»TURANDOT« ALS EXPRESSIONISTISCHER HERRSCHAFTSKULT

Am 18. Juni feiert Giacomo Puccinis TURANDOT in der Regie von Philipp Stölzl und unter der musikalischen Leitung von Zubin Mehta Premiere. Außerdem ist die Premiere bei STAATSOPER FÜR ALLE als Live-Übertragung auf den Bebelplatz zu erleben – bei freiem Eintritt und endlich wieder für alle. Philipp Stölzl ist hier im Gespräch mit Dramaturgin Jana Beckmann.

JANA BECKMANN Du bist Regisseur für Oper, Schauspiel und Film, entwickelst auch das Bühnenbild, vereinst als Grenzgänger der Genres und Formen verschiedene Erfahrungen und Perspektiven. Auch Puccinis »Turandot« markiert einen ästhetischen Umbruch, ist als Oper ist eine Art Grenzgängerin …

PHILIPP STÖLZL Absolut. Die »Turandot« ist ja erst in den 20er Jahren fertig geworden und man hat das Gefühl, dass hier dieses filmisch-geschlossene Erzählen, das man von »Bohème« oder »Tosca« kennt, auf die zerbrochenen, expressiven Tonlagen der Moderne trifft, musikalisch in erster Linie, aber auch inhaltlich.

Die klassischen Puccinis sind ja alle unheimlich gut und schlüssig gebaut, die Figurenbögen und Situationen stimmen perfekt und in der Musik ist fast jede psychologische Regung auskomponiert. Das Narrativ nimmt einen mühelos an die Hand, wie im Kino; Puccini ist ein Meister der Suggestion und Überwältigung. Dagegen trifft man bei »Turandot« plötzlich auf eine Art surreales Oratorium, das durchaus sperrig ist. Es gibt kaum Plot, was sicher auch der Märchenvorlage geschuldet ist, die Geschichte lebt von lauter Setzungen, die nicht weiter begründet werden. Warum Calaf und sein Vater Timur sich am Hof Turandots treffen, bleibt unerklärt. Warum sich Calaf aus der Ferne so rettungslos in Turandot verliebt und sein Leben für sie aufs Spiel setzt: ebenfalls unerklärt. Warum sich die Sklavin Liù für Calaf opfert: Mehr religiöser Akt als bewusste Entscheidung. Keine der Figuren hat psychologische Tiefe im klassischen Sinn. Selbst das Volk, der omnipräsente Chor, ist in seiner Haltung zu den Geschehnissen voller Widersprüche. In einem Moment blutrünstig, im Nächsten voller Mitleid. Das Stück wird trotzdem meistens in einem Realismus im mehr oder weniger ausformulierten China-Gewand aufgeführt – was durch die Plot- und Konfliktarmut immer zu einer gewissen Statik auf der Bühne führt.

»Man trifft bei ›Turandot‹ plötzlich auf eine Art surreales Oratorium«

Ich habe hier versucht, das mal ganz anders zu lesen, und zwar aus dem Surrealen, Symbolistischen der Geschichte heraus und vor allem aus der ziemlich aberwitzigen und unheimlich kontrastreichen Partitur. In der findet sich einmal dieser epische Puccini-Klang, der unfassbar gut orchestriert ist und mich manchmal sogar von Ferne an die Schmerzlichkeit Wagners erinnert. Auf der anderen Seite bricht dann krass die Moderne ein. Die Minister Ping, Pang und Pong, die den Mittelteil der Oper bestreiten, klingen fast nach Weill oder Prokofjew; die Chormusik wiederum hat fast etwas Experimentelles, auch in ihren kühnen Parsifal-artigen Raumexperimenten. Dazu kommen dann noch die ganzen orientalischen Zitate. Eine wilde Mischung. Das Werk hat fast die Anmutung einer Collage, bei der man die Klebekanten bewusst sichtbar macht.

JB Du schaust auf die Oper wie auf ein monumentales, expressionistisches Gemälde …

PS Ich habe versucht, das Brüchige, expressionistisch Wahnhafte des Werkes zu umarmen und zu schauen, was diese Musik für die Bühne erzählt, wenn man die Fabel in den Hintergrund stellt und guckt, was für Bilder im Kopf entstehen. Da passiert viel, weil die Komposition unheimlich theatralisch ist, nicht im Sinne von Pathos, sondern in dem Sinne, dass Puccinis Komposition Bildwelten und Vorgänge intensiv befeuert. Die Partitur hat bei »Turandot« eine höhere Wahrheit als der Plot.

