlioz außer Blockflöte und Gitarre kein Instrument aktiv beherrschte. Gerade dadurch konnte er sich – etwa in seiner »Instrumentationslehre« – ausmalen, wie ein ideales Orchester klingen könnte, ohne erst an die Realisierbarkeit zu denken. So sieht das Finale der »Damnation« zwei Harfenstimmen vor, die vier- bis fünffach besetzt werden sollen. Berlioz wird bei seinen eigenen Aufführungen nie zehn Harfen vorgefunden haben; auch bei uns im Orchestergraben fehlt dafür bei Weitem der Platz.
Als ich mit dem Orchestra of the Age of Enlightenment an mehreren Berlioz-Werken gearbeitet habe, ging mir auf, dass wir mit modernen Instrumenten auch in diesem Fall nur eine Art Transkription spielen. Berlioz hatte ganz klar die präzisen Klangfarben der Instrumente seiner Zeit im Ohr, wo die Hörner etwa lauter als Trompeten und Posaunen waren. So erklärt sich auch Berlioz’ Verwendung von gleich vier Fagotten, weil sie damals viel schwächer klangen. In jedem Fall ist die Musik unmittelbar für Instrumente erdacht, denn Berlioz hat niemals bloß Klavierfassungen orchestriert.
Aber nicht nur das Orchester hat Schwierigkeiten zu bewältigen, sondern auch die Solisten und der Chor. Mit dem Vokalen wusste Berlioz noch visionärer umzugehen. Einer der Choristen sagte mir, dass der Chorpart ähnlich schwierig ist wie Schönbergs »Moses und Aron«. Der Chor ist neben den drei Hauptfiguren der eigentliche Protagonist – hinzu kommt in dieser Inszenierung die besondere emotionale Herausforderung, der sich die Choristen stellen. Ich habe dafür größten Respekt für alle Darsteller, denn die Schrecken des Naziregimes sind in Berlin noch ganz nahe.
Das Werk zeichnet sich durch eine Vielzahl von Szenen und dadurch bedingt eine äußerst heterogene Musik aus. Wie schaffen Sie es da, einen musikalischer Bogen zu gestalten?
Obwohl es aus so disparaten Einzelteilen zusammengesetzt ist, muss man doch feststellen: Es funktioniert. Wir sprechen immer von Wagner und der über 25-jährigen Entstehungsgeschichte der »Ring«-Tetralogie. Auch Berlioz hat sich 20 Jahre lang mit dem Fauststoff auseinandergesetzt, sein Libretto hat er zum Großteil selbst geschrieben. Kurzum, er hatte eine Gesamtvision davon. Deshalb konnte er die Musik auch in relativ kurzer Zeit niederschreiben. Es gibt in diesem Fall nur eine Erklärung, warum das Disparate eine Einheit ergibt: Genie.
Das Gespräch führte Benjamin Wäntig