JB Wie gehst du mit den Orientalismen auf der Bühne um?

PS Das ist ja momentan ein ziemliches Minenfeld. Auf der einen Seite gibt es jetzt völlig zu Recht eine große Awareness, dass man eine andere Kultur mit Würde behandeln muss und nicht den Kolonialismus in der Musik unhinterfragt weiter fortschreibt.

Gleichzeitig ist es ein schmaler Grat, inwiefern man da die Freiheit der Kunst beschneidet, ein moralisches Regelwerk aufstellt und sagt, die Kunst dürfe dieses und jenes nicht. Bei unserer Konzeption hat sich diese Frage insofern nicht so brennend gestellt, als unsere Welt sowieso eine abstrakte Bildwelt ist und gar nicht China erzählt. Es gibt ein paar Anklänge, aber die sind bewusst als europäische und vor allem männliche Projektion gesetzt – und auch als Echo der Zitate in der Partitur.

JB Turandot ist eine Titel- und Hauptfigur, die über weite Strecken der Oper nicht vorkommt …

PS Ja, verrückt. Sie singt tatsächlich überhaupt erst nach einer Stunde ihre ersten Töne. Vorher sieht man sie einmal kurz vorbeischweben und es ist sofort um den Prinzen geschehen. Ich habe mich gefragt: Was sagt uns das über Calaf, was sagt es uns über Turandot?

Wenn man wie ich für den Film schreibt, versucht man ja immer, glaubhaft zu erzählen. Eine Regel dabei ist, dass man eine Liebesgeschichte nie einfach nur behaupten darf. Natürlich gibt es Chemie zwischen zwei Menschen, aber am Ende des Tages liebt man jemanden, der einem etwas gibt und dem man etwas geben möchte. Es ist ein Austausch an Gefühlen.

Bei Turandot und Calaf ist das definitiv nicht der Fall. Er fällt in eine Art Obsession zu ihr, aus der Ferne, wie ein Stalker, der einem Star hinterherstellt. Warum? Wir wissen es nicht. Es ist wie eine Hypnose oder ein Fluch. Man könnte so weit gehen und sagen, dass er eine Art Todessehnsucht in das Bild der Prinzessin projiziert. Anders ist es ja nicht zu erklären, dass er sich dieser Prüfung stellt, die noch niemand vor ihm überlebt hat.

Die drei Minister, die ihn das ganze Stück vor der Prinzessin warnen und von seinem Vorhaben abbringen wollen, gehen sogar so weit zu sagen, dass Turandot überhaupt nicht existiert. Das finde ich spannend. Was ist, wenn man mal davon ausgeht, dass Turandot nur eine Art Kult, eine religiöse Behauptung ist? Eine Göttin, der jeden Monat Menschenopfer dargebracht werden. Und die wie fast jede Religion in Wirklichkeit ein Herrschafts- und Unterdrückungsinstrument ist. Turandots unerklärliche, magnetische Anziehungskraft, die Calaf in ihren Bann zieht, lässt sich damit zwingender erklären, als mit einer behaupteten Liebe auf den ersten Blick.

JB Das zentrale Bühnenelement ist eine riesige Marionette, eine Art surreales Turandot-Double, das die Bühne beherrscht und im Verlauf der Oper verschiedene Transformationen durchmacht …

PS Die Puppe ist unsere zentrale Metapher, die über den ganzen Abend die großen thematischen Bögen der Oper spiegelt. Sie ist zunächst ein Götzenbild, das übermächtig über dem Volk schwebt und von diesem angebetet wird, in Wirklichkeit aber von Menschen selbst bewegt wird – der Kult ist, wie schon gesagt, eine politische Erfindung der Herrschenden. Ihr Rock hebt sich, dort ist es leer, sie ist nur eine Hülle. Dann taucht in ihrem Inneren die echte Turandot auf, gefangen in ihrer Krinoline wie in einem Vogelkäfig – und wir lernen eine traumatisierte Seele kennen, deren Grausamkeit und Kälte einer tiefen Verletzung in der Vergangenheit entspringt. Im weiteren Verlauf wird die Puppe entkleidet, wir sehen jetzt nur noch ihre hölzernen Glieder, sie hat keine Hüfte, kein Becken, keine Art von Geschlechtlichkeit. Turandots Hass auf ihre Freier und die Angst vor jeder Art Bindung findet hier ein Bild.

»Was ist, wenn man mal davon ausgeht, dass Turandot nur eine Art Kult, eine religiöse Behauptung ist?«

Mit dem Lösen der Rätsel fällt die Puppe immer mehr auseinander, wird Stück um Stück dekonstruiert, verliert ihr Gesicht, ihre Glieder und begegnet uns schließlich der Blutnacht des dritten Aktes in der Transformation einer vielarmigen Todesspinne wieder. Dieses Ende ist ja absolut brutal, Häscher ziehen durch die Stadt und versuchen Calafs Namen aus den Menschen herauszufoltern. Was wir bei den drei hinrichtungsmüden Ministern schon humorverpackt ahnten, hier tritt es zu Tage: »Turandot« ist im Kern ein Stück über eine brutale Diktatur und Lüge, Verdummung und Verführung als Werkzeuge von Populismus. Ein leider sehr aktuelles Thema.

JB Warum ist Turandot ein gebrochener Mensch? Wie zeigt sich das?

PS Das lässt sich aus dem Text und auch den Farben der Musik herauslesen. Turandot ist in dieser Hinsicht fast so etwas wie eine Schwester von Salome – auch sie ist so traumatisiert, dass sie sich nur noch im Morden spürt. Jeden Monat wird vor ihren Augen ein Prinz geköpft, weil jede Art von seelischer oder auch sexueller Bindung für sie undenkbar ist. Es ist unschwer zu entschlüsseln, dass ihre große Auftrittsarie, bei der sie von ihrer missbrauchten Urahnin erzählt, in Wirklichkeit von ihr selber handelt. Die Übermalung scheint für sie die einzige Möglichkeit zu sein, überhaupt über das eigene Trauma sprechen zu können.

Calaf wiederum erinnert mich immer an Paul aus Korngolds »Die tote Stadt«, der obsessiv von unsichtbaren Händen in ein kafkaeskes Labyrinth gezogen wird. Er ist wie in einem rätselhaften Alptraum, aus dem er nicht erwachen kann. Die beiden sind auf jeden Fall ein Figurenkonstellation, die sehr offensichtlich das Interesse der beginnenden Moderne an Abgrund, Seele, Traum und Wahnsinn spiegelt.

JB »Turandot« ist die letzte und unvollendete Oper Puccinis. Überzeugend scheinen das Happy End und das überholte Frauenbild, das da gefeiert wird, nicht. Wie gehst du mit dem Schluss um?

PS So wie in der Partitur kann man es heute schlicht nicht mehr erzählen: Die neurotisch-frigide Frau wird durch den Kuss – eigentlich ist die Defloration gemeint – des starken Mannes erlöst und findet endlich in der Unterordnung ihr Liebes- und Lebensglück. Ich glaube, hier steigt ein modernes Publikum aus, und zwar völlig zu Recht. Das überholte Frauenbild ist ja überhaupt ein Grundproblem der Oper heute. Wie erzählt man von diesen Frauen, den Gildas, Violettas usw., die sich Männer in einer Zeit erdacht und erträumt haben, in die Gesellschaft in puncto Geschlechter noch grundsätzlich anders funktioniert hat. Ich hätte mir vorstellen können, den nach Puccinis Tod von Franco Alfano komponierten Schluss durch eine Neukomposition zu ersetzen, in der man einfach ein inhaltlich anderes Ende vorstellt. Aber Alfanos Musik ist zu stark und intensiv, um sie wegzulassen. Also haben wir geguckt, wie man den Schluss szenisch so interpretieren kann, dass er nicht dieses völlig unglaubhafte Happy End erzählt, sondern sich auf die toxische Mischung der beiden Figuren einlässt. Was passiert, wenn der Stalker auf sein Idol trifft und plötzlich mit einem echten, seelisch kaputten, suizidalen Menschen konfrontiert ist? Da muss man ein bisschen gegen den Text gehen, aber die Musik ist so schmerzvoll-zwielichtig, dass sie so eine Lesart durchaus unterstützt.

Erste Impressionen der Turandot-Marionette:

YouTube

Mit dem Laden des Videos akzeptieren Sie die Datenschutzerklärung von YouTube.
Mehr erfahren

Video laden

Neuer Kommentar

Verfasse jetzt einen Kommentar. Neue Kommentare werden von uns moderiert.